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THEMA:   Was vom Krieg, auch als Antwort auf ein "politisches" Gedicht

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Antonius Reyntjes begann die Diskussion am 25.01.03 (20:31) mit folgendem Beitrag:

Kurt Tucholsky: Kleine Begebenheit

Der Strumpfwirker und der Bauerssohn waren in der Nacht von einem Ackergraben in den anderen geklettert. Warum sie es getan hatten, wussten sie nicht. Man hatte ihnen gesagt, sie sollten es tun. Herren, die lesen und schreiben konnten, hatten es ihnen gesagt. Im anderen Ackergraben hatte man sie gleich angehalten, in derselben Nacht noch, und weil sie fremdgefärbte Kleider anhatten, sie sehr geschlagen und in ein Haus gesperrt.
Nachher sass ein Advokat hinter einem Tisch - er war so froh, hinter diesem Tisch sitzen zu dürfen! - und schrieb auf, was der Strumpfwirker und der junge Bauer zu sagen wussten. Da war noch ein Gastwirt, der schlug sie, wenn sie nicht genug sagten.
Ein Besucher kam zu ihnen und sagt, man würde sie töten - und zwei Leute, ein Steinklopfer und ein junger Mensch, der noch keinen Beruf hatte und bei den Eltern wohnte, bewachte sie von Stund an.
Vierundzwanzig Menschen wurden benötigt, um die beiden totzuschießen. Es meldeten sich, freiwillig, achtzig. Achtzig - darunter waren Verheiratete und Ledige, Stille und Freche, Kräftige und Schlappe - sonst brave Leute, die keinem etwas zuleide taten, und die nur so gern einmal dabei sein wollten, um zu sehen, wie das wäre, wenn einer totgeschossen würde. Mehr: die ihn selber totschießen wollten. Denn das war erlaubt ... Befehligt wurden sie von einem Kohlenhändler.
Am Morgen dieses Tages erschien der traurige Zug auf dem ungeheuren Schneefeld südlich des Dorfes. Voran der Bauer und der Strumpfwirker, zwischen zwei Leuten von denen, die man aus den achtzig ausgesucht hatte; ein Arzt aus einer großen Stadt, der dergleichen noch nicht gesehen hatte und gleichfalls begierig war, es zu sehen; und der Kohlenhändler mit seinen Leuten. Die beiden in dünnen Jacken zitterten vor Kälte und Todesfurcht. Der Zug machte hinter den Scheinen halt. Der Advokat, der mitgegangen war, zeigte den beiden ein Papier, aber sie froren und konnten auch nicht lesen.
Man stellte sie an kleine schwarze Pfähle. Der Kohlenhändler sagte zu sein Leuten, sie sollten ihre Gewehre laden. Er sagte es sehr laut, obgleich er nahe bei ihnen stand.
Er hätte gewünscht, dass ihn seine Frau so sähe, wie er, der sonst Kohlen verkaufte, hier zwei Leute totschießen durfte.
Schüsse knallten. Die beiden fielen um wie leere Säcke. Der Arzt aus der großen Stadt ging hin und sah sich genau ihre Wunden an. Dann verscharrte man sie.
Ich habe vergessen zu erzählen, dass alle verkleidet waren: die Gerichteten als amerikanische, die Henker als irakische Soldaten.
(1921 veröffentlichte Kurt Tucholsky diesen Text; er schrieb damals statt "amerikanische" "serbische" und statt "irakische" "deutsche Soldaten". K.T. Schriften und Brief. 5, 79f.; es könnte aber auch umgekehrt sein. - Von Tuchos Verleger S. Jacobson ist überliefert, dass er im Tucho-Text auch für den Druck die Nationalitätsangaben veränderte, um nicht nur "den Deutschen was aufzubürden". - Heute könnte man statt des "Ackergrabens" "Stellungen im Wüstensand" einfügen.)