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THEMA:   lesen, interpretieren, diskutieren ...

 14 Antwort(en).

hl begann die Diskussion am 29.12.02 (10:38) mit folgendem Beitrag:

Weihnachten 1942

Es war Weihnacht. Ich ging über die weite Ebene. Der Schnee war wie Glas. Es war kalt. Die Luft war tot. Keine Bewegung, kein Ton. Der Horizont war rund. Der Himmel schwarz. Die Sterne gestorben. Der Mond gestern zu Grabe getragen. Die Sonne nicht aufgegangen. Ich schrie. Ich hörte mich nicht. Ich schrie wieder. Ich sah einen Körper auf dem Schnee liegen. Es war das Christkind. Die Glieder weiß und starr. Der Heiligenschein eine gelbe gefrorene Scheibe. Ich nahm das Kind in die Hände. Ich bewegte seine Arme auf und ab. Ich öffnete seine Lider. Es hatte keine Augen. Ich hatte Hunger. Ich aß den Heiligenschein. Er schmeckte wie altes Brot. Ich biß ihm den Kopf ab. Alter Marzipan. Ich ging weiter.

Friedrich Dürrenmatt


Anton Stephan Reyntjes antwortete am 29.12.02 (13:03):

Eine frühe, wichtige Botschaft Dürrenmatts. Er hat schon 1942 - und sein Vater war Pastor - den christlichen Glauben, insbesondere den Jesus-Kindchen-Glauben als Gefühligkeit geprüft und als Brot-Ersatz kennen gelernt und seine Lebensphilosophie der Eigenverantwortlichkeit und der Notwendigkeit, dass jeder Mensch - egal in welcher Kultur -sein Gottesbild aus der Kindheit selber prüfen und zurecht rücken muss; denn das Bethlehem-Kind (das PROPHEZEITE Kind vom "Ort des Brotes") kann ja nicht nur für zwei Tage präsent sein in seinem Gefühls- und Gabenrausch - sondern ist ja auch als Erwachsener Kern eines Glaubens, der sich immer wieder verstecken will hinter Gemütlichkeiten: und Bergpredigt heißt - vom öffentlichen Ort, wo über 5000 Menschen satt wurden an Brot und Fischen (nicht durch ein vordergründiges vom Himmel fallendes Wunder - sondern weil die Menschen Solidarität übten und sich - wie im Ur-Christentum - versorgten und noch einiges übrig hatten für später Kommende... - Über die Kritik an den Glauben seiner Eltern hinaus ist die allgemeinere an der europäischen Kultur spürbar - wo ja noch außerhalb der Schweiz der Krieg tobte und noch gar nicht entschieden war - und auch Christen für die heidnische "hohe Nacht der Sterne" sich bemühten.
*
Dank für das erste Beispiel: Ein gelungenes Beispiel für Kurzgeschichten. Auch wenn ich vermute, dass sich viele weihnachtlich Gestimmte beleidigt fühlen... (Aber auch für sie war damals am Berge noch Nahrung da; und in der Bibel nachzulesen, allerdings nicht bei niedlichen Krippen und unfrohen Botschaften...)

Internet-Tipp: https://www.reyntjes.de


sofia204 antwortete am 29.12.02 (13:36):

erst dachte ich, eine aus dem ST erlaubt sich,
den seelenlosen Mummenschanz so zu erzählen?
Dann aber wars doch der Dürrenmatt,
sofort kulturelle Hochebene.
Denn die Schönheit liegt auch im Unbekannten.


Marianne antwortete am 29.12.02 (16:03):

Versuch einer strukturalistischen Interpretation ( auf die soziologisch- biographische meines Vorredners)

Schauen wir uns die prädikativ gebrauchten Adjektive und Partizipien an:
kalt tot rund schwarz gestorben = (überwiegend) Sehsinn

Dann ein Blick auf die Prädikate:
schreien nicht hören = Gehörsinn

S E H E N = Sehsinn wird angesprochen

Was wird gesehen? Das Christkind

Wie wird es gesehen?
weiß, starr,keine Augen, gelber gefrorener Heiligen
schein

Der Heiligenschein s c h m e c k t w i e altes

Brot,der Kopf w i e alter Marzipan

Gegensatz von alt ist neu / jung?

Auch für einen Leser, der nicht dem christlichen Kulturkreis angehört, vermittelt sich über den assoziativen
Stimmungsaufbau das Gefühl einer unendlichen Leere und Kälte.
Ein Individuum wird enttäuscht.Es hat möglicherweise Neues erwartet, bekommt aber in unendlicher Kälte nur Altes, keinen Weg aus dem Grauen gezeigt.



S


Angelika antwortete am 29.12.02 (16:41):

...vielleicht aber auch in einer literarisch-kannibalischen form eine andere beschreibung von "erst kommt das fressen, dann kommt die moral" ?


pilli antwortete am 30.12.02 (02:02):

weihnachten 1942/Schluß:

"Ich ging weiter"

hoffnung das licht und die wärme zu finden?

weihnachten 2002

angst...keine hoffnung mehr zu haben?


WANDA antwortete am 30.12.02 (08:49):

Ich ging weiter - reine Routine, er konnte nicht anders, die Sterne gestorben, der Mond begraben, die Sonne nicht aufgegangen.


Lümmel antwortete am 30.12.02 (12:19):

Dürrenmatt dreht sich im Grabe herum.


Angelika antwortete am 30.12.02 (12:53):

...also Dürrenmatt war doch vor allem ein Satiriker..und an zweiter Stelle ein Moralist. Man denke nur an den "Besuch der alten Dame" oder "Die Physiker" - seine Werke sind oft hammerharte Apokalypsen, die er nur zu gerne und absolut meisterlich in wunderbare Sprache verpackt - vorsicht also, Dürrenmatt bedient sich da gerne einer Mogelpackung :-)

Noch eine Anmerkung, da mich einer der Herren hier in einer privaten Mail wegen meines Kommentars weiter oben verbal zusammengefaltet hat:

Ich wollte Herrn Dürrenmatt absolut nicht "schlecht machen" und "Gotteslästerin" bin ich schon gar nicht - schliesslich symbolosiert auch der Christstollen nichts anderes als das Wickelkind Jesu und wird von uns gefressen.

- im Gegenteil: Ich bin absoluter Fan von ihm und war begeistert, in Bern mit der "Querlinie" (einer Dürrenmatt-Strassenbahnsonderfahrt, in der eine Nichte vom ihm ihn rezitierte) und im Literaturarchiv zu stöbern :-)

Warum ich auf Kannibalismus komme? Weil Dürrenmatt das Thema sehr gerne aufgegriffen hat. Eines seiner ersten Geschichten beginnt mit dem Satz "Ein Mensch erschlug seine Frau und verwurstete sie (...)" . (aus: "Die Wurst")

Dabei geht es um einen Mann, der seine Frau ermordete und verwurstete. Zum Tode verurteilt hat er noch einen Wunsch bez. seiner Henkersmahlzeit nd - er wünscht sich, die letzte noch verbliebene Wurst, die im Prozess als Beweisstück gedient hatte, zu verspeisen und dem Wunsch wird stattgegeben. Die Wurst ist jedoch verschwunden und es kommt heraus, dass der Richter sie bereits verzehrt hat...

Dürrenmatt ist meiner Meinung nach viel zu makaber und absurd, als dass er hoch anständige Interpretationen beabsichtigt hätte - es sei denn, er führt seine Leser bewusst aufs Glatteis?

Angelika

***Unter Intuition versteht man die Fähigkeit gewisser Leute, eine Lage in Sekundenschnelle falsch zu beurteilen (F.Dürrenmatt(***


Marianne antwortete am 30.12.02 (12:58):

an Lümmel

Wieso? Kanntest Du ihn so genau?

Alles, was geschrieben wurde, ist durchaus legitim, denn Autoren erlauben ihren Lesern das, was Du ihnen mit Deinen Worten verwehren willst.Sie schreiben, um gelesen zu werden. Das heißt, dass jeder Leser die Freiheit hat,den Text zu sich sprechen zu lassen. Und die Antwort zu Texten fallen eben verschieden aus. Diese Antworten -Interpretationen - können aus verschiedenen Sichten gewonnen werden.Es muss eben nur mit dem Text der Sinn erkannt werden.

Ich bin nur zu faul, um Sekundärliteratur nachzulesen, sonst könnte ich Dir noch Genaueres sagen.


Wer Behauptungen aufstellt, sollte sie - das verlangt die Redlichkeit des Kritikers, auch belegen, entweder mit eigener Interpretation oder mit ausdrücklich zu diesem Text passenden Worten des Autors selbst.

So wie Du das sagst, fehlt einfach die Begründung deines Sagers.

Das sage ich, nicht weil ich beleidigt bin, sondern weil Du mein Fachgebiet gestreift hast und Fachleute doch auch mal was gerade rücken können.


hl antwortete am 30.12.02 (13:07):

@ Angelika, Marianne und A.S.R.

Applaus! Eure Kommentare sind genauso faszinierend (und für mich gut nachvollziehbar) wie die Geschichte selbst.


Lümmel antwortete am 30.12.02 (14:06):

@ Marianne,
"Wer Behauptungen aufstellt, sollte sie ... ...auch belegen."

Du verlangst doch nicht etwa eine Exhumierung?


Anton Stephan Reyntjes antwortete am 30.12.02 (14:18):

Es gibt sensible L e s e r (die sich besonders von anspruchsvollen Texten angesprochen fühlen) - und Geschwind-Schreiber.....

Den Weihnachtstext von F.D. habe ich einmal als Abiturthema gestellt. Die Aufgabe hieß dann (etwa so):

Setzen sie sich mit Dürrenmatts Text analytisch und kritisch auseinander; kennzeichnen sie unterschiedliche Gottes-Bildern. (Begründen sie, welche Gottesbilder es gibt - a)im Kinderglauben b) im Alltagsglauben b) theologisch und philosophisch (bei Feuerbach und Freud); zeigen sie, welche Göttlichkeits-Anschauungen tolerant zueinander sind - und welche kriegerisch-polemisch oder gar Grundlage für Terror und Gewalt sind.

(Jaja, nix für keuchende Strophen, nix für Kurzreime, nix für Schnelltipper; Dank an alle, die mitmachen beim Spiel der Reflexionen und Interpretationen.)


Marianne antwortete am 30.12.02 (17:44):

an Lümmel:

Du hast einen passenden Nicknamen.

Was ich schrieb war ernsthaft gemeint, denn wenn Du behauptest, Dürrenmatt hätte sich im Grabe umgedreht, musst Du doch irgendein Wissen haben, um diese Worte zu belegen.

Entschuldige, dass ich dir ernsthaft geantwortet habe.


WANDA antwortete am 31.12.02 (08:27):

@Anton Stephan Reyntges
dieses "in eine Schublade schieben" z.B. Schnellschreiber oder sensible Leser mag ich überhaupt nicht, wir alle haben unterschiedliche Qualitäten und auch unterschiedliche Stimmungen. Bei einem Gedicht ist es sehr wichtig, dass es zur richtigen Zeit, bezw. im richtigen Moment kommt und ausserdem sind wir hier nicht in der Abitur-Prüfung.
Ein frohes 2003 !