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THEMA:   Gedichte, Gedichte, 4. Teil

 129 Antwort(en).

Friedgard begann die Diskussion am 01.11.00 (08:54) mit folgendem Beitrag:

Guten Morgen, liebe Lyrikfreunde! Ich hoffe, Ihr seid einverstanden, daß ich mit dem Kästner-November
ein neues Kapitel Gedichte aufblättere. Der Vorschlag stammt von Edith.
Und hier ist er,

Der November

Ach, dieser Monat trägt den Trauerflor...
Der Sturm ritt johlend durch das Land der Farben.
Die Wälder weinten. Und die Farben starben.
Nun sind die Tage grau wie nie zuvor.
Und der November trägt den Trauerflor.

Der Friedhof öffnete sein dunkles Tor.
Die letzten Kränze werden feilgeboten.
Die Lebenden besuchen ihre Toten.
In der Kapelle klagt ein Männerchor.
Und der November trägt den Trauerflor.

Was man besaß, weiß man, wenn man's verlor.
Der Winter sitzt schon auf den kahlen Zweigen.
Es regnet, Freunde, und der Rest ist Schweigen.
Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor.
Und der November trägt den Trauerflor...


Und weil der Erich Kästner den November gar so trist sieht, möchte ich Euch ein Fenster öffnen:


Tauch hin und wieder
in das tiefe Dunkel deiner Fragen
wie in ein unbekanntes
weites Meer
und laß dich treiben.
Versuche nicht
in wilden Stößen schwimmend
das Land Erfüllung
zu erreichen.
Es könnte sein,
dass dich Erschöpfung übermannt
und du ertrinkst.
Vertraue dich
der Strömung einfach an:
vielleicht
erreichst du eine Insel,
vielleicht wirst du ein Fisch,
vielleicht ein Vogel?

FS. (Hierzu habe ich ein wunderschönes Foto - könnte ich es Euch dazustellen!)


Heidi Lachnitt antwortete am 01.11.00 (10:31):




Bendedikt Werner Traut (Selbst die Schatten tragen ihre Glut)

Immer wieder warten

Immer wieder warten
auf die Erscheinung des Unsichtbaren
zwischen Abend und Morgen.

Immer wieder warten
auf die Offenbarung des Verhüllten
zwischen Ankunft und Aufbruch.

Immer wieder warten
auf das Kommen des Zukünftigen
in Anwesenheit der Leere

Immer wieder warten
auf das Bleiben des Allgegenwärtigen
im Ausbleiben der Erfüllung.

Immer wieder warten
auf die Nähe des Unnahbaren
im Ungenügen am Hier und Jetzt.

Immer wieder warten
auf die Begegnung mit dem Lebendigen
in der Welt des Untergehens und Vergehens.

Immer wieder warten
auf den Einbruch der Ewigkeit
an der Grenze von Raum und Zeit.

Immer wieder warten
auf das Geschenk des Atems
im Grab der Angst und Verzweiflung.

Immer wieder warten
auf Oasen der Erquickung
beim Gehen durch die Wüste.

Immer wieder warten
auf den Augenblick des Ankommens
im Unbehaustsein der Wanderschaft.

Immer wieder warten
auf die Einstrahlung des Lichtes
im Bild des Tages und der Nacht.

Immer wieder warten
auf die große, entscheidende Wandlung
im Dunkel von Leid und Schmerz.

Immer wieder warten
auf den Durchbruch des Lebens
im Angesicht des Todes.

Immer wieder warten
auf Brot und Wein
in Hoffnung wider Hoffnung.

Wartende sind wir
und Empfangende


Eva Wenzel antwortete am 01.11.00 (17:51):

Auch von mir ein Beitrag von dem deutsch-russischen Lyriker Alexander Zielke, ich berichtete ueber ihn unter "Kunst"

Spaetherbst

Der boese Herbstwind brummt und muerrisch schaut der Tag
Die Fluren welken stumm, veroedet liegt der Hag.

Nur noch ein Voeglein piept vereinsamt kummervoll,
Die Birke guckt betruebt,
die Eiche schweigt vor Groll.

Der Wind streicht durch den Hain
reisst an den Baeumen hart,
es friert sie Mark und Bein
ihr Blut ist fast erstarrt.

Und rings wird alles grau in Taelern wie auf Hoehn.
Doch weiss ich ganz genau,
es wird doch wieder schoen?


Koloman Stumpfögger antwortete am 01.11.00 (19:36):


Möwe

Warten,
erwartetet werden.
Kommen,
ankommen.
Auf Nähe warten,
ankommen am Ankerplatz:
angenommen sein,
geborgen.

von Koloman Stumpfögger


Heidi Lachnitt antwortete am 01.11.00 (21:14):

Emmy Grund (Selbst Schatten...) Diese Anthologie ist einfach traumhaft


Kleine Spinne vor meiner Tür

Wie oft hat einer dein Netz zerrissen,
wie oft hast du neu beginnen müssen,
kleine Spinne vor meiner Tür,
hältst dich bedeckt,
im Schweigen versteckt,
den Himmel über dir.

Wie oft hingst du verfolgt und verraten
nur noch an einem einzigen Faden,
klein und allein,
und dein Kunstwerk wurde mitunter
im Handumdrehen nutzloser Plunder,
kaum einer räumte dir Chancen ein.

Hast auf eiliger Flucht
in stillen Winkeln Halt gesucht,
um dann ohne Scheu
mit wachen Sinnen
neu zu beginnen,
dir selber treu.

Hast zwischen gestern und heute
zwischen Licht und Wand
zarte Hoffnungsseide gespannt,
beharrlich nach eig'ner Manier.
Du wolltest leben. -
Hast mir ein Beispiel gegeben.
Kleine Spinne, ich danke dir.


Heidi Lachnitt antwortete am 01.11.00 (21:47):

animiert von Friedgart

Novembergedanken

Der Oktoberwind wehte mich
in den November
- ich lasse mich treiben

Der Novembernebel verweigert
mir die Sicht
- ich lasse mich treiben

noch bis in den Dezember
lasse ich mich treiben
dann -

will ich gehen
auf neuen Wegen in ein neues Leben
allein?

hl


Koloman Stumpfögger antwortete am 01.11.00 (21:52):

Regenschauer

An kahlen Zweigen
der Kirsche vor dem Fenster
glitzern reine Juwelen
tausendfach im Licht

Nur
die Perlen
schüttle im Spätherbst
nicht sogleich
von meinem Baum

kNs


Wolfgang antwortete am 01.11.00 (23:32):

Ein Liebeslied (von Else Lasker-Schüler)

Komm zu mir in der Nacht � wir schlafen engverschlungen.
Müde bin ich sehr, vom Wachen einsam.
Ein fremder Vogel hat in dunkler Frühe schon gesungen,
Als noch mein Traum mit sich und mir gerungen.

Es öffnen Blumen sich vor allen Quellen
Und färben sich mit deiner Augen Immortellen �

Komm zu mir in der Nacht auf Siebensternenschuhen
Und die Liebe eingehüllt spät in mein Zelt.
Es steigen Monde aus verstaubten Himmelstruhen.

Wir wollen wie zwei seltene Tiere liebesruhen
Im hohen Rohre hinter dieser Welt.


Sieghard antwortete am 02.11.00 (09:04):

zu Allerseelen

Wenn wir im Tode leiblich zerfallen,
sind wir im Geiste schon jenseits der Schwelle
ewiger Nacht.

Denn in der Quelle lebenden Wassers
tauchte uns Christus bei unserer Taufe
in seinen Tod.

Sind wir im Sterben mit ihm begraben,
wissen wir gläubig, dass auch sein Ostern
er mit uns teilt.


Heidi Lachnitt antwortete am 02.11.00 (15:43):

Nicht unbedingt ein November- oder Allerseelengedicht, aber heute morgen im Zimmer einer alten Dame gefunden:

Sich ausstrecken
nach dem
neuen Tag

fallen lassen
was alt
was beschwert

frei sein
atmen -
mit weit
geöffneten Händen
neues beginnen

C.Kerting


Friedgard Seiter antwortete am 02.11.00 (17:57):

Ein Gedicht von Marie Luise von Kaschnitz zum Allerseelentag:

Ein Leben nach dem Tode

Glauben Sie fragte man mich
An ein Leben nach dem Tode
Und ich antwortete: ja
Aber dann wußte ich
Keine Auskunft zu geben
Wie das aussehen sollte
Wie ich selber
Aussehen sollte
Dort

Ich wußte nur eines
Keine Hierarchie
Von Heiligen auf goldnen Stühlen sitzend
Kein Niedersturz
Verdammter Seelen
Nur

Nur Liebe frei gewordne
Niemals aufgezehrte
Mich überflutend

Kein Schutzmantel starr aus Gold
Mit Edelsteinen besetzt
Ein spinnwebenleichtes Gewand
Ein Hauch
Mir um die Schultern
Liebkosung schöne Bewegung
Wie einst von tyrrhenischen Wellen
Wie von Worten hin und her
Wortfetzen
Komm du komm

Schmerzweb mit Tränen besetzt
Berg-und-Tal-Fahrt
Und deine Hand
Wieder in meiner

So lagen wir lasest du vor
Schlief ich ein
Wachte auf
Schlief ein
Wache auf
Deine Stimme empfängt mich
Entläßt mich und immer
So fort

Mehr also, fragen die Frager
Erwarten Sie nicht nach dem Tode?
Und ich antwortete
Weniger nicht.


Gerlinde antwortete am 02.11.00 (19:47):

Noch ein Gedicht von Else Lasker-Schüler


Komm zu mir in der Nacht
auf Siebensternenschuhen
Und Liebe eingehüllt spät
in mein Zelt.
Es steigen Monde aus verstaubten
Himmelstruhen.

Wir wollen wie zwei seltene Tiere
liebesruhen
Im hohen Rohre diese Welt.


Heidi Lachnitt antwortete am 02.11.00 (20:41):

Rainer Maria Rilke:

Das Rosen-Innere

Wo ist zu diesem Innen
ein Außen? Auf welches Weh
legt man solches Linnen?
Welche Himmel spiegeln sich drinnen
in dem Binnensee
dieser offenen Rosen,
dieser sorglosen, sieh:
wie sie lose im Losen
liegen, als könnte nie
eine zitternde Hand sie verschütten.
Sie können sich selber kaum
halten; viele ließen
sich überfüllen und fließen
über von Innenraum
in die Tage, die immer
voller und voller sich schließen,
bis der ganze Sommer ein Zimmer
wird, ein Zimmer in einem Traum.

Guten Abend! :-))


Evelyn antwortete am 02.11.00 (21:41):


Was dich liebte



Die Orgel verklungen
die Glocke verstummt
am Grab
war die Trauer versammelt

der Kirschbaum vorm Haus
im Hafer der Wind
das Pferd
deine Stiefelspuren im Sand

das letzte Bild auf
der Staffelei
der Habicht wieder
sogar der Hund den
du lange begrubst -

Da war,was dich liebte

der törichte Mut
der hilflose Schmerz
und der Schrei
zum gescheiterten Gott.

e.v.w.


Heidi Lachnitt antwortete am 02.11.00 (21:50):



Rilke:

Die Rosenschale

Zornige sahst du flackern, sahst zwei Knaben
zu einem Etwas sich zusammenballen,
das Haß war und sich auf der Erde wälzte
wie ein von Bienen überfallnes tier;
Schauspieler, aufgetürmte Übertreiber,
rasende Pferde, die zusammenbrache
den Blick wegwerfend, bläkend das Gebiß
als schälte sich der Schädel aus dem Maule

Nun aber weißt du, wie sich das vergißt:
denn vor dir steht die volle Rosenschale,
die unvergeßlich ist und angefüllt
mit jenem �ussersten von Sein und Neigen,
Hinhalten, Niemals-Gebenkönnen, Dastehn,
das unser sein mag: �ußerstes auch in uns.

Lautloses Leben, Aufgehn ohne Ende,
Raum-brauchen, ohne Raum von jenem Raum
zu nehmen, den die Dinge rings verringern,
fast nicht Umrissen-sein wie Ausgespartes
und lauter Inneres, viel seltsam Zartes
und Sich-bescheinendes - bis an den Rand:
ist irgend etwas uns bekannt wie dies?

Und dann wie dies: dass ein Gefühl entsteht,
weil Blütenblätter Blütenblätter rühren?
Und dies: dass eins sich aufschlägt wie ein Lid,
und drunter liegen lauter Augenlider,
geschlossene, als ob sie, zehnfach schlafend,
zu dämpfen hätten eines Innern Sehkraft.
Und dies vor allem: daß durch diese Blätter
das Licht hindurch muss. Aus den tausend Himmeln
filtern sie langsam jenen Tropfen Dunkel,
in dessen Feuerschein das wirre Bündel
der Staubgefässe sich erregt und aufbäumt.

Und die Bewegung in den Rosen, sieh:
Gebärden von so kleinem Ausschlagwinkel,
dass sie unsichtbar blieben, liefen ihre
Strahlen nicht auseinander in das Weltall.

Sieh jene weisse, die sich selig aufschlug
und dasteht in den grossen offnen Blättern
wie eine Venus aufrecht in der Muschel;
und die errötende, die wie verwirrt
nach einer kühlen sich hinüberwendet,
und wie die kühle fühllos sich zurückzieht,
und wie die kalte steht, in sich gehüllt,
unter den offenen, die alles abtun.
Und was sie abtun, wie das leicht und schwer,
wie es ein Mantel, eine Last, ein Flügel
und eine Maske sein kann, je nach dem,
und wie sie's abtun: wie vor dem Geliebten.

Was können sie nicht sein: war jene gelbe,
die hohl und offen daliegt, nicht die Schale
von einer Frucht, darin dasselbe Gelb,
gesammelter, orangeröter, Saft war?

Und wars für diese schon zu viel, das Aufgehn,
weil an der Luft ihr namenloses Rosa
den bittern Nachgeschmack des Lila annahm?
Und die batistene, ist sie kein Kleid,
in dem noch zart und atemwarm das Hemd steckt,
mit dem zugleich es abgeworfen wurde
im Morgenschatten an dem alten Waldbad?
Und diese hier, opalnes Porzellan,
zerbrechlich, eine flache Chinatasse
und angefüllt mir kleinen hellen Faltern, -
und jene da, die nichts enthält als sich.

Und sind nicht alle so, nur sich enthaltend,
wenn Sich-enthalten heißt: die Welt da draußen
und Wind und Regen und Geduld des Frühlings
und Schuld und Unruh und vermummtes Schicksal
und Dunkelheit der abendlichen Erde
bis auf der Wolken Wandel, Flucht und Anflug,
bis auf den vagen Einfluss ferner Sterne
in eine Hand voll Innres zu verwandeln.

Nun liegt es sorglos in den offnen Rosen.


Wolfgang antwortete am 02.11.00 (22:41):

Sieben Rosen (von Bertolt Brecht)

Sieben Rosen hat der Strauch
Sechs gehoer�n dem Wind
Aber eine bleibt, dass auch
Ich noch eine find.

Sieben Male ruf ich dich
Sechsmal bleibe fort
Doch beim siebten Mal, versprich
Komme auf ein Wort.


Sieghard antwortete am 03.11.00 (08:11):

heute aus gegebenem Anlass
aus meiner Verseschmiede etwas:

-------------------------------------

Der Wahnsinn wurde kleingeritten
verseuchtes Beefsteak von den Briten

Rinderwahn log die Regierung weg
Bürger betrogene trotz Forscher-Beleg

Hirnveränderungen, Schüttelkrämpfe
Creutzfeld-Jacob-Krankheit, viele Kämpfe

�ngste, Apathie, Zorn und Frustrationen
der belogenen Leute Reaktionen

BSE-Epidemie, sie fördert den Tod
bei Mensch und Tier, Geschöpfe in Not

Lug und Trug, Gewinn und Geld
Machtgier des Menschen, chaotische Welt


Friedgard antwortete am 03.11.00 (08:37):

Und nocheinmal Rilke und die Rosen:

ROSE, oh reiner Widerspruch, Lust
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.


kNs antwortete am 03.11.00 (09:27):

Nur eine Rose

Vor jedem Abgrund
habe ich gezittert.

Jetzt überquere ich in leicht
mit nichts als einer Rose in der Hand.


Catarina Carsten

Quellnachweis:
Gedichtband
"Im Labyrinth der tausend Wirkichkeiten", S. 72
Edition Doppelpunkt, Wien, 1999


Wolfgang antwortete am 03.11.00 (15:13):

Hier ein Gedicht der leider nicht sehr bekannten Dichterin Kathinka Zitz geb. Halein (1801-1877), einer wahrhaft emanzipierten Frau, damals, als man mit dieser Bezeichnung noch nicht um sich warf. Ein Gedicht, wie ein Programm für Liebende:

Nicht ohne dich! (von Kathinka Zitz)

Auf den Wolken möcht' ich thronen,
Dort im lichten Feenland;
Wo die sel'gen Geister wohnen,
Fern vom eiteln Erdentand.
Lichte Engel würden schweben
Eng in Kreisen dann um mich; -
O, dort möcht' ich gerne leben,
Aber doch nicht ohne dich.

Wo die goldnen Sterne glänzen,
Und auf ewig grüner Flur
Charittinnen sich bekränzen,
Such' ich sanfter Freude Spur.
Eden würd' ich gern durcheilen,
Sein Gefild ist wonniglich -
Dort, dort möcht ich ewig weilen,
Aber doch nicht ohne dich.

Wo der Sphären Lieder tönen,
Ihre Harmonie erklingt,
Wo im Kreise der Camönen,
Tibul sanfte Lieder singt.
Dort, wo Amoretten spielen,
Unter Blüthen neckend sich -
Möcht' ich mich auch selig fühlen;
Aber doch nicht ohne dich.


Sieghard antwortete am 03.11.00 (15:28):

In den Nachmittag geflüstert

Sonne, herbstlich dünn und zag,
und das Obst fällt von den Bäumen.
Stille wohnt in blauen Räumen
einen langen Nachmittag.

Sterbeklänge von Metall;
und ein weißes Tier bricht nieder.
Brauner Mädchen rauhe Lieder
sind verweht im Blätterfall.

Stirne Gottes Farben träumt,
spürt des Wahnsinns sanfte Flügel.
Schatten drehen sich am Hügel
von Verwesung schwarz umsäumt.

Dämmerung voll Ruh und Wein;
traurige Guitarren rinnen.
Und zur milden Lampe drinnen
kehrst du wie im Traume ein.

[Georg Trakl]


Heidi Lachnitt antwortete am 03.11.00 (15:54):

Bertold Brecht

Liebeslied

Als ich nachher von dir ging
An dem großen Heute
Sah ich, als ich sehn anfing
Lauter lustige Leute

Und seit jener Abendstund
Weißt schon, die ich meine
Hab ich einen schönern Mund
Und geschicktere Beine.

Grüner ist, seit ich so fühl
Baum und Strauch und Wiese
Und das Wasser schöner kühl
Wenn ich's auf mich gieße.


Gerlinde antwortete am 03.11.00 (16:32):

Am Teetisch


Sie saßen und tranken am Teetisch
und sprachen von Liebe viel.
Die Herren, die waren ästhetisch,
die Damen von zartem Gefühl.

"Die Liebe muss sein platonisch",
der dürre Herr Hofrat sprach.
Die Hofrätin lächelt ironisch,
und dennoch seufzet sie:"Ach!"

Der Domherr öffnet den Mund weit:
"Die Liebe sei nicht zu roh,
sie schadte sonst der Gesundheit."
Das Fräulein lispelt:"Wieso?"

Die Gräfin spricht wehmütig:
"Die Liebe ist eine Passion!"
und präsentieret gütig
die Tasse dem Herrn Baron.

Am Tische war noch ein Plätzchen,
mein Liebchen, da hast du gefehlt;
du hättest so hübsch, mein Schätzchen,
von deiner Liebe erzählt.


H.Heine


Heidi Lachnitt antwortete am 03.11.00 (16:39):

:-))
und noch eines aus "Selbst die Schatten tragen ihre Glut"
von Gudrun Schlüter

Warten kann Qual, kann Süße sein,
Irren der Phantasie
Warten läßt Leben ins Herz hinein,
Warten ist Melodie,
Sehnen, Sich-nähern und Glücklich-sein,
Zagen und Fürchten und Schmerz,
traumbilddurchwirkte Wirklichkeit,
warte, mein Herz.


Heidi Lachnitt antwortete am 03.11.00 (16:48):

und zum Schluss aus gleicher Anthologie :-))

von Dietrun Gebert-Feth

Dein Lächeln

Zufällig fange ich dein Lächeln ein
und stecke es
in meine Tasche
als Begleiter
für den Tag


Wünsche allen einen schönen Tag und Abend!


Heidi Lachnitt antwortete am 04.11.00 (10:37):

Guten Morgen! - Zum Wochenende ein bißchen Goethe?

Ach, dass die innere Schöpfungskraft
Durch meinen Sinn erschölle!
Daß eine Bildung voller Saft
Aus meinen Fingern quölle!

Ich zittre nur, ich stottre nur,
Und kann es doch nicht lassen;
Ich fühl, ich kenne dich, Natur,
Und so muß ich dich fassen.

Bedenk ich dann, wie manches Jahr
Sich schon mein Sinn erschließet,
Wie er, wo dürre Heide war,
Nun Freudenquell genießet;

Wie sehn ich mich, Natur, nach dir,
Dich treu und lieb zu fühlen!
ein lustger Springbrunn wirst du mir
Aus tausend Röhren spielen

Wirst alle meine Kräfte mir
In meinem Sinn erheitern
Und dieses enge Dasein hier
Zur Ewigkeit erweitern


Heidi Lachnitt antwortete am 04.11.00 (11:03):

Jeder kennt es :-))

Gefunden

Ich ging im Walde
so für mich hin,
und nichts zu suchen,
das war mein Sinn

Im Schatten sah ich
ein Blümlein stehn,
wie Sterne leuchtend,
wie �uglein schön.

Ich wollt es breche,
da sagt es fein:
"Soll ich zum Welken
gebrochen sein?"

Ich grub's mit allen
den Würzlein aus,
zum Garten trug ich's
am hübschen Haus.

Und pflanzt es wieder
am stillen Ort;
nun zweigt es immer
und blüht so fort.

Johann Wolfgang v.Goethe


Heidi Lachnitt antwortete am 04.11.00 (11:50):

und noch eines bevor ich wieder zum Dienst gehe:

Die Leidenschaft bringt Leiden! - Wer beschwichtigt,
Beklommnes Herz, dich, das zu viel verloren?
Wo sind die Stunden, überschnell verflüchtigt?
Vergebens war das Schönste dir erkoren!
Trüb ist der Geist, verworren das Beginnen;
Die hehre Welt, wie schwindet sie den Sinnen!

Da schwebt hervor Musik in Engelsschwingen,
Verflicht zu Millionen Tön um Töne,
Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen,
Zu überfüllen ihn mit ewger Schöne:
Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen
Den Götterwert der Töne wie der Tränen

Und so das Herz erleichtert merkt behende,
Dass es noch lebt und schlägt und möchte schlagen,
Zum reinsten Dank der überreichen Spende
Sich selbst erwidernd willig darzutragen.
Da fühlte sich - o dass es ewig bliebe! -
Das Doppelglück der Töne wie der Liebe.

Johann Wolfgang von Goethe

Ich wünsche allen einen schönen Tag!


Sieghard antwortete am 04.11.00 (14:38):


Chaos oder besser Teil-Chaos
gab es wohl schon immer.
Dazu die mittelalterliche
Stimme eines prominenten,
sendungsbewussten Dichters:

--------------------------------------

Ich h�rte ein wazzer diezen
und sach die vische fliezen,
ich sach swaz in der welte was,
velt walt loup r�r unde gras.
swaz kriuchet unde fliuget
und bein zer erde biuget,
daz sach ich, unde sage iu daz:
der keinez lebet �ne haz.
daz wilt und daz gewürme
die str�tent starke stürme,
sam tuont die vogel under in;
wan daz si habent einen sin:
sie d�hten sich zu nihte,
si enschüefen starc gerihte.
sie kiesent künege unde reht,
si setzent h�rren unde kneht.
s� w� dir, tiuschiu zunge,
wie st�t d�n ordenunge!
daz n� diu mugge ir künec h�t,
und daz d�n �re als� zerg�t.
bek�r� dich, bek�re.
die cirkel sint ze h�re,
die armen künege dringent dich:
Philippe setze en weisen �f,
und heiz si treten hinder sich.

[Walther v.d. Vogelweide]


Heidi Lachnitt antwortete am 04.11.00 (21:15):

Nicht ganz so alt - aus einem Schul-Lesebuch von 1908:
(Viktor Blüthgen)

Des Zeisigs Traum

Es war ein niedlich Zeiselein,
das träumte nachts im Mondenschein,
es säh am Himmel Stern bei Stern,
davon wär jeder ein Hirsekern.
Und als es geflogen himmelauf,
da pickte das Zeislein die Sterne auf.
Piep -
wie war das im Traume so lieb!

Und als die Sonne beschien den Baum,
erwachte das Zeislein von seinem Traum.
Es wetzte das Schnäblein her und hin
und sprach verwundert in seinem Sinn:
"Nun hab ich gepickt die ganze Nacht
und bin doch so hungrig aufgewacht.
Ping -
das ist mir ein närrisches Ding!"

:-)


Gerlinde antwortete am 05.11.00 (09:58):

Sie war ein Blümlein


Sie war ein Blümlein, hübsch und fein,
hell aufgeblüht im Sonnenschein.
Er war ein junger Schmetterling,
der selig an der Blume hing.
Oft kam ein Bienlein mit Gebrumm
und nascht und säuselt da herum;
oft kroch ein Käfer kribbelkrab
am hübschen Blümlein auf und ab.
Ach Gott, wie das dem Schmetterling
so schmerzlich durch die Seele ging.
Doch was am meisten ihn entsetzt?
das allerschlimmste kam zuletzt:
Ein alter Esel fraß die ganze
von ihm so heiß geliebte Pflanze.




Wilhelm Busch

Einen humorvollen, schönen Sonntag wünscht Euch, Gerlinde


Wolfgang antwortete am 05.11.00 (11:50):

Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne,
Die liebt' ich einst alle in Liebeswonne.
Ich lieb sie nicht mehr, ich liebe alleine
Die Kleine, die Feine, die Reine, die Eine;
Sie selber, aller Liebe Bronne,
Ist Rose und Lilie und Taube und Sonne.

(Heinrich Heine, Lyrisches Intermezzo)


Heidi Lachnitt antwortete am 05.11.00 (19:15):

aus dem gleichen Lesebuch wie oben: :-)) Für Väter mit Buben oder Großväter mit Enkeln

Grosses Geheimnis

Es sitzt ein Knab am Bach
und sieht den Wellen nach.
Sie sprudeln und sie rauschen,
er denkt: "Ich muss doch lauschen,
was all die Wellen plaudern."
Und's Knäblein ohne Zaudern,
es bückt sich zu dem Quellchen;
da kommt ganz flink ein Wellchen
gesprudelt und gerauscht.
Was hat es da gelauscht!
Doch kann es nichts verstehen,
und ehe sich's versehen,
bückt es sich tiefer hin -
und liegt im Wasser drin.
Zum Glücke war der Bach
ganz hell und klar und flach.
Schnell sprang derKnab heraus
und sah ganz lustig aus.
Und als ich ihn gefragt,
was ihm der Bach gesagt,
sprach er nach kurzem Zaudern:
"Ihr dürft es keinem plaudern;
ein groß Geheimnis ist,
was er mir sagte, wisst!
Er sagte: - Wisst ihr was? -
Das Wasser, das macht nass!"
(Robert Reinick)


Heidi Lachnitt antwortete am 05.11.00 (19:20):

und ein letztes schööönes aus dem Schulbuch, dass übrigens für das 2. bis 5.Schuljahr gedacht war!

Vergißmeinicht

Es blüht ein schönes Blümelein
auf unsrer grünen Au,
sein Aug ist wie der Himmel
so heiter und so blau.


Es weiß nicht viel zu reden,
und alles, was es spricht,
ist immer nur dasselbe,
ist nur: Vergiß mein nicht!

Wenn ich zwei �uglein sehe
so heiter und so blau,
so denk ich an mein Blümchen
auf unsrer grünen Au.

Da kann ich auch nicht reden,
und nur mein Herze spricht,
so bange nur, so leise,
und nur: Vergiß mein nicht!
(August Heinrich Hoffmann von Fallersleben)

:-)) Schönen Wochenanfang wünsche ich! :-))


Heidi Lachnitt antwortete am 06.11.00 (11:56):

2x Raimund Bohe (Anspruch auf Leben)

Gegenlicht

Manchmal tritt
aus Möglichkeiten
schön als wäre es unmöglich
das Selbstverständliche

Buschige Nachtzweige
Sterne auf der Fahrt durch Herbstwolken
ihr gebt mir Auskunft
von der Liebe

Und sie bestätigt euch
schön wird sie wie ihr

****

In Sichtweite

So viele Teilwahrheiten
und nun von allem
die andere Hälfte
nur weil wir
einander sehen


Sieghard antwortete am 06.11.00 (15:16):

RMR:

O HERR, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.

DENN wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.


Heidi Lachnitt antwortete am 06.11.00 (23:05):


Abendgebet

Der Tod ist selbstverständlich
selbstverständlicher noch als die Geburt
denn nicht jeder wird geboren
aber jeder der geboren wurde stirbt
- früher oder später
Wichtig ist, was dazwischen liegt
das Leben und was wir daraus machen

Darum o Herr, gib jedem sein eigenes Leben
mit Liebe, Verstand und Sinn
und lass die Frucht unseres Lebens
zur Süße reifen
damit uns der Tod nicht sauer wird


Heidi Lachnitt antwortete am 07.11.00 (08:49):

Raimund Bohe (Anspruch auf Leben)

Signalbäume

An hellen Kupferrinden
entzünden sich langsam Signale
Licht zieht in das
Beieinander von Wipfeln

Höhenströme
gehen durch Kiefern
In deiner Abwesenheit
verfangen sich die Zeichen
und unerkannt
versprüht alles Leuchten

Tannenkühle
aus gerefften Fahnen
Deine Gegenwart
ist Echo allen Signalen
und aus der fernsten Nähe
will nichts Geheimnis bleiben

Licht zieht in das
Beieinander von Wipfeln


Sieghard antwortete am 07.11.00 (09:10):

"Darum o Herr, gib jedem sein eigenes Leben
mit Liebe, Verstand und Sinn
und lass die Frucht unseres Lebens
zur Süße reifen
damit uns der Tod nicht sauer wird"

Wie wunderbar du den RMR verwandelt hast.
Da ist auch deine Lebenserfahrung drin.

--------------------------------------

Klein ist die Spanne der Zeit,
durch die unsre Jahre gleiten.
Kurz bemessen die Frist,
durch die unsre Tage schreiten.

--------------------------------------

allen einen guten 7. November


Friedgard antwortete am 07.11.00 (17:16):

Aus "Balladen von Samstag auf Sonntag" von Peter Maiwald

DIE LIEBENDEN

Was hast du, Anna?
Du atmest so sehr.
Aber nein, Liebster.
Ich komme vom Kaufen.
Es war viel zu laufen.
Es ist die Tasche, Liebster.
Es ist die Tasche
schwer.

Was hast du, Anna?
Die Hand ist so kalt.
Aber nein, Liebster.
Es ist nur das Wetter.
Es fallen die Blätter.
Es ist der Winter, Liebster.
Es ist der Winter
bald.

Was hast du, Anna?
Dein Haar ist so grau.
Aber nein, Liebster.
Ich backe nur Kuchen.
Ich backe nur Kuchen.
Es ist das Mehr, Liebster.
Es ist das Mehl
schau.


Heidi Lachnitt antwortete am 07.11.00 (22:06):

Guten Abend :-)) Eigentlich ein Morgengedicht

Claus D.Bürger (Selbst die Schatten tragen ihre Glut)

Ein Sonnenstrahl zwinkert
Du blinzelst Du reckst dich
wirst wach und streckst dich
Du zwinkerst zurück
bist voller Glück
voll heiterem Sinn
träumst von Freude
ab Tagesbeginn

Die Sonne sie brennt dich
die Umwelt sie nennt dich
den Guten - den Bösen
Du mußt es erleben
mußt vieles ertragen
Du kannst es doch wagen
Du selber zu sein

Ein Sonnenschein winkt dir
der Wiederschein blinkt dir
ins Auge hinein
du blinzelst - bedeckst dich
wirst müde und streckst dich
bist voller Glück
voll heiterem Sinn
erfüllten sich Träume
seit Tagesbeginn


Heidi Lachnitt antwortete am 07.11.00 (22:12):

aber jetzt zur Nacht: von Peter Klusen (s.o.)

dort

bald wird es nacht
und hoch am himmel
fährt der große wagen vor

laß uns nicht länger säumen
es wird zeit
einzusteigen

reserviert sind unsere plätze
schon lange
und herrlich wird es sein

zu reisen
dort
wo keine grenzen sind


Ich wünsche allen schöne Träume! :-))


Sieghard antwortete am 07.11.00 (22:28):

Ballade
von innen nach außen

mein Atem ist schwer,
meine Hand ist kalt,
mein Haar ist grau,

ich nicht!

die schwere Tasche,
der baldige Winter,
das weiße Mehl,

die sind es!

----------------------------

nichts für ungut
Herr Maiwald,
so geht's halt!


Heidi Lachnitt antwortete am 07.11.00 (22:38):

und nochmal umgedreht :-))

Mein Atem ist schwer, Liebster
weil das Glück, Dich zu sehen
mir die Brust einengt

Meine Hand ist kalt, Liebster
der Reif liegt wie Mehl auf der Straße
bald ist Dezember

Meine Tasche ist leer, Liebster
weil ich, außer Deiner Liebe
nichts brauche

Das Grau meiner Haare, Liebster
wandelt die Sonne in leuchtendes Gold
für Dich

hl


Evelyn antwortete am 07.11.00 (22:57):

Liebe Heidi, Du schreibst wunder-wunderschöne Liebesgedichte
leicht,hell und zärtlich----noch immer.Es ist schön,sie zu lesen.Evelyn


Evelyn antwortete am 07.11.00 (23:22):

Liebe Heidi, Du schreibst öfter wunderschöne Liebesgedichte
leicht,hell und zärtlich----noch immer.Es ist schön,sie zu lesen.Evelyn


Heidi Lachnitt antwortete am 07.11.00 (23:33):

:-)) Danke! :-))


Sieghard antwortete am 08.11.00 (08:52):

Brandmauern

Ich grüße Berlin, indem ich
dreimal meine Stirn an eine
der Brandmauern dreimal schlage.

Makellos ausgesägte,
wirft sie den Schatten dorthin,
wo früher dein Grundstück stand.

Persil und sein Blau überlebten
auf einer Mauer nach Norden;
nun schneit es, was gar nichts beweist.

Schwarz ohne Brandmauerinschrift
kommt mir die Mauer entgegen,
blickt sie mir über die Schulter.

Ein einziger Schneeball haftet.
Ein Junge warf ihn, weil etwas
tief in dem Jungen los war.

[Günter Grass]

------------------------------------------------------

Ich kenne Berliner, die für Grass et-
was übrig haben. Diesen Text hat
Grass vor 1985 gemacht. Der ist
nostalgisch, denkt der Nichtberliner.


Heidi Lachnitt antwortete am 08.11.00 (21:14):

Die Mauer aus Stein
gibt es nicht mehr
Die Mauer in den Herzen der Menschen
ist stärker als je zuvor
gebaut aus

aus Geldgiersteinen
aus Egoismussteinen
aus Dummheitssteinen
aus Intoleranzsteinen
aus Machtsteinen

sie ist groß diese Mauer
und lang
sie zieht sich durch die Herzen
der ganzen Welt
und sperrt die Liebe aus

ich wünschte mir Sprengstoff,
genug um die Mauer
in tausend Stücke zu sprengen
gäbe es nicht die Kinder in dieser Welt
sie könnten von einem Mauerstück
getroffen werden

hl


Gerlinde antwortete am 08.11.00 (23:04):

Die eheliche Pflicht

Als einst ein alter Herr ein junges Mädchen freite,
und ihm sein schwacher Leib nichts Gutes prophezeite,
sprach er zu ihr:"Mein Kind wird sich ja wohl bequemen
und meine Ehepflicht quartalweis`von mir nehmen."
Ihr Widerfragen war, da sie sich kaum bedacht:
"Wieviel Quartale, sprecht, gibt`s denn in einer Nacht?"



J.F.Riederer (1678-1734)



In diesem Sinne, allen eine gute Nacht:-))


Heidi Lachnitt antwortete am 09.11.00 (00:32):

Mitternacht vorbei - Zeit für Nietzsche

O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
"Ich schlief, ich schlief -,
aus tiefen Traum bin ich erwacht:-
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust- tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit-,
- will tiefe, tiefe Ewigkeit!"

Ich grüße alle Schlaflosen und wünsche den anderen einen guten Schlaf! :-))


Wolfgang antwortete am 09.11.00 (01:04):

Zum 9. November...

Es geht ein Sehnen... (von Hugo Carl Jüngst)

Es geht ein Sehnen durch die Welt,
Ein Schrei nach Licht,
Das wie ein Blitz aus dunklem Zelt
Die Nacht durchbricht.

Du Morgenschein nach öder Nacht
Im Knechtschaftsbann -
Mich faßt ein Ahnen deiner Pracht...
Wann brichst du an?

Und schlägst der Liebe Lichtgewand
Um unser Sein?
Und führst uns in das Sehnsuchtsland
Des Friedens ein?


Heidi Lachnitt antwortete am 09.11.00 (08:08):

Lebendige Antwort (Catarina Carsten)

Auf dem Friedhof P�re Lachaise
hockt der Tod
mit angezogenen Beinen
auf grauen Steingevierten.

Auf dem Friedhof P�re Lachaise
blühen versteinerte Rosen
auf verlassenen Gräbern
dornröschenstarr

Auf dem Friedhof P�re Lachaise
trägt ein Vater
sein müdes Kind spazieren,
im Wiegeschritt

Das Kind kann noch nicht sprechen,
nur schauen.
Es schaut auf die schweigenden Steine
und antwortet ihnen.

mit einem lebendigen Schlaf.


Sieghard antwortete am 09.11.00 (08:48):


Schön, wie das Mauer-Motiv von Dir
verarbeitet wurde. Mauer ist meistens
was Schlechtes, aber manchmal kann
eine Mauer auch gut sein, dann näm-
lich, wenn sie Schutz bieten soll, gegen
die vielen Enttäuschungen, Verletzun-
gen und Bosheiten, die das Leben ge-
bracht hat und noch bringen wird. Wer
seine Mauer trotzdem offen halten
kann, ist gut dran.

------------------------------------

Wandlung

plötzlich wird der fremde mann
hell und heiter
sieh er kann
seine leiter
an den himmel lehnen
und den schönen
auch bizarren
wolkenfrauen
dinge sagen
unverständlich
selbst für dich

[Peter Härtling]


Friedgard antwortete am 09.11.00 (09:18):

Aus: "Seid nicht so sicher" von Marie Luise von Kaschnitz

Nicht gesagt

Nicht gesagt
Was von der Sonne zu sagen gewesen wäre
Und vom Blitz nicht das einzig richtige
Geschweige denn von der Liebe.
Versuche. Gesuche. Mißlungen
Ungenaue Beschreibung

Weggelassen das Morgenrot
Nicht gesprochen vom Sämann
Und nur am Rande vermerkt
Den Hahnenfuß und das Veilchen.

Euch nicht den Rücken gestärkt
Mit ewiger Seligkeit
Der Verfall nicht geleugnet
Und nicht die Verzweiflung

Den Teufel nicht an die Wand
Weil ich nicht an ihn glaube
Gott nicht gelobt
Aber wer bin ich daß


Sieghard antwortete am 09.11.00 (18:25):

nicht gesagt,
vom Jenseits konnte sie
nichts sagen
sie verwahrte sich gegen
die üblichen einengenden
Vorstellungen.
Zweifel, ob überhaupt
auch vom Diesseits
etwas Gültiges gesagt
werden kann
werden jetzt laut.
nicht gesagt
nicht aussagbar,
verbalisierbar.
Unsere Sagemöglichkeit
ist zu 90% nonverbal
im täglichen Leben
dominiert
Körpersprache.
Hier zumindest geht wohl
doch was Gültiges.
Im Forum gibt es
auch manch
Zwischenzeiliges.
.
.


Gerlinde antwortete am 09.11.00 (22:42):



Mein Weltenstück




Vieltausendmal derselbe Blick
durchs Fenster in mein Weltenstück.
Ein Apfelbaum im blassen Grün,
und drüber tausendfaches Blühn,
so an den Himmel angelehnt,
ein Wolkenband, weit ausgedehnt.....
der Kinder Nachmittagsgeschrei,
als ob die Welt nur Kindheit sei;
ein Wagen knarrt, ein Alter steht
und wartet bis der Tag vergeht.
Leicht aus dem Schornstein auf dem Dach
schwebt unser Rauch den Wolken nach....
Die Hühner fressen, Hähne krähn...
ja, lauter fremde Menschen gehn
im Sonnenschein, jahrein, jahraus,
vorbei an unserm alten Haus.
Die Wäsche flattert auf dem Strick
und drüber träumt ein Mensch vom Glück,
im Keller weint ein armer Mann,
weil er kein Lied mehr singen kann...
So ist es ungefähr bei Tag,
und jeder neue Glockenschlag
bringt tausendmal denselben Blick
durchs Fenster in mein Weltenstück.





Thomas Bernhard


Heidi Lachnitt antwortete am 09.11.00 (22:45):

Widerstände (Raimund Bohe in "Anspruch auf Leben"

Viele Wege fragen nicht
warum du sie eingeschlagen hast
sie lassen dich durch
mit ungenauen Gedanken
und du kommst nirgends an
Nicht auf dem Feldweg
im grellen Licht
Nicht elektronisch gesteuert
in der grünen Welle

Manche Wege verlegen dir
die vorläufige Absicht
mit Widerständen aus
Gegenwind bei Schnee und Nebel
oder weil sie schön sind
Sie fangen an neben dir zu gehen
sie drängen dich ab in die Richtung
an die du glaubst
und daß du unbegleitet warst
kannst du nicht verbergen

Alle Wege die mich erkennen
verkünden was ich schon weiß
daß ich ankomme
unvorstellbar vorstellbare
Ankunft


Heidi Lachnitt antwortete am 09.11.00 (22:54):

Nocheinmal Raimund Bohe

Überm Waldboden

Nicht bloß erdacht
sichtbar und greifbar zeigt sich
was wir begonnen haben zu glauben

In nächster Nähe
aufgeladen von Sonnenglanz
verzweigen Farne ihr Maßwerk
Säulen zeigen die Himmelshöhe
wachsen hinaus in den Weltraum
und Buchengrün hält den
Schub der Stämme an

Die Welt verschenkt Glück
und jeden Gedanken
sie entwirft uns damit
wir sie entwerfen
damit es nicht fehlt
an Freude und Andacht

Damit das Leben erkennbar bleibt
neben soviel Spuren von Irrtum


Heidi Lachnitt antwortete am 09.11.00 (23:45):

Bevor der 9. November zu Ende geht

Mascha Kal�ko


Dunkles Mädchen eines fremden Stammes
Tief im Dschungel dieser fremden Stadt,
Deiner Augen schwarzverhangne Trauer
Sagt mir, was dein Herz gelitten hat

Immer möchte ich dich leise fragen:
Weißt du, daß wir heimlich Schwestern sind?
Du, des Kongo dunkelbraune Tochter,
Ich, Europas blasses Judenkind.

Vor der Schmach, die Abkunft zu verstecken,
Schützt dich, allen sichtbar, deine Haut.
- Vor der andern Haß, da sie entdecken
Daß sie dir "versehentlich" vertraut.


Heidi Lachnitt antwortete am 10.11.00 (00:39):

Nachtgedanken

Nachtgedanken, schwarze Gedanken
tiefschwarz und bitter
wie Caf�

ihr fahrt in meinem Kopf Karusell
immer im Kreis
tut mir weh

Schweigen hier draußen und
in meinem Innern
Grabesstille

hl


Heidi Lachnitt antwortete am 10.11.00 (02:15):

Bald ist Morgen!

Ein neuer Tag

Der Himmel
hat sein schwarzes Tuch abgelegt,
den blauen Morgenmantel angezogen,
er blinzelt und
reibt sich die Sterne aus den Augen.
Die Sonne wärmt den Morgencaf�,
ein neuer Tag beginnt:
ein neues Lied!

hl


Guten Morgen! :-))


Heidi Lachnitt antwortete am 10.11.00 (07:35):

Zum Tagesanfang Rilke:

Starker Stern, der nicht den Beistand braucht,
den die Nacht den andern mag gewähren,
die erst dunkeln muß, daß sie sich klären.
Stern, der schon vollendet, untertaucht,

wenn Gestirne ihren Gang beginnen
durch die langsam aufgetane Nacht.
Großer Stern der Liebespriesterinnen,
der, von eigenem Gefühl entfacht,

bis zuletzt verklärt und nie verkohlend,
niedersinkt, wohin die Sonne sank:
tausendfachen Aufgang überholend
mit dem reinen Untergang.

Draußen gibt es einen "Provence"-Himmel, milchig blau mit rosanen Wolkentupfen. Ich wünsche allen einen schönen klaren Herbsttag. :-)


Heidi Lachnitt antwortete am 10.11.00 (20:54):

Abend

Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.

Rainer Maria Rilke


Heidi Lachnitt antwortete am 10.11.00 (21:00):

Wenn die Uhren so nah
wie im eigenen Herzen schlagen
und die Dinge mit zagen
Stimmen sich fragen:
Bist du da? -;

dann bin ich nicht der, der am Morgen erwacht,
einen Namen schenkt mir die Nacht,
den keiner, den ich am Tage sprach,
ohne tiefes Fürchten erführe -


Jede Türe
in mir gibt nach...

Und da weiß ich, daß nichts vergeht,
keine Geste und kein Gebet
(dazu sind die Dinge zu schwer),
meine ganze Kindheit steht
immer um mich her.
Niemals bin ich allein.
Viele, die vor mir lebten
und fort von mir strebten,
webten,
webten
an meinem Sein.

Und setz ich mich zu dir her
und sage dir leise: Ich litt -
hörst du?

Wer weiß wer
murmelt es mit.

Rainer Maria Rilke


Heidi Lachnitt antwortete am 10.11.00 (22:03):

Bin ich eigentlich alleine hier??? :-))


Heidi Lachnitt antwortete am 10.11.00 (22:49):

9. und letztes in Reihenfolge

Catarina Carsten (Meine Hoffnung hat Niederlagen)

In Ferner Zeit

Meine Ohnmacht,
sprachlos.

Meine Schwäche,
ratlos.

Meine Geduld,
endlos.

In ferner Zeit
wird man die Spur sehn:

Wasser im Stein.


Ricardo antwortete am 10.11.00 (23:02):

Liebe Heidi
Du schreibst soviele schöne Gedichte.
Ich werd mir was einfallen lassen.
Gib mir Zeit bis morgen.


Sieghard antwortete am 11.11.00 (09:27):

Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind

Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind,
sein Ross, das trug ihn fort geschwind.
Sankt Martin ritt mit leichtem Mut,
sein Mantel deckt ihn warm und gut.

Im Schnee da saß ein armer Mann,
hatt' Kleider nicht, hatt' Lumpen an.
"O helft mir doch in meiner Not,
sonst ist der bittre Frost mein Tod!"

Sankt Martin zieht die Zügel an,
das Ross steht still beim armen Mann.
Sankt Martin mit dem Schwerte teilt
den warmen Mantel unverweilt.

Sankt Martin gibt den halben still,
der Bettler rasch ihm danken will.
Sankt Martin aber ritt in Eil
hinweg mit seinem Mantelteil.

[unbekannter Verfasser]


Koloman Stumpfögger antwortete am 11.11.00 (11:17):

Herbstgewitter

Berstend zuckt der Blitz
aus schwarzen Wolken
über den Hang
spät im November
grollt ein Gewitter

Die Blätter stieben
der Regen prasselt
es wirbelt der Schnee
alle Fenster erzittern
vom gewaltigen Donnerschlag

Es flattert ein Tuch
es torkelt ein Schirm
es gießt in Strömen
entsetzt flieht der Kater
klitschnass ins Haus

kNs


Koloman Stumpfögger antwortete am 11.11.00 (11:20):

Wildgänse

Wo sind sie nur geblieben
Scharen flogen längst nicht mehr
im Kiel unter dem Himmel

nicht im vergessenen Lied
mit schrillem Schrei nach Norden
und nicht seit frühen Jahren

Jäh vernehme ich gebannt
das wohlvertraute Sirren
einer grauen Gänseschar

Unter herbstschweren Wolken
ziehen Wildgänse im Kiel
in ein verzaubertes Land

kNs


Gerlinde antwortete am 11.11.00 (11:26):

Schön, Koloman! Vor einigen Jahren war ich am See Genezareth und plötzlich zogen am Abendhimmel, tausende Zugvögel ins Land. Der Himmel riss für Sekunden nochmals auf, und die letzten Sonnenstrahlen gaben den Vögeln eine herrliche Kulisse.
Liebe Grüße, Gerlinde


Koloman Stumpfögger antwortete am 11.11.00 (11:27):

Wegzeiger

in schwarzen Furchen
krächzt im fahlen Sonnenlicht
der schwere Vogel

im Dunst verschleiert
auf dem Schwengel zieht der Rabe
nicht einen Tropfen

schöpft keinmal Wasser
wischen keinen kahlen Strauch
dunkle Schwingen blank

Blätter würzen herb
die Eisluft mit Bitternuß
und decken Gräber

der Brunnenschwengel
zwischen Himmel und Erde
weist den Weg nach Haus

kNs


Heidi Lachnitt antwortete am 11.11.00 (22:07):

Alltäglichkeiten?

das Radio bringt leichte Morgenmelodien
beim Zeitunglesen summst du leise mit
die Nachrichten - du hörst:
"... eingeschlossen im brennenden Zug.."
und mit Gänsehaut auf dem Rücken
überlegst du schnell -
ob nicht doch einer der Freunde?.....
dann das Wetter und - leichte Morgenmelodien
wie leicht vergisst's sich doch dabei

hl


Gerlinde antwortete am 11.11.00 (22:23):



November


Im Kirchhof brennt das stille Licht,
die Toten ruhen, weine nicht!
Geborgen in der Erd, vergeht
der Keim, umdaß er aufersteht.
Martini Reif, Andreä Schnee,
die Magd trägt aus ihr süßes Weh.
Vom Hochwald dröhnt der Büchsenhall,
es stampft das Vieh im warmen Stall,
der Nebel hüllt das stille Land,
die Kerze ist herabgebrannt.
Laß frosten, laß vergehn, laß schnein!
Der Mensch muß wach und einsam sein.



J.Weinheber


Heidi Lachnitt antwortete am 11.11.00 (22:24):

Alltäglichkeiten? 2.Vers

Katastrophen zum satt werden
Gewalttaten im Schlußverkauf
wer bringt die schnellste Meldung
wer das blutigste Bild?
und natürlich:
eine weinende Mutter, ein schreiendes Kind
vom TV auf den Frühstückstisch serviert
- ein bißchen Werbung zwischendurch
sorgt dafür
dass dir der Appetit nicht vergeht

hl


Heidi Lachnitt antwortete am 11.11.00 (22:39):

Alltäglichkeiten? 3.Vers

doch auch - zum Trost
heute 10 Minuten Zeit gehabt
einem Menschen zuzuhören
ein Lächeln bekommen
ein lieber Brief in der Post
ein schönes Gedicht gelesen
ein Kinderlachen gehört
und die Sonne in meinem Herzen
scheint immer noch

hl


Sieghard antwortete am 12.11.00 (11:57):

.
Börries von Münchhausen (1874-1945)
Ballade vom Brennesselbusch
gekürzt

Liebe fragte Liebe: "Was ist noch nicht mein?"
Sprach zur Liebe Liebe: "Alles, alles dein!"
Liebe küsste Liebe: "Liebste, liebst du mich?"
Küsste Liebe Liebe: "Ewig, ewiglich!" - -
...
Brennettelbusch,
Brennettelbusch so kleene,
Wat steihst du so alleene!
Brennettelbusch,
Wo ist myn Tyd 'eblewen,
Un wo ist myn Maleen?
...
Liebe fragte Liebe: "Sag, weshalb du weinst?"
Raunte Lieb zur Liebe: "Heut ist nicht mehr einst!"
Liebe klagte Liebe: "Ist's nicht wie vorher?"
Sprach zur Liebe Liebe: "Nimmer - nimmermehr."
.
.


Friedgard antwortete am 12.11.00 (15:03):

Aus: "Seid nicht so sicher" von Marie Luise Kaschnitz

AUFERSTEHUNG

Manchmal stehen wir auf
Stehen wir zur Auferstehung auf
Mitten am Tage
Mit unserem lebendigen Haar
Mit unserer atmenden Haut.

Nur das Gewohnte ist um uns,
Keine Fata Morgana von Palmen
Mit weidenden Löwen
Und sanften Wölfen.

Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.

Und dennoch leicht
Und dennoch unverwundbar
Geordnet in geheimnisvolle Ordnung
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.


Evelyn antwortete am 12.11.00 (17:13):


Grüss Euch -die Zeit rast-wie schnell, merkt man am Forum,das nach einigen Tagen Schirmabstinenz fast überquillt von neuen Gedanken und Gedichten.Hier Gedanken von mir zu Heidis und Sieghards längst überholten "Mauern" (8 u.9. 11)

Damals und Heute

Wände
Mauern
sich anzulehnen
kühl
vertraut
Heimat zu nennen -
der Krieg
nahm sie uns
der Krieg
in dem wir damals
uns Fremde waren.

Wände
Mauern
sich anzulehnen
kühl
vertraut
Heimat zu nennen-
ein Krieg
nahm sie uns
ein Krieg
durch den wir heute
uns Fremde wurden.

viele Grüsse - Evelyn


Evelyn antwortete am 12.11.00 (17:44):

Nachtrag: voriges Gedicht könnte missverstanden werden.
Es geht darin um Haus- Mauern und um zwei Menschen. Nicht um trennende Wände.Danke. Evelyn


Sieghard antwortete am 12.11.00 (17:46):

.
Ja,
Welt geht normal weiter
Sohn kommt zu Besuch
Mutter wird wieder gesund
Juden werden im Moment nicht verfolgt
ein Schmerz hört auf
erkenne meinen Fehler
ab heute unabhängig von dem und dem
und und und
Auferstehung mitten am Tag
Freude mit großer Gewissheit
diesseits, jenseits
das ist denn doch gesagt
Ja
.
.


Heidi Lachnitt antwortete am 13.11.00 (08:54):

"Mauern - Auferstehung - Liebe fragt Liebe" ??


Lücken

meine Mauern sind alt
die ersten Steine
habe ich als Kind gesetzt
da war sie noch niedrig die Mauer
ich war ja noch klein

meine Mauern sind alt
in meiner Jugend habe ich manchmal
ein Guckloch freigelassen
um nach der Liebe
Ausschau zu halten

meine Mauern sind alt
habe die Liebe
auch als Erwachsene selten gefunden
vielleicht waren die Mauerlücken
zu klein?

meine Mauern sind alt
der Mörtel ist rissig
und viele Steine sind herausgefallen
lassen Liebe heraus und Liebe hinein
Auferstehung

hl

Guten Morgen und eine schönen Wochenanfang wünsche ich


Sieghard antwortete am 13.11.00 (10:10):

Meditation zu Psalm 100

Vieles kann man befehlen -
Freude nicht.

Vieles kann man erzwingen -
Glück nicht.

Vieles kann man lehren -
Herzensjubel nicht.
Auch Gefühle sind heute
Marktware, dosiert
in Pillenform oder in Spritzen.

Aber es bleibt ein Geheimnis,
Geschenk der Verborgenheit,
unwiderlegbar - unbeweisbar,
unverfügbar, unverlierbar.

Das Geheimnis - dass Gott Gott ist,
und dass dieser Gott unser Gott ist.

Geheimnis der Freude,
Jubel der Welt,
Erfahrung des Herzens,
Dank aller Sinne,
Lobgesang alles Lebendigen ...

Singet, jetzt, weil er da ist,
sich zu uns neigt
und uns trägt.
Kommet, jetzt, tretet ein,
denn für euch ist er Gott,
und erfahret, was Menschsein heißt:

Jubel vor ihm.
.
---------------------------------------
.
Ps 100
fiel mir ein
in der Freude über der Kaschnitz
"Auferstehung"
und manchen Grund
dazu
im Alltag
meinem Schöpfer verdankt
.
.
Liebe kommt
Mauerstück fällt
.
.


Wolfgang antwortete am 13.11.00 (22:01):

Sie schläft (von Kurt Tucholsky)

Morgens, vom letzten Schlaf ein Stück,
nimm mich ein bißchen mit -
auf deinem Traumboot zu gleiten ist Glück -
Die Zeituhr geht ihren harten Schritt...
pick-pack...

"Sie schläft mit ihm" ist ein gutes Wort.
Im Schlaf fließt das Dunkle zusammen.
Zwei sind keins. Es knistern die kleinen Flammen,
aber dein Atem fächelt sie fort.
Ich bin aus der Welt. Ich will nie wieder in sie zurück -
jetzt, wo du nicht bist, bist du ganz mein.
Morgens, im letzten Schlummer ein Stück,
kann ich dein Gefährte sein.


Friedgard antwortete am 14.11.00 (08:51):

Kleine Strophen von der Unsterblichkeit
von Carl Zuckmayer

Dauer, Zeit und Raum
Sind wie Brandungsschaum,
Der verweht, indes die Flut sich wendet -
Doch das kleinste Sein
Schließt ein Wesen ein,
Das von Anfang ist und niemals endet.

Der du dich besinnst,
Ob du einst verrinnst
Gleich dem Sand und gleich dem Regentropfen -
Denk, daß Meer und Land,
Wasser, Fels und Sand
Steter sind als deines Herzens Klopfen.

Nur was in dir brennt,
Was kein Wort benennt,
Dauert über der Vernichtung Flammen.
Wärst du nicht geweiht
Zur Unsterblichkeit -
Bräch die Schöpfung in sich selbst zusammen.


Sieghard antwortete am 14.11.00 (13:37):

Wenn man fragt, wie groß die Seele
sei, so soll man wissen, dass Himmel
und Erde nicht auszufüllen vermögen
ihre Größe, sondern nur Gott selbst.

Die Seele hat nämlich etwas in sich,
ein Fünklein übersinnlicher Erkenntnis,
das nimmer erlischt, und in dies
Fünklein als in den obersten Teil
des Grundes verlegt man die Vorstel-
lungskraft der Seele.

Der Mensch, ja ich, stand mit Gott vor
Zeit und Welt, ja, war einbeschlossen
in die ewige Gottheit, noch ehedem sie
Gott war. Mit ihm, mit mir zugleich hat
Gott geschaffen und schafft er immerdar.
An mir erst war er Gott. Und wäre ich
nicht, er wäre sowenig Gott als ich ich bin.

[Meister Eckhart]
.


Gerlinde antwortete am 14.11.00 (14:39):

Mein Stern



Am Abend, wenn es dunkelt,
tritt Stern für Stern hervor.
Das glitzert und das funkelt
aus dunklem Himmelstor.
Die Fürsten sind`s im Reigen,
die hier zuerst sich zeigen, dann naht des Volkes Chor.


Und tiefer wird das Dunkeln,
bald wird es völlig Nacht.
Da wird ein Stern zu funkeln
beginnen, fern und sacht.
Er wird ganz still beginnen,
nicht lodern von den Zinnen
hellauf in Sirius-Pracht.


Er wird zu leuchten wagen,
ganz still, mit sondrem Schein.
Die Leute werden sagen:
der Stern ist fern und klein!
Er aber sagt den Leuten:
nie wollt ich mehr bedeuten!
Laßt, wie ich bin, mich sein!

Der Stern, von dem ich singe,
ist meines Lebens Stern,
und daß ich ihn erringe
liegt in der Hand des Herrn!
Ich pflege meinen Garten
und will geduldig warten,
ob nah er ist, ob fern!


Heidi Lachnitt antwortete am 14.11.00 (15:14):

Ein Bilderbuch von Michael Snunit (aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler) mit Bildern von Na'ama Golomb, Carlsen Verlag

Der Seelenvogel

Tief, tief in uns wohnt die Seele.
Noch niemand hat sie gesehen,
aber jeder weiß, daß es sie gibt.
Und jeder weiß auch, was in ihr ist.

In der Seele,
in ihrer Mitte,
steht ein Vogel
auf einem Bein.
Der Seelenvogel.
Und er fühlt alles,
was wir fühlen.

Wenn uns jemand verletzt,
tobt der Seelenvogel in uns herum;
hin und her, nach allen Seiten,
und alles tut ihm weh.

Wenn uns jemand lieb hat,
macht der Seelenvogel fröhliche Sprünge,
kleine, lustige, vorwärts und rückwärts,
hin und her.

Wenn jemand unseren Namen ruft,
horcht der Seelenvogel auf die Stimme,
weil er wissen will,
ob sie lieb oder böse klingt.

Wenn jemand böse auf uns ist,
macht sich der Seelenvogel ganz klein
und ist still und traurig.

Und wenn uns jemand in den Arm nimmt,
wird der Seelenvogel in uns
größer und größer,
bis er uns fast ganz ausfüllt.
So gut geht es ihm dann.

Ganz tief in uns ist die Seele.
Noch niemand hat sie gesehen,
aber jeder weiß, daß es sie gibt.
Und noch nie,
noch kein einziges Mal, wurde
ein Mensch ohne Seele geboren.
Denn die Seele schlüpft in uns,
wenn wir geboren werden,
und sie verläßt uns nie,
keine Sekunde,
solange wir leben.
So, wie wir auch nicht aufhören zu atmen,
von unserer Geburt bis zu unserem Tod.

Sicher wollt ihr auch wissen,
woraus der Seelenvogel besteht.
Das ist ganz einfach.
Er besteht aus Schubladen.
Diese Schubladen können wir
nicht einfach aufmachen,
denn jede einzelne ist abgeschlossen
und hat ihren eigenen Schlüssel.
Und der Seelenvogel ist der einzige,
der die Schubladen öffnen kann.
Wie?
Auch das ist ganz einfch:
mit seinem Fuß.

Der Seelenvoge steht auf einem Bein.
Das zweite hat er, wenn er ruhig ist,
an den Bauch gezogen.
Mit dem Fuß dreht er den Schlüssel
zu der Schublade um,
die er öffnen will,
zieht am Griff,
und alles, was darin ist,
kommt zum Vorschein.

Und weil alles, was wir fühlen,
eine Schublade hat,
hat der Seelenvogel viele Schubladen.
Es gibt eine Schublade für Freude
und eine für Trauer.
Es gibt eine Schublade für Eifersucht
und eine für Hoffnung.
Es gibt eine Schublade für Enttäuschung
und eine für Verzweiflung.
Es gibt eine Schublade für Geduld
und eine für Ungeduld.
Auch für Haß und Wut und Versöhnung.
Eine Schublade für Faulheit und Leere,
und eine Schublade für die
geheimsten Geheimnisse.
Diese Schublade wird fast nie geöffnet.
Es gibt auch noch andere Schubladen.
Ihr könnt selbst wählen, was drin sein soll.

Manchmal sind wir eifersüchtig,
ohne daß wir es wollen.
Und manchmal machen wir etwas kaputt,
wenn wir eigentlich helfen wollen.
Der Seelenvogel gehorcht uns nicht immer
und bringt uns manchmal
in Schwierigkeiten...

Man kann schon verstehen,
daß die Menschen verschieden sind,
weil sie verschiedene Seelenvögel haben.
Es gibt Vögel,
die jeden Morgen die Schublade
"Freude" aufmachen.
Dann sind die Menschen froh.

Wenn der Vogel
die Schublade "Wut" aufmacht,
ist der Mensch wütend.
Und wenn der Vogel
die Schublade nicht mehr zuschließt,
hört der Mensch nicht auf, wütend zu sein.

Manchmal geht es dem Vogel nicht gut.
Dann macht er böse Schubladen auf.
Geht es dem Vogel gut,
macht er Schubladen auf, die uns guttun.

Manche Leute hören den Seelenvogel oft,
manche hören ihn selten.
Und manche hören ihn
nur einmal in ihrem Leben.
Deshalb ist es gut, wenn wir
auf den Seelenvogel horchen,
der tief, tief in uns ist.
Vielleicht spät abends,
wenn alles still ist.


Luise antwortete am 14.11.00 (15:34):

Habe mit Freude diese Seite gelesen und möchte auch einen kleinen Beitrag
für oder gegen diese dunklen Tage leisten:

Du lieber Gott
und wenn man auch allen Sonnenschein wegstreicht,
so gibt es noch den Mond und die hübschen Sterne
und die Lampe am Winterabend -
es ist so viel schönes Licht in der Welt.

Wilhelm Raabe


Gottfried Benn antwortete am 14.11.00 (20:17):


Kommt-

Kommt, reden wir zusammen
wer redet, ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.

Kommt, sagen wir: die Blauen,
kommt, sagen wir: das Rot,
wir hören, lauschen, schauen
wer redet, ist nicht tot.

Allein in deiner Wüste,
in deinem Gobigraun -
du einsamst, keine Büste,
kein Zwiespruch, keine Fraun,

und schon so nah den Klippen,
du kennst dein schwaches Boot-
kommt, öffnet doch die Lippen,
wer redet, ist nicht tot.


Heidi Lachnitt antwortete am 14.11.00 (20:27):

Von der Seele wieder zurück zur Liebe :-))

Berthold Brecht:

Die Liebenden

Sieh jene Kraniche in großem Bogen!
die Wolken,welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
Aus einem Leben in ein andres Leben.
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
Daß also keines länger hier verweile
Und keines andres sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen
So mag der Wind sie in das Nichts entführen
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
Solange kann sie beide nichts berühren
Solange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin, ihr? - Nirgendhin. - Von wem davon? - Von allen.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. - Und wann werden sie sich trennen? - Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.


Wolfgang antwortete am 14.11.00 (21:57):

Seltsam... fast alle bringen etwas dem November, dem Totenmonat, Angemessenes. Ich mag 's gerne "antizyklisch". :-) - Wenn es draußen schon kalt und ungemütlich ist, und bestimmte Tage aufs Gemüt drücken, warum nicht von lauen Sommernächten träumen... Hier ist ein Text von Ferdinand Freiligrath in der Bearbeitung von Robert Schumann (für eines seiner beiden Venetianischen Lieder):

Wenn durch die Piazetta
die Abendluft weht,
dann weißt du, Ninetta,
Wer wartend hier steht.
Du weißt, wer trotz Schleier
und Maske dich kennt,
Wie Amor die Venus
am Nachtfirmament.

Ein Schifferkleid trag' ich
zur selbigen Zeit,
und zitternd dir sag' ich:
das Boot liegt bereit!
O komm, wo den Mond
noch Wolken umzieh'n,
laß durch die Lagunen,
Liebes, uns flieh'n!


Heidi Lachnitt antwortete am 15.11.00 (14:07):

Lieblingsthema :-)

Sternenglück

zärtliche Weise
hell und leise
- hör ich Dein Liebeslied im Traum

fern von der Welt
dicht am Himmelszelt
- glüht mein Herz im Sternenglück

Sonne erwacht
eh ich's gedacht
- zärtliche Weise hör ich ganz leise...

hl


Friedgard antwortete am 15.11.00 (15:49):

Bekenntnis

Ich sah nie eine Blume an,
Mich dünkt, eh du mein Leben teiltest
Und, wie's in Unrast schier zerrann,
Mit deines Wesens Treue heiltest.

Ich blickte zu den Sternen auf,
Mich dünkt, mit Andacht nie,
Bevor der wild verstörte Lauf
An dir zu Recht und Maß gedieh.

Ich horcht auf keines Menschen Wort,
Und was in mich geklungen,
Mich dünkt, die Wünsche trugen's fort
Gar eigensüchtig, unbezwungen.

Bis deines Herzens stillsten Laut,
Geliebte, ich vernahm;
Wie sich die Eine mir vertraut,
Die Welt ans Herz mir kam.

Joachim v.d.Goltz


Sieghard antwortete am 15.11.00 (18:05):


Zu dem einen venetianischen Lied von
Ferdinand Freiligrath / Robert Schumann
hier, was
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
von Amor hält:

aus
Römische Elegien

...
Amor bleibet ein Schalk, wer ihm vertraut, der ist betrogen.
Heuchelnd kam er zu dir: diesmal nur traue ihm noch!
Folgte Begierde dem Blick, folgte Genuss der Begier.
Ach den Lippen entquillt Fülle des Herzens so leicht.
Mehr als ich ahndete schön, das Glück, es ist mir geworden.
Amor löset, der Schalk, mir den verschlossenen Mund.
...


Heidi Lachnitt antwortete am 15.11.00 (21:34):

bitte nicht persönlich nehmen! :-))



Amor ist männlich...! (und Goethe auch)

Isis und Aphrodite sind meine Schwestern
schaumgeboren und voller Leidenschaft
der Liebe geweiht.. der Zärtlichkeit

nur die Liebe such ich..nicht Begierde und Genuss
meine Lippen öffnen sich nur
zum zärtlichen Kuß

hl

Ich wünsche allen eine gute Nacht :-))


Else Lasker-Schüler antwortete am 16.11.00 (19:54):


Wir Beide

Der Abend weht Sehnen aus Blütensüße,
Und auf den Bergen brennt wie Silberdiamant der Reif,
Und Engelköpfchen gucken überm Himmelstreif,
Und wir Beide sind im Paradiese.

Und uns gehört das ganze bunte Leben,
Das blaue, große Bilderbuch mit Sternen,
Mit Wolkentieren, die sich jagen in den Fernen
Und hei! die Kreiselwinde, die uns drehn und heben!

Der liebe Gott träumt seinen Kindertraum
Vom Paradies - von seinen zwei Gespielen,
Und große Blumen sehn uns an von Dornenstielen...
Die düstere Erde hing noch grün am Baum.


Heidi Lachnitt antwortete am 16.11.00 (20:33):

Detlev von Liliencron

Glückes genug

Wenn sanft du mir im Arme schliefst,
Ich deinen Atem hören konnte,
Im Traum du meinen Namen riefst,
Um deinen Mund ein Lächeln sonnte -
Glückes genug.

Und wenn nach heißem, ernstem Tag
Du mir verscheuchtest schwere Sorgen,
Wenn ich an deinem Herzen lag
Und nicht mehr dachte an ein Morgen -
Glückes genug.


Herbertkarl Huether antwortete am 16.11.00 (20:52):

'Mal was von mir:
herbertkarl huether aka FraterPersevebo

nun schon


klang der sphaeren
umgang im
nichttun


waesserige augen
schauen auf
dich herab

ludert ein
vogel im
gebaelk
anerkannten
missverstehens

finger tasten
dich hinab


kuerzend
das wort
eisiger kaelte


heere
der wilden
jagd

aufgehen in
der hefe des
lebens

drohend noch
der schmauch
des abzugs

hoeren
ohne
verstehen

baeren
der naechte
lassen spuren
an dir zurueck

hkh


Heidi Lachnitt antwortete am 16.11.00 (21:37):

Musik

Was spielst du, Knabe? Durch die Gärten gings
wie viele Schritte, flüsternde Befehle.
Was spielst du, Knabe? Siehe deine Seele
verfing sich in den Stäben der Syrinx

Was lockst du sie? Der Klang ist wie ein Kerker,
darin sie sich versäumt und sich versehnt;
stark ist dein Leben, doch dein Lied ist stärker,
an deine Sehnsucht schluchzend angelehnt.-

Gib ihr ein Schweigen, daß die Seele leise
heimkehre in das Flutende und Viele,
darin sie lebte, wachsend, weit und weise,
eh du sie zwangst in deine zarten Spiele.

Wie sie schon matter mit den Flügeln schlägt:
so wirst du, Träumer, ihren Flug vergeuden,
daß ihre Schwinge, vom Gesang zersägt,
sie nicht mehr über meine Mauern trägt,
wenn ich sie rufen werde zu den Freuden.

Rainer Maria Rilke

:-)


Heidi Lachnitt antwortete am 16.11.00 (21:44):

Zum Einschlafen zu sagen

Ich möchte jemanden einsingen,
bei jemanden sitzen und sein.
Ich möchte dich wiegen und kleinsingen
und begleiten schlafaus und schlafein.
Ich möchte der Einzige sein im Haus,
der wüßte: die Nacht war kalt.
Und möchte horchen herein und hinaus
in dich, in die Welt, in den Wald.
Die Uhren rufen sich schlagend an,
und man sieht der Zeit auf den Grund.
Und unten geht noch ein fremder Mann
und stört einen fremden Hund.
Dahinter wird Stille. Ich habe groß
die Augen auf dich gelegt;
und sie halten dich sanft und lassen dich los,
wenn ein Ding sich im Dunkel bewegt.

Rainer Maria Rilke

-- und ich wünschen eine gute Nacht


Sieghard antwortete am 17.11.00 (09:10):

Regengesicht

Regen regnet regnet regen
regen regnet regnet nicht
niemals regnet regen regen
regnet regen ins gesicht

regenpfeifer pfeift dem regen
pfeifft dem regen ins gesicht
warum pfeifer pfeift dem regen
wissen pfeif und regen nicht

[Christa Reinig]



Heute regnet es schon wieder.
Aber vielleicht scheint doch irgendwo
die Sonne.
Allen einen schönen Tag!


kNs antwortete am 17.11.00 (09:28):

späte Margeriten

Wenn im November nochmals
Margeriten blühen,
versäume nicht zu fragen,
was weiße Kranzblätter wissen!

Er liebt mich,
von Herzen,
mit Schmerzen,
über alle Maßen,
ein kleinwenig,
oder gar nicht.

Beginne weiße Strahlen
noch einmal zu zupfen
bis zur sonnigen Mitte.

Koloman Stumpfögger

Quellnachweis:
"Wenn Sonnenblumen die güldenen Zeiger drehen", d.V.,
OVR, 1996, S. 109


Gerlinde antwortete am 17.11.00 (13:08):



Gewaltig endet so das Jahr
mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise
gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit.
Im Kahn den blauen Fluss hinunter
wie schön sich Bild an Bildchen reiht-
das geht in Ruh und Schweigen unter.


Heidi Lachnitt antwortete am 17.11.00 (15:34):

Gegen den Regen geschrieben

Ich würd' euch gern'
die Sonnenstrahlen schicken
doch leider regnet es auch hier

ein heiteres Gedicht will
auch nicht richtig glücken
drum geb' ich euch von mir

ein heiteres Lächeln,ein glückliches Lachen
weil eure Gedichte mir
Freude machen

hl :-))


Heidi Lachnitt antwortete am 17.11.00 (21:27):

Da auch die Liebe heiter macht, endlich nocheinmal ein "Liebesgedicht" :-))

Höre!

Ich raube in den Nächten
Die Rosen deines Mundes,
Daß keine Weibin Trinken findet.

Die dich umarmt,
Stiehlt mir von meinen Schauern,
Die ich um deine Glieder malte.

Ich bin dein Wegrand.
Die dich streift,
Stürzt ab.

Fühlst du mein Lebtum
Überall
Wie ferner Saum?

Else Lasker-Schüler


Heidi Lachnitt antwortete am 17.11.00 (23:45):

und Rilke schreibt so schöne Liebesgedichte (aus "Deutsche Liebeslyrik", Reihe Reclam)

Die Liebende

Ja ich sehne mich nach dir. Ich gleite
mich verlierend selbst mir aus der Hand,
ohne Hoffnung, daß ich Das bestreite,
was zu mir kommt wie aus deiner Seite
ernst und unbeirrt und unverwandt.

...jene Zeiten: o wie war ich Eines,
nichts was rief und nichts was mich verriet;
meine Stille war wie eines Steines,
über den der Bach sein Murmeln zieht.

Aber jetzt in diesen Frühlingswochen
hat mich etwas langsam abgebrochen
von dem unbewußten dunkeln Jahr.
Etwas hat mein armes warmes Leben
irgendeinem in die Hand gegeben,
der nicht weiß was ich noch gestern war.


Heidi Lachnitt antwortete am 18.11.00 (00:07):

Zum Schluß ein Spottliedchen, mit siebzehn angefangen- heute weiter geschrieben - Ende offen :-))

Kennst du mich?
weißt du wer ich bin?
Heut bin ich ein König
- morgen eine Bettlerin

wenn ich liebe, liebe ich total
doch Liebe stirbt
- wenn ihr das Echo fehlt

manchmal möcht' ich weinen
einen Tag und eine Nacht, doch
Indianer weinen nicht

manchmal bin ich ganz klein
und mein Herzchen ist rein
soll niemand drin wohnen
- als ich allein?

und manchmal groß
und stark wie der Mond
der über Flut und Ebbe herrscht
und weit im Himmel thront

ein Mensch, eine Frau
ein Kind das weint
der Wind, eine Wolke
wenn die Sonne scheint

ich liebe das Leben
akzeptiere den Tod
und meine Lieblingsfarbe
ist rot

hl

:-)) Genug für heute - gute Nacht!


Sieghard antwortete am 18.11.00 (06:50):

Gott, Mensch, Liebe, Leben, Natur, Tod
haben einen Erfahrungs-Zusammenhang
+++++ Im Tod ist das Leben +++++
----------------------------------------------------------

preiset das leben

wenn ich gestorben bin
hat sie gewünscht
feiert nicht mich und auch nicht den tod
feiert den, der ein gott von lebendigen ist

wenn ich gestorben bin
hat sie gewünscht
zieht euch nicht dunkel an,
das wäre unchristlich
kleidet euch hell, singt heitere lobgesänge

wenn ich gestorben bin
hat sie gewünscht
preiset das leben, das hart ist und schön
preiset den, der ein gott von lebendigen ist

[Kurt Marti]
.
.


Heidi Lachnitt antwortete am 18.11.00 (18:02):

Leben-Liebe-Tod.......

noch nicht!

wenn ich einmal tot bin, Liebster
sollst Du nicht um mich weinen
sieh' die kleine rotgoldne Abendwolke
das bin ich... - aber noch nicht!


wenn ich einmal tot bin, Liebster
sollst Du nicht um mich trauern
erinnere Dich mit Zärtlichkeit
an mich... - aber noch nicht!

wenn ich einmal tot bin, Liebster
hörst Du noch meine Lieder
zärtliche Weisen geschrieben
für Dich... - aber noch nicht!

-

noch spricht das Leben zu Dir
und meine Zärtlichkeit für Dich
- ist grenzenlos

wir planen noch die Zukunft
mit rosaroten Traumbuchstaben
- im Liebesbuch

ein Ende ist nicht vorgesehen
es sei denn "happy end" steht dort
- wo wir leben

hl


Heidi Lachnitt antwortete am 18.11.00 (20:32):

ok - Volkstrauertag



Volkes Trauer

ich kann nicht um die Toten trauern
für die Lebenden
habe ich Trauer
weil wir immer noch
Waffen herstellen, Waffen verkaufen
Waffen gebrauchen
gegen das Leben

hl


Wolfgang antwortete am 19.11.00 (14:13):

Heute etwas Lustiges - wenn ich darf. Eine Strophe aus einem "Spottliedchen" von Mascha Kal�ko (aus einem Brief an den Schriftsteller Johannes Urzidil zu dessen sechzigstem Geburtstag):

Ein Jüngling erfrecht sich,
Zu klagen mit Sechzig:
- Man sagt mir, das gibt sich
So rund um die Siebzig.


Wolfgang antwortete am 19.11.00 (14:26):

Und dann noch ein Gedicht von eben diesem Johannes Urzidil aus dem Briefwechsel mit Mascha Kal�ko:

Ein Satz für Mascha (von Johannes Urzidil)

Erreicht mich einmal
von Dir ein Gedicht,
Ist es ein wärmender Strahl
Und freundliches Licht
Wie aus Deiner Augen Schimmer,
Oder als sprächest Du nahebei,
Oder gingst auf der Straße lächelnd vorbei,
Oder säßest schweigend im Zimmer;
Und singst stets treu das gleiche Lied
Wie der Vogel, der frühlings wiederkehrt
Und läßt nicht ab und wird nicht müd
Denn immer ist jemand, der hört.


Sieghard antwortete am 19.11.00 (16:51):

""Ein Jüngling erfrecht sich,
Zu klagen mit Sechzig:
- Man sagt mir, das gibt sich
So rund um die Siebzig.""

ich kurz weiterreim
ist ja "no crime"

und wenn er ist achtzig
sagt sie, er macht sich
und er sagt ganz witzig
lieber ist mir die Vierzig
denk nicht an die Neunzig
das ist sehr freundlich
bis 100 komm ich nicht
schon stattfand das Gericht
.


Heidi Lachnitt antwortete am 19.11.00 (20:07):

:-)) Reim dich oder ich fress dich - aus dem "Fundus" leicht abgeändert :-))

ein Mädchen mit zwanzig
das sagte:"es kann sich
doch alles nur fügen"

"sind alles nur Lügen"
sagt die Frau mit dreissig,
"ich liebt' doch so fleissig"

"und bin doch so einsam
obwohl ich jetzt zweisam"
die Vierz'gerin sagt

mit fünfzig sagt diesselbe dann
"will ich's Leben genießen
so sehr ich kann"

Ihr lieben Frauen ich sag's euch heut'
mit zu vielen Vorsätzen
vergeht zu viel Zeit

hl :-))


Heidi Lachnitt antwortete am 19.11.00 (20:12):

hier noch etwas zum Lächeln - von Erich Fried (in Gedichte von der Liebe)

Als ich mich nach dir verzehrte
1.
Ich liege
auf dem Rücken
und mir zugleich
am herzen
im Magen
und mit mir selbst in den Haaren

Ich muß mich also
zuerst
gefressen haben
mit Herz und Haaren
um jetzt
im Magen liegen zu können

Tatsächlich fand ich
unter meinen Nachrufen einen
in dem es heißt:
"Er verzehrte sich
angesichts
unserer Welt"

Daraus erhellt
daß unsere Welt
dabei war
und als Augenzeugin
die Verzehrung
bestätigen kann

Nun wüßte ich gerne
wessen Inhalt
mein Magen jetzt ist
wenn ich
dessen Inhalt er war
jetzt sein Inhalt bin

2.
Wenn ich mich
nach dir
verzehre
heißt das
ich habe zuerst
als Hauptgericht
dich verzehrt
und mich dann
als Nachtisch
oder warst du
die Suppe
und ich
bin das Fleisch?

Ich wünsche allen, die sich "zum Fressen gern'" haben , einen guten Wochenanfang! :-)


Heidi Lachnitt antwortete am 19.11.00 (20:58):

Bevor ich schlafen gehe - Rilke!

Sonett

O wenn ein Herz, längst wohnend im Entwöhnen,
von aller Kunft und Zuversicht getrennt,
erwacht und plötzlich hört, wie man es nennt:
"Du Überfluß, Du Fülle alles Schönen!"

Was soll es tun? Wie sich dem Glück versöhnen,
das endlich seine Hand und Wange kennt?
Schmerz zu verschweigen war sein Element,
nun zwingt das Liebes-Staunen es, zu tönen.

Hier tönt ein Herz, das sich im Gram verschwieg,
und zweifelt, ob ihm dies zu Recht gebühre:
so reich zu sein in seiner Armut Sieg.

Wer hat denn Fülle? Wer verteilt das Meiste? -
Wer so verführt, daß er ganz weit verführe:
Denn auch der Leib ist leibhaft erst im Geiste.

Gute Nacht wünsche ich allen


Herbertkarl Hüther antwortete am 19.11.00 (21:10):

hi, 'mal wieder was von mir; !zur allgemeinen erheiterung!


Der Ruf ans Getüm



Klirrend geht das Geschirr der Vernunft zu Bruch,
weil Langeweile seinen Ursprung im Suchen findet.



Einzelne tragen keinen Schaden davon,
wenn glitzernde Schweife eigentümliche Kreise am Firmanent ziehen.
Luftig jagt der Wind seinen verlorenen Blättern hinterher,
um seinem Befinden Ausdruck zu verleihen.



Kurz nur ist die Zeit, die ihm geblieben,
während am roten Horizont der vergessenen Minuten
die Glocken der Uhr behende ihre Zeiger bewegen.



aber habacht:
hinter den Büschen abgestandenden Wassers
fällt wuchtig die Tür geretteten Anstands ins Schloß.



Viel von dem, was Du zu tun vergaßest,
nimmt endlos vor Dir Gestalt an
und sendet traurige Gesichter
dem freudlosen Spiegel entgegen.



dazu hat er Dir geraten die Sache nicht
gar so ernst zu nehmen
und dem dunklen Schicksal hell entgegenzulachen.



Wirst Du das auch machen?

hkh


Sieghard antwortete am 20.11.00 (08:07):


Alle durch sind nun die Zehner
von 20 bis 100 - Lebenstrainer
es fehlte nur die schöne Zehn
doch intressiert es kaum hier wen.
Reim dich oder dich fress dich
war dennoch recht vergnüglich

Allen einen schönen Tag!
.


Heidi Lachnitt antwortete am 20.11.00 (08:18):

:-))

unge(s)tüm

ich lache in den Wind
und dunkle Wolken fliegen
erschreckt davon

ich schreie in den Sturm
und die gepeitschten Bäume
biegen sich vor Lachen

ich weine in der Nacht
und die Tränenperlen werden
zu Steinen

ich läch'le am Morgen
und die 'verschriebenen' Sorgen
lösen sich auf.....

hl

:-)) Gleichfalls einen schönen Tag für Alle!


Erich Fried antwortete am 20.11.00 (19:41):

In der Fremde

Aufgewachsen
unter den Ungetümen
durchgeschlüpft
zwischen Pranken und Klauen
entronnen
ihren Gebissen
und ihren Flügelzangen
und den Giftstachelkämmen
der sich wälzenden Ungetümsleiber
kam ich zu den Getümen

Ungewohnt in ihrer Kleinheit
der Zierlichkeit
ihrer Pfoten und Hochzeitsfedern
der Anmut ihrer
Blättertänze
und ihres Morgengeflatters
fand ich die bunten Getüme
nicht geheuer

Ich zog mich zurück
und nannte sie Ungeheuer


Heidi Lachnitt antwortete am 20.11.00 (20:56):

ERICH FRIED :-))

In Gedanken

Dich denken
und an dich denken
und ganz an dich denken und
an das Dich-trinken denken
und an das Dich-Lieben denken
und an das Hoffen denken
und hoffen und hoffen
und immer mehr hoffen
auf das Dich-immer-Wiedersehen

Dich nicht sehen
und in Gedanken
dich nicht nur denken
sondern dich auch schon trinken
und dich schon lieben

Und dann erst die Augen aufmachen
und in Gedanken
dann erst dich sehen
und dann dich denken
und dann wieder dich lieben
und wieder dich trinken
und dann
dich immer schöner und schöner sehen
und dann dich denken sehen
und denken
daß ich dich sehe

Und sehen daß ich dich denken kann
und dich spüren
auch wenn ich dich
noch lange nicht sehen kann


Heidi Lachnitt antwortete am 20.11.00 (22:58):

Gleiches Thema, ganz anderer Stil - kraftvoll und schön:

Walt Whitman (in Grashalme)

KEINE GLUT, AUFFLAMMEND UND VERZEHREND

Keine Glut, aufflammend und verzehrend,
Keine Wogen der See, aus- und einstürmend,
Noch die Luft, köstlich und klar, des reifen Sommers Luft,
die weiße Flocken mit Myriaden Samenkörnern leicht dahinträgt,
Wehend, lieblich segelnd, bis sie irgendwo niedersinken -
O keines, keines von ihnen flammender als meine Glut,
verzehrend, brennend um dessentwillen, den ich liebe.
O keines stürmender als ich!
Stürmt die Flut einher, suchend nach etwas, und läßt nicht ab? O so auch ich!
O weder Samenflocken, noch Düfte, noch die hohen,regensendenden Wolken werden durch die freie Luft getragen
Irgend mehr, als meine Seele durch die frei Luft getragen wird,
Wehend nach allen Richtungen, o Liebe, um der Freundschaft, um deinetwillen.

Gute Nacht!


Herbertkarl Hüther antwortete am 20.11.00 (23:14):



____hhhmmm-???-


qualm der einfachen art


sturz aus
den gelaufenen
hoehen

geglaubt zu
wissen
doch eben
irreal


kratzen am
schweif der kometen
bis ich oeffne
die dose
abgemagerter
ideen

welt ist
nichtverstehen
weil man
es nicht will

glucken den
abhang hinauf


begegnungen
im schein
der dunkelheit

spinnennetzdurchwoben
der harte raum

aufschreien
im gefuehl
der masse

kleine kerne
von wahrheit
ausgespuckt
im schleim
verstopfter
nasen


weite verlassenheit
im zug
der begierden

richten
um
geradezuruecken

weltferne im glueck
des beieinanderseins

wende die seiten
dass worte dich
erreichen

hkh


Heidi Lachnitt antwortete am 20.11.00 (23:55):

?????? :-) Deine Mailanschrift ist ungültig Frater!


Heidi antwortete am 21.11.00 (00:13):

nein, doch nicht - wer schummelt eigentlich immer die 20% in die Mailanschriften??


Herbertkarl Hüther antwortete am 21.11.00 (00:28):




h@@@y heidi,

meine emailanschrift ist authentisch, doch viele server moegen keine adressen mit sonderzeichen oder deutschen *.com adressen [[[o:

liebgruss herbertkarl
Diese E-Mail ist geistiges Eigentum von
Herbertkarl Huether. Alle Rechte vorbehalten.
���
~*Quality Posting Since 1798*~
Writing from Germany; Europe; Earth; Universe XXXI
-=gruesse aus absurdistan=-
-=dem chaos auf der spur=-


Sieghard antwortete am 21.11.00 (08:51):

November-Hymnus

Tod und Vergehen waltet in allem,
steht über Menschen, Pflanzen und
Tieren,
Sternbild und Zeit.

Du hast ins Leben alles gerufen.
Herr, deine Schöpfung neigt sich zum
Tode:
Hole sie heim.

Schenke im Ende auch die Vollendung.
Nicht in die Leere falle die Vielfalt
irdischen Seins.

Herr, deine Pläne bleiben uns dunkel. -
Doch wir singen dir Lob.
Amen.
.


Paul Celan antwortete am 21.11.00 (08:55):

ANABASIS

Dieses
schmal zwischen Mauern geschriebne
unwegsam-wahre
Hinauf und Zurück
in die herzhelle Zukunft.

Dort.

Silben-
mole, meer-
farben, weit
ins Unbefahrne hinaus.

Dann:
Boje-,
Kummerbojen-Spalier
mit den
sekundenschön hüpfenden
Atemreflexen-:Leucht-
glockentöne (dum-,
dun-, un-,
unde suspirat
cor),
aus-
gelöst, ein-
gelöst, unser.

Sichtbares, Hörbares, das
frei-
werdende Zeltwort:

Mitsammen.


Herbertkarl Hüther antwortete am 21.11.00 (11:58):

On 21 Nov 2000, at 8:55, hauchte [email protected] mir auf meinen Monitor:

> Hallo, Frater...
>
> ist sie nun gültig oder nicht, deine Mailanschrift?
> Es ist wohl dein 3. poem in "Gedichte 4" erschienen.
>
> nun schon
> Der Ruf ans Getüm
> qualm der einfachen art
>
> muss mich wohl erst einlesen, damit ich mich
> damit zuerechtfinde.
>
> Vielleicht outest du dich mal per PM
> über deine Art zu schreiben.
>
> mfg
> sieghard



____h@@@y sieghard, all,



____natuerlich ist die emailaddy voll gueltig-

____ich zitiere mich mal selbst in beantwortung auf eine and're email-[[[o:


___wie beim arno schmidt; "groesster dichter deutscher sprache aller zeiten", ist alles chiffriert:

die erste "aeussere ebene" ist die ebene des normalen verstehens; die zweite ebene, die des intellektuellen; die dritte ebene die des "wahnsinns"; die vierte ebene, die des "genies"; bei mir aber mehr die ebene, "die mir gehoert"; die "aktuelle, ureigentuemliche, essentielle ebene"- [o:

____so vierfach gefiltert, liegt die "wahrheit" verborgen- [[[o:


____formlos, reimlos, sinnlos- [[[[[[[[[o:

lieber gruss


herbertkarl
/ True love never dies! \
\ It kills! /

--
Damit das Mögliche entsteht,
muß immer wieder das
Unmögliche versucht werden.

(Hermann Hesse)


Paul Celan antwortete am 21.11.00 (18:21):

Sprachgitter

Augenrund zwischen den Stäben.

Flimmertier Lid
rudert nach oben,
gibt einen Blick frei.

Iris, Schwimmerin, traumlos und trüb:
der Himmel, herzgrau, muß nah sein.

Schräg, in der eisernen Tülle,
der blakende Span.
Am Lichtsinn
errätst du die Seele.

(Wär ich wie du. Wärst du wie ich.
Standen wir nicht
unter einem Passat?
Wir sind Fremde.)

Die Fliesen. Darauf,
dicht beieinander, die beiden
herzgrauen Lachen:
zwei
Mundvoll Schweigen.


Herbertkarl Hüther antwortete am 21.11.00 (21:17):




kurzium


liebe
waechst
in
ferne
durch
begreifen


noch
wallt
der sinn
dahin

sagte
doch
der
uralte
ihm
seien
die
vorkommnisse
duster



als
stumm
die
stille
seine
hand
ergriff

wackelnd
ging
die
neige
zu
tag

rot
blinkt
die
ferne
ein
nahes
wiedersehen


tuch
legt
sich
ueber
das
kahle
empfinden
von
leere
im
schein
gruenenden
mondes


hkh


Sieghard antwortete am 21.11.00 (21:29):


karolushütheherbertemsexsieben
die 3. ebene des wahnsinns ist am
aufregendsten heißesten zwecks
einblick in psychotische episödchen
überchiffriert damit das mögliche
immer wieder unmöglich werde in
Hessen und anderswo in genieländ
true love dies never it kills formloser
gehts nimma reimlos wie sinnlos
essentieller vierfach gefilterter wurst
wassersalat ausgespuckt im spinnen-
netzdurchwobenen kometenschweifigen
getümrufer des rothorizont mit liebgruß
wie persevebo sphaerenklinglend den
chaotischen absurdistanern zuhauchend
anhauchend verhauchend aushauchend
stummes modeswiedersehen duster
.


Heidi Lachnitt antwortete am 21.11.00 (21:41):

:-)))
:-)))
:-)))


Heidi Lachnitt antwortete am 22.11.00 (01:09):

Übung?

Drachenfarbe frisst Kinderverse
droht? tröstet?
spiegelt

Wahrheit
mit bunten Worten
rote Gefühle - grau

Grauen
schwarze Nacht
golden der Traum

mit grünem Hoffnungsrand

hl


Heidi Lachnitt antwortete am 22.11.00 (01:13):

bruchstücke

trocken brot macht wangen rot
warum nur sehen sie so bleich
und ausgemergelt aus

weil das brot feucht und
schimmelig war
und zu wenig

grosse kinderaugen
werden noch grösser
wenn das gesicht kleiner wird

so gross wie die augen
so gross die erinnerung
wenn sie nicht gebrochen sind

erinnert euch, erinnert uns
ganz laut, ganz tief aus euch
in uns hinein

nicht vergessen, nicht wieder
zulassen, nicht wegschaun
nicht nichts tun

hl


Sieghard antwortete am 22.11.00 (08:47):

Zwischen Volkstrauertag und Totensonntag

Der Tod kommt. Sicher. Aber Gott kommt
auch. Darin gleicht er dem Tod. Wenn wir
also in diesem Monat besonders an die To-
ten und an unseren eigenen Tod denken,
sollten wir nicht vergessen, dass Gott uns
im Tod entgegenkommt. Er kommt nicht,
um unser Leben zu beenden, sondern um
es zu wenden. Der Karfreitag und Ostern
sind diese Wende. - Trotzdem, das Ster-
ben bleibt uns nicht erspart. Jetzt, im No-
vember, wenn die Tage kurz und dunkel
werden und die letzten Blätter fallen, rückt
uns unsere Vergänglichkeit und die Reali-
tät des Sterbens besonders unter die Haut.
Die mittelalterlichen Totentänze setzen die
Wirklichkeit des kommenden Todes beson-
ders makaber ins Bild. Der Tod, der "Sen-
senmann", das Gerippe, greift sich alle, ob
alt oder jung, ob Bettler oder König. Er
macht keine Unterschiede. Vor ihm sind alle
gleich. Er zieht sie mit und tanzt mit ihnen
davon. "Drum sperrt euch nicht, ihr müsst
davon und tanzen nach meiner Pfeife Ton",
heißt es im berühmten Baseler Totentanz.
Der zeitgenössische Künstler HAP Griesha-
ber hat diesen Totentanz neu illustriert. Ein
Bild fehlt: Gott fehlt im Totentanz. Denn Gott
tanzt nicht nach der Pfeife des Todes, Gott
tanzt "aus der Reihe". Gottes Tanz geht in
die andere Richtung. Gottes Tanz - der geht
auf Ostern zu.
.


Friedgard antwortete am 22.11.00 (09:19):

Rudolf Hagelstange: "Der Engel"

Wenn ich wie Jakob mit dem Engel ringe
der groß und schweigend an der Schwelle wacht,
auf daß ich Einlaß in sein Reich erzwänge
geschieht es oft, so sehr ich ihn bedränge,
daß eine fremde, unsichtbare Macht
mir Hände lähmt und Arm und Klinge.

Und ob ich noch so stürmisch in ihn dränge,
er steht und schweigt. Und ob ich unbedacht
und immer wieder fordernd an ihn ginge, -
ich bin gefangen wie in einem Ringe.
Er sieht mich an, als ob aus tiefster Nacht
ein Flammenstoß den Blick mir senge.

Doch wenn ich, wissend, daß ich's nicht erzwinge,
mich beuge seinem Zauber, seiner Macht
und hingerafft an seinem Munde hänge,
dann lächelt er. Als ob die Sphäre klänge,
so regt er, wie im Traum unendlich sacht
ein Vogel atmet, sein Schwinge.

Und rührt mich leise an mit dieser Schwinge.
Und sieh:
Ich singe.

(in Berlin hängt ein Gemälde von Rembrandt: "Jakob ringt mit dem Engel")


Herbertkarl Hüther antwortete am 22.11.00 (11:31):

heysieghardparadoxussixtusebenenhervorhebenderdiedritteebeneliebender
dechiffrierenderdieformlosigkeitliebenderinhessenwohnenderlebendtierischvegetarischempfindendendergewissenfilterndervonengelngestreifterundimmanentemporgehobeneralsbeispielinspinnenfingrigererabsurdistanischerueberwindenderaushaucherquadratschindendermathemathicusdiekathetensummeueberwindenderdireineangenehmezeit


herbertkarl