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THEMA:   Verrate mir dein Lieblingsgedicht

 20 Antwort(en).

Susi begann die Diskussion am 28.04.02 (19:08) mit folgendem Beitrag:

Bin gerade auf der Suche nach Gedichten aus dem 20. Jahrhundert. Hat jemand ein schönes für mich?


info antwortete am 28.04.02 (19:17):

https://gutenberg.spiegel.de/info.htm

(Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/info.htm)


schorsch, alias G. Segessenmann, alias Georg von Signau antwortete am 29.04.02 (15:44):

Für Susi

Dann schau doch mal unter "Autoren" hier im Forum. Vielleicht gefällt Dir eines von mir? (Pardon: Ist natürlich Grössenwahn!)

Schorsch


WANDA antwortete am 30.04.02 (13:43):

ein direktes lieblingsgedicht habe ich nicht, allerdings eins, was mir in kritischen lebenssituationen immer vor augen war, das ist das lied der türmers.


DorisW antwortete am 30.04.02 (18:58):

Liebe Wanda,
ich kenne zwar eine Menge Gedichte, aber dieses nícht - zumindest nicht dem Titel nach. Veröffentlichst du es hier?
Ein Gedicht für kritische Lebenssituationen ist doch immer gut!


Gila antwortete am 30.04.02 (22:48):

Mein Lieblingsgedicht ist von Wolfgang Borchert:
"Ich möchte Leuchtturm sein bei Nacht und Wind
Für Dorsch und Stint,
Für jedes Boot
Und bin doch selbst ein Schiff in Not."Vielleicht kennt ja jemand W.Borchard noch? Er schrieb u.a."Draussen vor der Tür". Gruss Gila


Bärbel antwortete am 30.04.02 (23:12):

Mein unübertroffenes Lieblingsgedicht: HERBSTTAG von RAINER MARIA RILKE!!!

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.


Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.


Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.


Rainer Maria Rilke

Ein goldener Oktobertag und dieses Gedicht - es gibt fast nichts Schöneres.

Bärbel


Ingrid Steiner antwortete am 01.05.02 (00:32):

Hallo Gila,

Hier mein Lieblingsgedicht von Borchert:

Versuch es

Stell dich mitten in den Regen,
glaub an seinen Tropfensegen -
spinn dich in das Rauschen ein
und versuche gut zu sein!

Stell dich mitten in den Wind,
glaub an ihn und sei ein Kind -
lass den Sturm in dich hinein
und versuche gut zu sein!

Stell dich mitten in das Feuer,
liebe dieses Ungeheuer
in des Herzens rotem Wein -
und versuche gut zu sein!

Es fällt mir immer ein, wenn ich bei "Sauwetter" unterwegs bin.

Grüße Ingrid


WANDA antwortete am 01.05.02 (08:17):

Lied des Türmers Lynceus

Zum Sehen geboren,
zum Schauen bestellt,
dem Turme geschworen,
gefällt mir die Welt.
Ich blick in die Ferne,
ich seh in der Näh
den Mond und die Sterne,
den Wald und das Reh.

So seh ich in allen,
die ewige Zier,
und wie mir's gefallen,
gefall ich auch mir.

Ihr glücklichen Augen,
was je ihr gesehen,
es sei, wie es wolle -
es war doch so schön !

J.W.von Goethe

@DorisW. liebe doris, in dem türmer sah ich mich, die ich der grossen familie geschworen war und diese bewachen musste, wie der türmer den turm. er tut seine pflicht, holt sich die unterstützung aus der natur, ist bescheiden, fast demütig. und da ihm die welt gefällt, gefällt er sich auch selber, was ganz wichtig ist. er hat sich mit der welt und seiner bestimmung darin ausgesöhnt !
Ich hoffe, dass ich es rüberbringen konnte!


WANDA antwortete am 01.05.02 (08:39):

das wichtigste hätte ich beinah vergessen: er singt !!!!!


Rosmarie Schmitt antwortete am 01.05.02 (09:18):

Liebe Wanda, liebe Runde

das Türmergedicht war mir bisher entgangen. Es könnte glatt auch ein Lieblingsgedicht von mir werden! Ob ich es noch auswendig zu lernen schaffe?
Das Herbsttag-Gedicht von Rilke sage ich mir auch öfters auf. Es ist wunderschön! Mein Lieblingsgedicht hänge ich unten an, leider nur aus dem Gedächtnis. Mir scheint, es ist fehlerhaft. Da ich es in meinen Büchern nicht finde, wäre ich für Richtigstellung sehr dankbar!
"Versuch es" ist für mich auch eine kleine Offenbarung, das richtige Gedicht für Leute, die mit Hund durch den Regen tapsen... :-)))

Mit herzlichem Dank in die Runde
Rosmarie


Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten.
Sie fallen mit verneinender Gebärde,
und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen, diese Hand da fällt,
und sieh dir andre an, es ist in allen.
Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rainer Maria Rilke


DorisW antwortete am 01.05.02 (09:52):

Liebe Wanda,
Vielen Dank, das Türmergedicht gefällt mir auch sehr gut. Vor allem mit deinen Worten dazu, sie bringen es mir erst so richtig nahe.

Liebe Rosmarie,
dein Lieblings-Rilkegedicht ist auch eines von meinen und ich kenne es ebenfalls aus dem Gedächtnis.
"Bei mir" :-) lautet es genauso, nur mit geringfügig anderer Zeichensetzung:

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.


gila antwortete am 01.05.02 (10:53):

Hallo, Ingrid, Danke für das Gedicht von Borchert. Das ist auch wunderschön. Kennst Du "Der Kuss" von Borchert?
Es regnet, doch sie merkt es kaum
weil noch ihr Herz vor Glück erzittert,
im Kuss versank die ganze Welt im Traum,
ihr Kleid ist nass und ganz zerknittert
und so verächtlich hochgeschoben
als wären ihre Knie für alle da.
Ein Regentropfen, zu nichts zerstoben,
er hat geseh�n, was keiner sonst noch sah.
So sinnlos selig müssen Tiere sein
Ihr Haar ist wie zum Heilgenschein zerwühlt,
Laternen fangen sich drin ein.

Gruss Gila


gila antwortete am 01.05.02 (10:59):

Hallo, Bärbel
Du hast recht (wird das nun nach der neuen Rechtschreibung gross oder klein geschrieben?), das Gedicht "Herbsttag" von Rilke ist ganz wunderschön.Danke. Gruss Gila


Heidi antwortete am 01.05.02 (13:50):

Herbst


Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.


Rainer Maria Rilke, 11.9.1902, Paris


"Herbst" zum dritten Mal :-)

und hier eine URL für alle Rilke-Liebhaber https://bilux.onlinehome.de/rilke/index.html

Allen einen schönen Maifeiertag

(Internet-Tipp: https://bilux.onlinehome.de/rilke/index.html)


Rosmarie Schmitt antwortete am 01.05.02 (18:23):

Liebe Doris, liebe Heidi,

aaaah, danke für die richtigere und die noch richtigere Fassung der fallenden Blätter!:-)))
Ich freu mich ganz toll!

Rosmarie


Pamina antwortete am 10.05.02 (18:17):

Lieblingsgedichte habe ich viele.....
aber weil gerade Frühling ist, hier eins meiner liebsten Frühlingsgedichte von Hugo von Hofmannsthal

Vorfrühling

Es läuft ein Frühlingswind
durch kahle Alleen,
seltsame Dinge sind
in seinem Wehen.

Er hat sich gewiegt,
wo Weinen war,
und hat sich geschmiegt
in zerrüttetes Jaar.

Er schüttelte nieder
Akazienblüten
und kühlte die Glieder,
die atmend glühten.

Lippen im Lachen
hat er berührt,
die weichen und wachen
Fluren durchspürt.

Er glitt durch die Flöte
als schluchzender Schrei,
an dämmernder Röte
flog er vorbei.

Er flog mit Schweigen
durch flüsternde Zimmer
und löschte im Neigen
der Ampel Schimmer.

Es läuft der Frühlingswind
durch kahle Alleen,
seltsame Dinge sind
in seinem Wehen.

Durch die glatten
kahlen Alleen
treibt sein Wehen
blasse Schatten

und den Duft,
den er gebracht,
von wo er gekommen
seit gestern nacht.


Antonius Reyntjes antwortete am 11.05.02 (10:08):

Hier zwei Gedichte, die vom Motiv des alten Menschen her zusammenpassen:

DIE FREMDE AUF MEINER BANK

Wie kam das fremde Weib zu meiner Bank?
Gewitter nahn dem Park von allen Enden.
Sie schläft. Sie muß ganz alt sein, alt und krank.
Die Krücken gleiten aus verwelkten Händen.

Ein Gärtner läßt aus blanker Messingbrause
Den kalten Quell in Busch und Beete stieben,
Und Kühlung haucht herüber bis zum Hause -
Die Schlafende zerfleßt im schimmrig Trüben.

Gewölke pressen schwer herab. Sie halten
Das Glühende noch dichter an der Erde.
Noch einmal schräg aus gelben Wetterfalten
Schleicht Sonne durch, noch einmal ist's, als werde

Die Düsternis zu Tag, und dort, - o schau:.
Schmal durch die sprühende Dunstluft hingezogen,
Über dem Haupt der armen, grauen Frau
Glänzt wunderbar der siebenfarbige Bogen.
(Vor 1940 geschrieben; H.C.: Werke. Bd. I. 1962f.)

*
Bertolt Brecht

Sonntag Morgen. Auf der Bank gegenüber der Kirche
Eine alte Frau aus den unteren Ständen.
Die Orgel spielt drinnen. Diese hört auf die Spatzen.
Ihre Schwestern beten zu dem Gott um Gnade. Sie sammelt
Einige wärmende Sonnenstrahlen wie die müde Schnitterin
Vergessene Ähren.
(Entstanden um 1935;B.B.: Gedichte. 4. Werke Bd. 14. S. 305)


hedwig antwortete am 20.05.02 (08:27):

Eins meiner großen Lieblingsgdichte ist folgendes:

Werkleute sind wir

Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.

Wir steigen in die wiegenden Gerüste,
in unsern Händen hängt der Hammer schwer,
bis eine Stunde uns die Stirnen küsste,
die, strahlend und als ob sie alles wüsste,
von dir kommt, wie der Wind vom Meer.

Dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern,
und durch die Berge geht es Stoß um Stoß.
Erst wenn es dunkelt, lassen wir dich los:
Und deine kommenden Konturen dämmern,

Gott, du bist groß. (Rainer Maria Rilke)


Mechthild antwortete am 20.05.02 (18:29):

Mein Lieblingsgedicht ist von Joseph von Eichendorff
Mondnacht

Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nur träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.


Adolf antwortete am 20.06.02 (02:07):

Hier mein lieblings Gedicht:

Erwartung

Sommer wird es immer wieder,
ist dein Herz auch noch so bang,
und es klingen frohe Lieder,
jedes Jahr die Lerche sang.

Auf den Wiesen blüht es wieder,
alle Welt ist neu erwacht,
Gottes Sonne scheint hernieder,
Herr, du hast es gut gemacht.

Lass uns Menschen glücklich werden,
in der schönen Sommerzeit,
denn, wer möchte nicht auf Erden
leben voll Zufriedenheit.
J. Hawner