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THEMA:   A. Vigoleis Thelen (100. Geburtstag): Roman

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iustitia begann die Diskussion am 01.10.03 (12:49) mit folgendem Beitrag:

Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts. Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis. (1953 erschienen)
(Der Ausschnitt hier ist ein bisschen willkürlich; aber er zeigt das phantastisch-vielfältige, manchmal wirr-willkürliche Verfahren des Poeten; ich habe den Palaver-Roman noch nie zu Ende gelesen; ich lese ihn ausschnittsweise. Nur in solch kleinen Dosen bekommt mir der "Thelen"; Spannendes, Ketzerisches finde ich immer wieder bei ihm. Siegfried Lenz nannte ihn einen "epischen Zauberer". Zu seiner Lyrik s. nächstes Thema.)
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Thelen wurde 1903 in Süchteln am Ndrrh. geboren,lebvte in HOlland, Portugal, zuletzt in der Schweiz.
Aus: "Die Insel..."

Wo der Himmel versagt, ist die Erde oft sehr ergiebig. Die Giraffe hat einen langen Hals, um die Blätter von den Bäumen rupfen zu können. Die Natur denkt an alles. Das göttliche Mahl war mißraten, das Festessen bei Muttern war königlich. Dafür hatte die Vorsehung meinem Vater eine Verwandte be-schert, eine weit über die Gemarkung hinaus bekannte Jungfer, die Base Hem-mersbach: berühmt für ihren Stadtklatsch, den sie aus winzigen Gegebenhei-ten zu vollendeten Geschichten aufbauschte, daß mir immer die Ohren steif standen vor Lust, wenn sie ihren sogenannten �Berliner Korb� auskramte; und geschätzt für ihre Kochkunst. Keine Taufe, wo sie nicht buk, keine Hochzeit ohne ihren Sebastopol-Pudding, und die Spezialität: Kinderkommunion! Diese Kunkelmuse war dem Schöpfer längst auf die Spur der läßlichen Sünden ge-kommen, wußte, was es an solchen Tagen gutzumachen gab, und bei mir tat sie es mit den erlesenen Speisen, die ich noch heute aufzählen könnte - aber leider mir nicht mehr leisten. Das Leben ist weitergegangen, viele Schläge auf die Zunge habe ich einstecken müssen, doch nie mehr hat nachher eine müde, aber glückliche Hanna Hemmersbach auf dem Ehrenstuhl noch eben an der Tafel angesessen und sich rühmen lassen. Und nie mehr bin ich beschenkt worden für meine Niederlagen. Denn es gibt ja auch Angebinde an diesem schönsten Tag. Die Verwandten waren erschienen, und jeder brachte das Seine. Der Pate mit rotem Bärtchen, Bratenrock und selbsteingerahmtem Herzen Jesu (oval, roter Samt, die Strahlen aus Blattgold) war schon betrunken, als ich nachmittags in die Danksagungsandacht geschickt wurde. Aus eigenen Stükken wäre ich nicht gegangen. Einem solchen göttlichen Kinderfreunde schuldete ich nichts.
Es war Sonntag - und ich brauchte nicht in die Kirche zu gehen. Der Wald ist mein Dom, sagen die Pantheisten der verschiedensten Schattierungen. Auch wir lagen unter einer ausgestirnten Kuppel. Die meisten Gläubigen schliefen noch. Ihr Schnarchen sang rauh durch das Haus.
Beatrice wollte wissen, woran ich dächte. Ich erzählte ihr die Geschichte von dem Priester, der mir den Weg des Herrn bereiten sollte und, statt ihn zu eb-nen, seinen Schutt ablud, den beiseite zu schaffen mir nie mehr gelungen ist. Oft noch habe ich von ihm träumen müssen, und jetzt, im �Turm der Uhr�, war er wieder erschienen als Unhold, halb Satyr, halb Seelenhirt im Weihgehänge, der einer Jungfrau nachstellte, den Schlüssel erhoben im lechzenden Eifer, ich hörte seinen Schrei: mehr, mehr, - más! mit dem vollen a-Klang des Spanischen. Spanien ist das Land der göttlichen Erotik. Ich wage heute zu bezweifeln, ob ich je die großen iberischen Mystiker mir hätte erschließen kön-nen, wenn ich nicht im Hurenturm die minderen Weihen empfangen hätte. (...)
Aus: Ausgabe bei Claassen in Düsseldorf 1981. S. 212.)