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THEMA:   einseitige Schwerhörigkeit

 6 Antwort(en).

frog begann die Diskussion am 01.06.03 (07:57) mit folgendem Beitrag:

Hat jemand erfahrung damit?
Daß jemand, der nur auf einem ohr schwerhörig ist nicht mehr feststellen kann aus welcher richtung bestimmte geräusche kommen.


Karl antwortete am 01.06.03 (09:06):

Hallo frog,

1976 hatte ich eine Cholesteatom-Operation rechts. Das Cholesteatom hatte bereits mein rechtes Innenohr zerstört. Ich war wegen eines dramatischen Hörsturzes rechts in Behandlung gegangen. Seit der Operation bin ich rechts zu 100% taub, es war nichts mehr zu retten.

Das war ein einschneidendes Erlebnis. Änfänglich hatte ich noch das subjektive Richtungsempfinden, das heißt, mein Gehirn glaubte immer noch zwei Ohren zu besitzen, was aber nicht der Fall war. Dies hatte zur Folge, dass ich mich immer nach links wendete, wenn ich angesprochen wurde. In 50% der Fälle also weg vom Sprecher. Glücklicherweise habe ich mir das völlig abdressiert. Heute besitze ich keinerlei Richtungsempfindung mehr und versuche zuerst mit den Augen den Sprecher zu orten, wenn ich überhaupt merke, dass ich angesprochen werde.

Leider hatte der Verlust des Richtungshörens einen weiteren gravierenden Effekt. Unser Gehirn verwendet Richtungshören nämlich als Filter für die Aufmerksamkeit, d.h. völlig unbewusst (von unserem Ich unbemerkt) filtert das Gehirn störende Nebengeräusche aus anderen Richtungen weg und auch ich konnte früher in einer vollen Kneipe meinem Gegenüber mühelos folgen, ohne ihm/ihr an den Lippen zu hängen. Unmittelbar nach meiner Operation musste ich (über Monate) eine volle Kneipe immer nach kürzester Zeit fluchtartig verlassen, weil mich das Stimmengewirr wahnsinnig zu machen drohte. Wenn ihr euch eine Vorstellung machen wollt von dem Erlebnis, hört euch in Mono das Tonband einer Familienfeier an. Noch heute habe ich gegen volle Räume eine Abneigung, obwohl ich gelernt habe, damit zurechtzukommen - indem ich meinen Gesprächspartnern auf die Lippen schaue. Ein wenig habe ich wohl auch gelernt, den Klang der Stimme als alternativen Aufmerksamkeitsfilter zu verwenden.

Wenn der Kellner die Rechnung bringt, fühle ich mich meistens jedoch in keinster Weise angesprochen.

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus 1976 bin ich als unmittelbare Folge alter Orientierungsgewohnheiten "nach Gehör" über eine Strasse gelaufen und voll mit einem Mercedes zusammengestoßen. Glücklicherweise hatte ich ihn im letzten Moment aus dem rechten Augenwinkel heraus bemerkt und war hochgesprungen, so dass ich nicht überrollt wurde, sondern über die Kühlerhaube abrollte, die Windschutzscheibe zerschlug, den Außenspiegel abriß und die Tür verbeulte. Ich war ein einziger blauer Fleck, aber ansonsten hat mich dieses Erlebnis vor Schlimmerem bewahrt. Schocktherapie.

Das Cholesteatom ist mein ständiger Begleiter. Demnächst steht meine 6. Operation an.

Trotzdem, wenn mich heute einer fragt, wie man mit einem Ohr leben kann, antworte ich: "Gut, wir leben ja nicht mehr im Dschungel".

Mit freundlichen Grüßen

Karl


schorsch antwortete am 01.06.03 (11:25):

Seit ich die Ohren regelmässig vom Arzt ausspritzen lasse, habe ich kaum noch Schwierigkeiten mit dem Hören. Viele Menschen hören schlecht und wissen nicht mal, dass das an einem Pfropfen im Ohr liegen kann. Meine Schwiegermutter, drauf angesprochen, wann sie das letzte Mal habe ausspritzen lassen, antworte: "Noch nie im Leben!"

PS Ich rede von den Ohren......


RoNa antwortete am 01.06.03 (11:37):

Dir geht es ja noch viel schlechter, Karl, als mir.

Als ich 14 war, hat ausgerechnet der Mitschüler, in den ich verknallt war, eine Knallerbse in meine Richtung geworfen, die unmittelbar das Trommelfell zerriß. Das Ganze wurde durch einen praktischen Arzt verpfuscht (überall hatte sich das Pulver verteilt), und es kam zu einem Innenohr-Schaden, gegen dessen anhaltenden Tinnitus auch ein operativer Eingriff nichts mehr brachte. Ich bin nicht völlig taub, lediglich gegen bestimmte Frequenzen; aber mit Zunahme der allgemeinen Verkalkung ;-) verschlechtert sich auch dieser Befund.
Daß mir aber eben auch die Richtungs-Zuordnung fehlt, habe ich erst bemerkt nach Umzug in meine jetzige Wohnung. Ich schob es darauf, daß sich hier Mittel-Etagen befinden, so daß man mit einer Wand immer an zwei Nebenwohnungen anschließt. Erst als ich kürzlich im TV hörte, wie ein Jäger über sich sagte, daß er wegen einer einseitigen Schwerhörigkeit auf dem Anstand die Richtung von Tierlauten nicht feststellen könne, fiel mir auf, was da wirklich los ist.
Ich bin überzeugt, daß es mir auf der Straße wie Dir gehen könnte, wenn ich mich nicht genauestens umsehen würde.
D a s wiederum tue ich, seit ich mit 6 Jahren unter einer Straßenbahn gelegen habe. Doch das ist ein anderes Thema :-).

Es ist erfreulich, daß man sich an so Vieles - wenn es nicht schmerzt - gewöhnen kann.


Ernst antwortete am 01.06.03 (12:48):

Hallo frog,

Ergänzend zu den anderen Hinweisen noch folgendes:

1. Jede einseitige Schwerhörigkeit ist unter anderem nach dem Sitz des Schadens (Gehörgang, Mittelohr, Innenohr, Hörnerv, Hirnstamm, Hirnrinde) unbedingt durch Deinen HNO-Arzt abzuklären, um die richtigen Maßnahmen treffen zu können. Einseitige Schwerhörigkeiten sind im Hinblick auf mögliche Grundkrankheiten etwas ernster zu nehmen als doppelseitige.
2. Wenn Du auf dem Ohr nicht völlig taub bist und über nutzbare Hörreste verfügst, könnte ein Hörgerät, das verlorene Richtungshören zu kompensieren. Das Gerät sollte in Nähe des Ohres getragen werden können. Größere hinter dem Ohr angebrachte (HdO-Geräte) sind leistungsfähiger als kleine, im Gehörgang zu verbergende. Manche Kassen werden sich allerdings bei Normalgehör des gesunden Ohres etwas schwer tun, die Kosten zu übernehmen. Sie begründen das mit einem noch nicht eingeschränkten �Sozialgehör�, das heißt, es wird ja noch alles verstanden. Das recht teure Hörgerät wird nämlich besonders von einseitig Schwerhörigen oft nicht getragen, weil es einige Unbequemlichkeiten (Pfeifen durch sog. Rückkopplungseffekte, Gehörgangsreizungen, ständiger Nachkauf von Batterien, kosmetische Aspekte ...) mit sich bringt. Ob es Dir was bringt, sollte Dein HNO-Arzt oder auch ein Hörgeräteakustiker mit entsprechender technischer Ausstattung rauskriegen. Von letzterem kannst Du gegebenenfalls ein Gerät eine zeitlang zur Probe ausgeliehen bekommen. Vorsicht bei Billiganbietern! Wichtig ist auch, wie sehr Du auf das Richtungshören angewiesen bist. Zum Beispiel nmöchte ein Lehrer schon feststellen können, aus welcher Richtung geflüstert wird, ein Verkehrsteilnehmer sollte Signale orten können, Musiker müssen die Instrumentenklänge unterscheiden ...

Gruß
Ernst


frog antwortete am 04.06.03 (06:53):

Vielen dank für euere Antworten. Sie haben meine frage beantwortet. Der patient ist einer aus unserem krankenhaus. Er wollte nicht ganz glauben was ihm unser ohrenarzt gesagt hat. Villeicht weil der keinen langen bart hat.


Mart antwortete am 04.06.03 (07:28):

Vielen herzlichen Dank für die ausführlichen Kommentare, die auch für mich als Betroffene, -die sich aber bisher nicht mit dem Thema auseinandergesetzt hat -, neu und sehr informtiv sind.