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THEMA:   1932 geschrieben: Ein Mitchüler namens Eli....

 8 Antwort(en).

Antonius begann die Diskussion am 22.06.03 (20:58) mit folgendem Beitrag:

Eine Geschichte von Schülern - von christlichen und e i n e m jüdischen

Reaktionen interessieren mich, auch wg. Parallelen in unserer Gegenwart. (Den Dichter möchte ich nachträglich mitteilen.)
*
Die Geschichte vom Mord an einem jüdischen Mitschüler namens Eli
(1932 geschrieben; hier um die Rahmengeschichte gekürzt, die der Arzt auf einer Gesellschaft erzählt.)

"Ja, es fing also auf der Schule an, wo alle unsre Grausamkeiten anfangen. Auch diese, das Auslöschen. Die kleine Mördergebärde. Verzeihen Sie... Wir hatten einen jüdischen Mitschüler. Den einzigen Juden unsrer Klasse. Er hieß Eli. Eli Kaback. Es war kein Wun-der, daß schon der Name uns reizte, die wir bürgerliche, kompakte Namen, sozusagen anständige Namen hatten. Eli war eine Herausforderung. Und Kaback, nun, das war eben etwas, das nicht gesprochen, sondern nur gegrinst werden konnte. Einer von uns hieß Kußmaul und einer Rindfleisch. Aber das war eben Humor, indogermanischer Sprachhumor gleichsam, aber das andre war eine Groteske, wie ein Negertanz oder eine Hottentottenarie.
Und so erschien er uns selbst. Das Ganze von ihm. Er war klein, schwächlich, kränklich. Ein blasses, immer ge-ängstigtes Gesicht unter schwarzem Haar. Alle Bewegungen wie am Rand einer Höhle, sprungbereit, dicht am schützen-den Dunkel. Und um Mund und Augen trug er die Falten eines ganzen Volkes. Des demütigen Teiles eines Volkes. Denn jedes Volk besteht aus den Lauten und Leisen. Der 'Rotte' und den Stillen. Fünftausend Jahre Geschichte wa-ren um seinen Mund. Geschichte eines geprügelten Hundes, wie wir die Geschichte eines Raubtieres um unsre Lippen trugen. Er war sanft, hilfsbereit, gütig, und seine traurigen Hände sahen wie gekreuzigt aus.
Sein Verhängnis war, daß er sich nicht wehren konnte, nicht mit dem Geist und nicht mit den Fäusten. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn unsre Meute unter den Leh-rern ein Opfer gefunden hätte. Aber sie herrschten mit brutaler Gewalt, und kein Tag verging, an dem nicht die Unerschrockensten unter uns Striemen auf der Innenseite der Hände gehabt hätten. So warf sich die Meute auf Eli... 'Itzig!' johlte die Meute. 'Itzig' stand auf allen Seiten seiner Bücher, auf Zetteln an seinem Rücken, auf Briefen, die man ihm zuschob. In den Pausen spielte man 'Judenball', indem einer ihn auf den andern stieß, in einem engen, undurchbrechlichen Kreise, durch dessen Mittelpunkt Eli mit geschlossenen Augen taumelte, ein ohnmächtiges Tier unter den funkelnden Augen junger Wölfe.
Selten, sehr selten kam es vor, daß so etwas wie die Würde der Menschheit sich in ihm empörte. Dann warf er sich mit geschlossenen Augen auf die Gegner, wie in einen Abgrund, oder er rieb die Innenseite seines Brotes dem Feind auf den Anzug, eine groteske Rache, die die Sach-beschädigung anstelle der blutigen Vergeltung setzte. Er wurde furchtbar verprügelt, wie ein Sklave, der gewagt hatte, die Hand gegen das Gesicht des Herrn zu heben, und am nächsten Tag war seine Haltung noch demütiger, und der Blick seiner Augen ging an uns vorbei, so weit zurück, als reiche er bis an die Schwelle des Tempels Salomonis.
Das Niedrigste aber, ja das Verruchte dieses ganzen Treibens war, daß alle Lehrer davon wußten. Daß sie es schweigend und nicht ohne Beifall duldeten, wie die Auf-sicht auf dem Hof, die sich abwendete und den Spatzen zu-sah, wenn Judenball gespielt wurde. Ja, daß sie in seine Wunden, mit denen seine Seele vor ihnen blutete, das Gift ihres Hohnes langsam und ätzend träufelten. Daß ihre Knechtsseelen dasselbe taten wie die Knechte auf den Hö-fen, die die Hofjungen im Hemde antreten ließen, um ihre Knechtsmacht an ihnen zu erproben, wie der Herr seine Herrenmacht an ihnen erprobte.
Und ich? Ja, auch ich war ein junger Wolf. Nicht daß ich ihn mißhandelte. Ich hatte eine Scheu vor der Berüh-rung andrer Körper... weswegen ich wahrscheinlich Arzt geworden bin... aber ich duldete schweigend, lächelnd, mit einer Art von süßem Grauen, das ich mir heute biologisch erkläre. Und noch jetzt, in dieser Sekunde, brennt meine Stirn vor Scham, indem ich dies alles erzähle.
*
(Fortsetzung folgt)


Antonius antwortete am 22.06.03 (21:00):

Ein Arzt erzählt aus seiner Schulzeit:
Vom Mitschüler namens Eli....
(1. Fortsetzung)

Eli ging mit dem 'Einjährigem' ab. Ohne Abschied, wie ein junges Tier, das aus dem Stall zum Markt geholt wird. Er wurde Zahnarzt, und niemand sah etwas von ihm. Er fiel aus unsrem Leben heraus, aus unsrem Gedächtnis, wie ein zertretener Grashalm aus dem Gesicht einer Straße.
Wir sahen ihn ein einziges Mal wieder, zehn Jahre nach der Entlassung, als unser Jahrgang sich zu einem 'Jubi-läum' zusammenfand. Natürlich hatte das 'Komitee' ihn nicht eingeladen, und niemand wußte später, wie er es erfahren hatte. Wahrscheinlich hatte er nichts vergessen in diesen zehn Jahren, wahrscheinlich war er sehr alt gewor-den in diesem Zeitraum, weil nichts so alt macht wie der Gram. Und er hatte wohl gedacht, daß auch wir aufgehört haben würden, wie die jungen Wölfe zu leben. Und so war er eben gekommen. Ein Ausgestoßener, Mittelpunkt eines leeren Raumes, der wieder in einen Kreis treten wollte, in das Glück der Peripherie.
Ich werde nicht vergessen, wie Eli Kaback in unsren klei-nen Hotelsaal trat. Er trug einen Smoking, und sein mage-rer, mißhandelter Körper sah wie die traurige Verkleidung eines Clowns aus. Aber was erschütternd und unvergeßlich war, das war der Ausdruck seines Gesichtes und der erste Blick seiner Augen, mit dem er über unsre Augen tastete. Ich habe solche Augen später in meinem Sprechzimmer gesehen, wenn die Untersuchung beendet war, auf Krebs etwa, in der Pause zwischen dem leisen Ton, mit dem die Tür hinter der Schwester zufiel, und meinem ersten Wort, das ich sprach. Augen, die vor der Schwelle zwischen Tod und Leben stehen, die in einem Krampf der Tapferkeit sich öffnen und durch deren Hintergründe schon das Dunkel des Urteils lautlos bricht.
Alle Gespräche verstummten. Alle Augen sammelten sich in seinem Gesicht wie in einer Wunde. Die Kellner sahen ihn an. Die Musiker sahen ihn an. Nichts regte sich im Raum als das leise Surren des Ventilators, und ich weiß, daß ich drei Sekunden lang die Vorstellung eines Fallbeils hatte, das aus der unendlichen Höhe eines dunk-len Gerüstes niederrauschte. Sie müssen bedenken, daß es die Zeiten waren, in denen der Reserveoffizier das Lebens-ziel des Untertanen war, und in denen für einen bürger-lichen Menschen mehr Mut dazu gehörte, von Lassalle mit Achtung zu sprechen, als in einen Löwenkäfig zu treten.
Dann stand Kußmaul auf und ging ihm entgegen. Kuß-maul war Bankdirektor. Er hatte einen Rennstall und einen Harem. Wenn er betrunken war, ließ er sich einen Bettler von der Straße holen, gab ihm zwanzig Mark und zwang ihn dafür, drei Stück Toilettenseife aufzuessen. Kußmaul war sehr groß, und er trat so dicht an Eli heran, daß er durch sein Einglas von oben her in das weiße Gesicht blickte. Ich sah, daß die Kellner zu lächeln begannen, und ich sah Gesichter an unserm Tisch, die plötzlich so aussahen wie vor zehn Jahren.
'Verzeihung, mein Herr', sagte Kußmaul sehr deutlich: 'dies ist eine geschlossene Gesellschaft ...'
Eli sank zusammen wie unter dem Schlag eines Beiles, und in der Totenstille, die wieder im Raum war, hörte ich etwas, das ich nicht anders als eine akustische Vision nennen kann: ich hörte den Schlag seines Herzens, wie den Herzschlag eines Vogels, der das Gesicht der Katze sich seinem Käfig nähern sieht.
'Erinnerst du... erinnern Sie sich nicht, Herr Bank-direktor?' fragte er leise. 'Ich bin doch... wir waren doch Schulkameraden ... ?'
'Pardon', erwiderte Kußmaul und drehte sich um. 'Ist der Herr jemandem bekannt? Ich stelle fest, daß ein Irr-tum in den Räumlichkeiten vorzuliegen scheint. Die Synagoge befindet sich nächste Querstraße links.'
(2. Fortsetzung folgt)


Antonius antwortete am 22.06.03 (21:02):

Ein Arzt erzählt aus seiner Schulzeit (eine 1932 verfasste Geschichte):
Vom Mitschüler namens Eli....
(2. Fortsetzung)

Er machte eine leichte Verbeugung und kehrte auf seinen Platz zurück.
'Ich bitte Sie, sich zu entschuldigen, Herr Bankdirektor', sagte Eli Kaback flüsternd. Aber es war niemand im Raum, der nicht jede Silbe verstanden hätte. 'Ich bitte Sie, sich zu entschuldigen', wiederholte er vor Kußmauls Sessel.
In dem weißen Licht der elektrischen Lampen sah sein Gesicht aus, als habe man es hinter unsichtbaren Kulissen mit Kreide eingerieben, und durch den weißen Staub rie-selten seine Tränen. Jeder von uns sah sie, und jeder von uns beugte sich vor, um sie zu sehen: die Musiker der Ka-pelle, die Kellner, der Kreis der Wölfe.
'Du... Judchen ... ', sagte Kußmaul leise, fast zärtlich. Er hob die Hand zur Kapelle, und mit einer schrecklichen Plötzlichkeit warfen die grellen Klänge des Schlagers jener Zeit sich in das furchtbare Schweigen: 'Ha'm Sie nich den kleinen Cohn gesehn ... ?'
Ich weiß nicht, ob es eine Perfidie, eine Servilität des Kapellmeisters, ob es ein Zufall, ob es die nächste Nummer des Programms war. Aber es war der Fall des Beiles. Und unter den Klängen dieser furchtbaren Musik wich Eli Ka-back Schritt um Schritt vor den Augen Kußmauls, vor un-seren Augen zur Tür zurück. Seine Tränen hatten aufgehört zu fließen, und in den blauen Wolken des Zigarren-rauchs sah es aus, als versinke ein Stein langsam, ganz langsam in einem dunklen, unermeßlich tiefen Wasser.
Man lachte, man tadelte, man empörte sich. 'Geh ihm nach', sagte jemand, 'schnell ... ' Und in diesem Augenblick, zurückgelehnt in seinen Sessel, hob Kußmaul die Hand und löschte mit einer einzigen waagerechten Bewegung Schande, Tränen, Schuld und Mord von der Tafel der Zeit, löschte Eli Kaback aus, ein ganzes Menschenleben, und bestellte Champagner für die ganze Tafelrunde.
Es half keinem von uns, daß ich zwei Tage später ein Duell mit Kußmaul hatte. Mein Brief an Eli kam zurück. Er hatte die Annahme verweigert. Drei Jahre später hat er sich aus dem Bodenfenster seines Hauses gestürzt.�
*
Wie gesagt: Reaktionen (Kritik und so...) erwünscht!


hl antwortete am 22.06.03 (22:09):

Zuviel Klischee, es beschwört ein Bild, dass im Möllemann-Thema bereits beschrieben wurde (Wolfgang/Angelika), unrealistisch aber in vielen Köpfen immer noch verbreitet.


rolf antwortete am 22.06.03 (23:28):

Was nützt die 500-Worte-Regel, wenn immer mehr Fortsetzungsromane erscheinen?
Was nicht auf den Bildschirm paßt, lese ich (fast) nie!


sofia204 antwortete am 23.06.03 (01:57):


der Schmerz könnte im Alleinsein versiegen


Medea. antwortete am 23.06.03 (07:47):

Eine Geschichte, die mich zutiefst berührt ....
- kafkaresk - Sehe überhaupt keine Verbindung zu Möllemann oder Friedman .... Sollte die gewollt sein? Ich glaube es nicht.
Szenenwechsel: Ich, Schulmädchen der ersten Klasse, werde von einer Mitschülerin, Ilse Bechstein, morgens abgeholt, wir gehen den Schulweg gemeinsam. Ilse ist ein lustiges Mädchen mit dunklen Zöpfen. Eines Tages bleibt Ilse weg, kommt nicht mehr, ihr Platz ist leer. Natürlich wundere ich mich, frage, wo sie bleibt - keiner sagt es mir, vielleicht ist sie krank, vielleicht sind sie weggezogen ....
Ilse verschwindet aus meinem Gedächtnis und taucht erst nach vielen, vielen Jahren, als ich den Verstand habe, über die Judenfrage nachzudenken, wieder in meinem Hinterkopf auf. Das ist bis heute so geblieben - immer wiedermal denke ich an Ilse Bechstein - die vielleicht auch Pechstein hieß?


Antonius antwortete am 23.06.03 (21:01):

Dank soweit, beosnders an Medea...
sofia 204: Eine so weise Antwort - ist mir schon lange mehr vorgekommen. Passt toll zu "Sofia."
".... der Schmerz könnte im Alleinsein versiegen..."
*
Morgen, Dienstag, gebe ich den Namen des Autors und den Titel der Kurzgeschichte ein; 1932 konnte der Text natürlich nicht veröffentlich werden..
Und heute ist er nirgends mehr lesbar...(weil sich sein Verlag kein Geschäft mehr mit i h m verspricht).


Antonius antwortete am 25.06.03 (14:18):

Autor ist Ernst Wiechert (1950 in der Schweiz gestorben).
Er konnte diese exemplarische Erzählung nicht veröffentlichen, weil der Verlag, der dieses literarisches Preisausschreiben gemacht hatte, den Text über mörderischen Antisemitismus nicht drucken wollte. Eine Geschichte mit dem Vorwuf des "Kollektivmords" - 1932 - bevor die Nazis wirklich damit ab 1933 anfingen in der deutschen Gesellschaft, in der zu wenige Widertand leisteten.

Der im Text genannte "Untertan" (in den Köpfen der Deutschen) bezieht sich auf Heinrich Manns Roman aus dem Jahre 1905.
Es gibt zwar viele, auch frühe Texte - von Tucholsky, Döblin, Brecht z.B. - die auch den Faschismus richtig erkannten und in ihren Texten öffentlich anprangerten, aber keiner hat eine Misshandlung eines jüdischen Menschen aus der "guten" (bürgerlichen) Gesellschaft heraus so früh so als "Mord" dargestellt. Die deutsche Schule - als Schule eines Mordes...
Wiechert blieb in Deutschland - und musste später ins KZ Buchenwald - wo er unter dem Goethe-Baum - abends ein wenig verschnaufen konnte, besonders dann, wenn bei der Arbeit neben ihm Juden nach absoluter Willkür ermordet worden waren..
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