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THEMA:   Und noch ein Gedicht......

 10 Antwort(en).

Claudine B. begann die Diskussion am 19.03.01 (17:43) mit folgendem Beitrag:

Ob einer dafür Sinn hat?!?

Aus der Frankfurter Anthologie
Kurt Tucholsky

Danach

Es wird nach einem happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.
Man sieht bloß noch in ihre Lippen
den Helden seinen Schnurrbart stippen-
da hat sie nun den Schentelmen.
Na,und denn-?

Denn jehn die beeden brav ins Bett
Naja.....diß is ja auch janz nett.
A manchmal möchte man doch jern wissen:
Wat tun se, wenn se sich nich kissen?
Die könn ja doch nich immer penn.....!
Na, und denn-?

Denn säuselt im Kamin der Wind.
Denn kricht det junge Paar 'n Kind.
Denn kocht se Milch. Die Milch looft üba.
Denn macht er Krach.Denn weent sie drüba.
Denn wolln sich beede jänzlich trenn.....
Na, und denn-?

Denn is det Kind nich uffn Damm.
Denn bleihm die beeden doch zesamm.
Denn quäln se sich noch manche Jahre.
Er will noch wat mit blonde Haare:
vorn doof und hinten minorenn....
Na, und denn-?

Denn sind se alt.
Der Sohn haut ab.
Der Olle macht nu ooch bald schlapp.
Vajessen Kuß und Schnurrbartzeit-
Ach, Menschenskind,wie liecht det weit!
Wie der noch scharf uff Muttern war,
det is schon beinah nich mehr wahr!
Der olle Mann denkt so zurück:
wat hat er nu von seinen Jlück?
Die Ehe war zum jrößten Teile
vabrühte Milch und Langeweile.
Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.

Viele Grüße von
Claudine


Friedgard antwortete am 20.03.01 (09:10):

Ja, der Herr Tucholsky hatte, wie viele Humoristen, eine pessimistische
Ader - ich habe es auch in der FAZ gelesen....
Und ich muß ihm widersprechen - mit 70 Jahren und in der zweiten
glücklichen Partnerschaft lebend. Nicht nur verbrühte Milch und Langeweile.
Ich kenne doch einige Partnerschaften, bei denen das "Happy-End" an-
gehalten hat.


Claudine Borries antwortete am 20.03.01 (10:09):

Na, so hatte ich es ja auch nicht gemeint!!!
Aber es ist doch ein Synonym für das, was im Leben nun mal vorbeigeht,-- und ich ,als alte Berlinerin, finde das natürlich köstlich,-- vor allem, weil ich gleich noch das Zillemilieu vor Augen hatte!
Und auf den Tod gehen wir ja alle zu,--- ob glücklich oder nicht in unserem jetzigen Leben!
Na, also, nichts für ungut
Grüße
Claudine


Wolfgang antwortete am 20.03.01 (10:41):

Liebe Claudine... ein ungeschriebenes Gesetz hier im Seniorentreff sagt, dass Du alles POSITIV sehen musst. Wenn Du - oder in dem Fall tat das ja Kurt Tucholsky - vom prallen Leben berichtest, kommst Du ganz schnell in die PESSIMISTISCHE Schmuddelecke (aber da ist es wenigstens nicht langweilig - *fg*)

Ich finde das Gedicht schön und anrührend (wie die meisten von Tucholsky). Vabrühte Milch... c'est la vie... :-)


Claudine antwortete am 20.03.01 (13:40):

Ach ja ,Wolfgang,-- ich hab's gerne ein bißchen geistreich und hintergründig,-- in diesem Sinne danke für die nette Antwort!
Claudine


Wolfgang antwortete am 21.03.01 (08:46):

Hier noch eine Hommage an alle Berlinerinnen... :-) - Kurt Tucholsky veröffentlichte das Gedicht unter seinem Pseudonym Theobald Tiger 1922 in der Zeitschrift "Weltbühne":

An die Berlinerin...

Mädchen, kein Casanova
hätte dir je imponiert.
Glaubst du vielleicht, was ein doofer
Schwärmer von dir phantasiert?
Sänge mit wogenden Nüstern
Romeo, liebesbesiegt,
würdest du leise flüstern:
"Woll mit die Pauke jepiekt -?"
Willst du romantische Feste,
gehst du beis Kino hin...
Du bist doch Mutterns Beste,
du, die Berlinerin -!

Venus der Spree - wie so fleißig
liebst du, wie pünktlich dabei!
Zieren bis zwölf Uhr dreißig,
Küssen bis nachts um zwei.
Alles erledigst du fachlich,
bleibst noch im Liebesschwur
ordentlich, sauber und sachlich:
Lebende Registratur!
Wie dich sein Arm auch preßte:
gibst dich nur her und nicht hin.
Bist ja doch Mutterns Beste,
du, die Berlinerin - !

Wochentags führst du ja gerne
Nadel und Lineal.
Sonntags leuchten die Sterne
preußisch-sentimental.
Denkst du der Maulwurfstola,
die dir dein Freund spendiert?
Leuchtendes Vorbild der Pola!
Wackle wie sie geziert.
�lter wirst du. Die Reste
gehn mit den Jahren dahin.
Laß die mondäne Geste!
Bist ja doch Mutterns Beste,
du süße Berlinerin - !

(Theobald Tiger, Weltbühne 12, 23.3.22)


Claudine antwortete am 21.03.01 (09:41):

Na, Wolfgang, muß wohl was dran sein , an der Charakteristik---------
Schön ,so was aufzutreiben! Macht doch Spaß, sich mit Literatur , Prosa wie Lyrik, zu beschäftigen.
Grüße Claudine


Gudrun antwortete am 21.03.01 (21:11):

Hallo Claudine und Wolfgang,

mein Beitrag passt nicht mehr so ganz zu eurer fortgschrittenen Kommunikation -.eigentlich wollte ich - abgesehen von meiner Tucholsky- Begeisterung (das Pyrenäen-Buch ist mein Favorit ) nur meiner Freude Ausdruck verleihen , dass es offenbar noch weitere Senioren gibt, die das Vorabendserienoptimismusdiktat ablehnen und eher geneigt sind , auch für sich alle menschlich möglichen Betrachtungsweisen in Anspruch zu nehmen.

Gudrun


Manfred Kergel antwortete am 23.03.01 (20:47):

Welcher Berliner kennt den Text von dem Lied.:
Zicken-Schulzes Hochzeit.Es beschreibt Zickenschulzes
Hochzeit in einer Laubenkolonie Berlins.
danke Manfred.


Wolfgang antwortete am 24.03.01 (01:28):

Hier ist das Lied vom Zickenschulze aus Bernau:

https://www.bernau-bei-berlin.de/tourismus/zickenschulze/index.html

(Internet-Tipp: https://www.bernau-bei-berlin.de/tourismus/zickenschulze/index.html)


Claudine B. antwortete am 24.03.01 (14:59):

Oh ja, Gudrun,
Du sprichst mir aus der Seele.
Ehrlich gesagt nehme ich so intensiv Anteil an Politik,--und immer wieder LITERATUR, daß mir das Seniorendasein gar nicht in den Sinn kommt, und auf mich auch nicht zu passen scheint..Deswegen bin ich auch nur selten hier.Ich habe durch die Literatur ein so
reges geistiges Innenleben,-- und auch Austausch mit verschiedenen Leuten, daß ich mich ums Seniorendaseinsgefühlbewußtsein gar nicht so recht kümmern kann.Was nicht heißt, daß ich der Realität des Altwerdens nicht ins Gesicht schaue.
Es gibt halt Tiefs und Hochs wie in allen Lebensphasen,-- das unterscheidet uns nun mal vom Tier.
Zuletzt noch ein Tip: es gab eine wunderschöne Rede von Louis Begley zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse.Man konnte sie in der FAZ,-vielleicht auch in anderen Zeitungen --abgedruckt lesen.
Sie hat mich in ihrer poetischen Sprache, mit den Reflexionen, Phantasien und Erinnerungen an seine polnische Kindheit, die er mehr durch Literatur wahrnimmt, schier hingerissen. Das sind dann die wahren Glücksmomente des Lebens, wenn man so etwas Schönes ( außer den vielen schönen Büchern!)zu lesen bekommt!
Liebe Grüße an alle hier Versammelten
Claudine