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THEMA:   Drei Kinder (Kurzgeschichte)

 4 Antwort(en).

katharina begann die Diskussion am 12.02.03 (20:56) mit folgendem Beitrag:

Hier eine kleine Geschichte von mir zum Thema "Wahrheit".

Drei Kinder

Sprich vom Verlust, sagt Bender und ich rede vom Sieveringer Steinbruch, in den wir gezogen sind. Wie wir zwischen Büschen eine Hütte bauten und wie lang es gedauert hat, genügend Äste zu finden, und wie wir Pilze sammelten und auf Schnüre fädelten. Du hast auf einmal Nasenbluten bekommen, sage ich und Bender greift sich an die Nase und sagt, dass das nicht er, sondern sie gewesen sei. Aber ja, sage ich, das war sie. Sie hat andauernd Nasenbluten gehabt, sage ich, wegen jedem Dreck. Und ein Dreck - Bender grinst - ein Dreck war das nicht, was wir da herumgerannt sind. Ja, sage ich, das war schon verdammt weit von uns nach Sievering und heiß muss es doch auch gewesen sein. So mitten im Sommer. Sprich vom Verlust, sagt Bender. Der war schon viel früher, sage ich, aber das verstehst du nicht. Was auch ein Verlust ist, sagt Bender. Bender, du Witzbold, sage ich und Bender lacht. Ich sehe die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. Mein Gott Bender, sage ich, ich hab dich vermisst. Hoffentlich kriegt er jetzt kein Nasenbluten, denke ich und frage ihn nach seinen Geschäften. Gut gehen sie, gut, sagt Bender, der kein Nasenbluten bekommen hat, weil das ja Jella gewesen ist. Wenn sie nicht tun wollte, was sie tun sollte, bekam sie einfach Nasenbluten. Ich habe Jellas Nasenbluten gehasst, sage ich zu Bender, der nichts sagt. Ja, die Jella, sage ich deshalb für ihn und weißt du noch, sage ich, wie sie uns mit den Ästen reingelegt hat? Wie sie plötzlich jede Menge brachte, bis wir sie erwischten, wie sie die Äste von der Rückseite der Hütte holte? Bender lacht. Ich lache auch. Dann hat sie wieder Nasenbluten gehabt. Bender sagt, dass Jella halt was Besonderes war und dass wir das als Kinder halt nicht richtig begriffen haben. Ich sage Bender, Bender sage ich, ich habe Jellas Nasenbluten gehasst und ich hasse es noch heute. Wir hätten sie schonen müssen, sagt er und macht den Mund dann nicht mehr auf, damit ich seine Zahnlücke nicht sehen kann. Ich erinnere mich an die blutbefleckten Leibchen. Es waren blaue Leibchen. Jetzt du, sage ich, Bender, sprich du vom Verlust, und Bender sagt: Ich habe Jella verloren. Nichts anderes zählt. Bender, sage ich, du sollst nicht lügen. Du hast immer schon gelogen, sage ich, schon damals, als du behauptet hast, dass sie unser Versteck verraten hat. Das warst du, sagt er und ich will sagen: Bender, du lügst ja noch immer, aber das hätte ihn so aufgeregt, dass er Nasenbluten bekommen hätte. Schon möglich, sage ich, es ist ja so lang her. Ich vermisse sie, sagt Bender, ernst wie damals, als er abstritt, Jella beschuldigt zu haben. Wir hätten achtsamer sein müssen, sagt er. Aber wir waren ja noch Kinder, sage ich. Trotzdem, sagt Bender. Weißt du, sage ich, ich habe nicht nur Jellas Nasenbluten, ich habe die ganze Jella gehasst. Ich nicht, sagt Bender. Ich hätte sie pausenlos erschlagen können, sage ich. Ich weiß, sagt Bender und zieht eine Photographie aus seinem Jackett. Schau, sagt er, ich schaue: Jella und ich - mit hängenden Armen nebeneinander aufgestellt, Jellas Kniestrümpfe bis zu den Knöcheln heruntergerutscht, ich mit Zöpfen und zusammengekniffenen Augen in die Sonne schauend - und Bender die Arme in die Hüften gestemmt, breitbeinig. Drei Kinder. Das sind wohl die ersten Farbfotos, die es gegeben hat, sage ich. Trotzdem bin ich mir sicher, dass Benders Leibchen blau ist. Verdammt, sage ich, das ist so lang her.


hl antwortete am 12.02.03 (21:08):

.. und jeder hat seine eigene Wahrheit. Wer will sagen, welches die richtige ist?

Eine gute Geschichte, Katharina.


Antonius antwortete am 13.02.03 (11:51):

Meine Güte, diese (entschwundene) Jella... - sie geht mir im Gemüt um. Und provoziert, wie jede psychologisch gute Geschichte meine eigene Erinnerung: Jella - wie mein Bruder, der als Junge und als junger Mann häufig Nasenbluten hatte und schon mit 22 starb - an Blutkrebs. Sehr häufiges Nasenblut und Tod - das hängt für mich seitdem ein Leben lang wohl zusammen; was auch die Mediziner dazu sagen mögen...


sofia204 antwortete am 13.02.03 (13:52):

oh Antonius,
auch Dir hat die Lorelei das Haar heruntergelassen,
oder gekämmt, oder was -


katharina antwortete am 14.02.03 (09:32):

hl, antonius, sofia, danke für eure rückmeldungen!

lg
katharina