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THEMA:   Gedichte Kapitel 31

 33 Antwort(en).

hl begann die Diskussion am 12.10.03 (19:16) mit folgendem Beitrag:

Ein neues Kapitel für die Gedichte. Kapitel 30 ist archiviert und kann unter /seniorentreff/de/diskussion/archiv4/a565.html

nachgelesen werden. Die Mailliste wird, wie immer, übertragen.

Weiterhin viel Vergnügen mit den Gedichten.

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/diskussion/archiv4/565.html


hl antwortete am 13.10.03 (09:47):

Eingang

Wer du auch seist: am Abend tritt hinaus
aus deiner Stube, drin du alles weißt;
als letztes vor der Ferne liegt dein Haus:
wer du auch seist
Mit deinen Augen, welche müde kaum
von der verbrauchten Schwelle sich befrein,
hebst du ganz langsam einen schwarzen Baum
und stellt ihn vor den Himmel: schlank, allein.
Und hast die Welt gemacht. Und sie ist groß
und wie ein Wort, das noch im Schweigen reift.
Und wie dein Wille ihren Sinn begreift,
lassen sie deine Augen zärtlich los ...

Rainer Maria Rilke

Internet-Tipp: https://www.hl-gedichte.de/downloads/rilke_baum.jpg


poetax antwortete am 13.10.03 (13:45):

Herbstlied

Ich mag den Herbst - mehr als den Mai
Weil er zur Höhe führt.
Wenn jeder Baum jetzt Blatt um Blatt verliert
Und goldenes Verglühen mich berührt,
wenn alles stürmt: vorbei, vorbei,
dann wird der Blick zum Himmel frei.

Der kahlen Äste edle Leere
Entlässt die Farben leicht.
Und wiegend, sanft, veratmend weicht
Zur Erde, was der Erde gleicht,
damit ihr alles ganz gehöre
und nichts den Blick nach oben störe.

Ich mag der Bäume stilles Stehen
Und schweig ihr Schweigen mit
Darin versunken lockt das Lied
Des Nichts, aus dem die Fülle tritt.
In allem herbstlichen Vergehen
Ruft mich das große Auferstehen !

[Wolfgang Schneller in Christ in der Gegenwart
42, 55. Jahrgang, 19.10. 03, Seite 360]
.


hl antwortete am 19.10.03 (21:37):

Helle Nacht

Herbst hat den silbernen Schaum seiner Beeren
Über die Klippen der Sträucher gegossen.
Fürchte dich nicht - Kein Gischtregen sprüht mehr,
Der uns das Schweigen im Spiegel zerbricht.

Eben noch meinst du, im Scheibenlicht wären
Fische erschienen und rührten die Flossen.
Fürchte dich nicht - kein Schuppenschwarm zieht mehr
Über die Kissen bis vor dein Gesicht.

Vergiss auch die Beeren, sie schweben in schweren
Bündeln zum Mond als des Mondes Genossen.
Fürchte dich nicht - nichts Arges geschieht mehr,
Überhand nehmen kann nur noch das Licht.

Georg von der Vring


poetax antwortete am 20.10.03 (13:16):


Herbst

Um die Großstadt sinkt die Welt in Schlaf.
Felder gilben, Wälder ächzen überall.
Wie Blätter fallen draußen alle Tage,
Vom Zeitwind weggeweht.

Ob Ebene und Wald in welkes Sterben fallen,
Ob draußen tost Vergänglichkeit,
Im Stadtberg brüllen Straßen, Hämmer hallen:
Die Stadt dampft heiß in Unrast ohne Zeit.

[Gerrit Engelke 1890-1918]
.


hl antwortete am 21.10.03 (15:21):

Herbstenschluß

Trübe Wolken, Herbstesluft,
Einsam wandl' ich meine Straßen,
Welkes Laub, kein Vogel ruft
Ach, wie stille! wie verlassen!

Todeskühl der Winter naht;
Wo sind, Wälder, eure Wonnen?
Fluren, eurer vollen Saat
Goldne Wellen sind verronnen!

Es ist worden kühl und spät,
Nebel auf der Wiese weidet,
Durch die öden Haine weht
Heimweh; - alles flieht und scheidet.

Herz, vernimmst du diesen Klang
Von den felsentstürzten Bächen?
Zeit gewesen wär' es lang,
Daß wir ernsthaft uns besprächen!

Herz, du hast dir selber oft
Weh getan und hast es andern,
Weil du hast geliebt, gehofft;
Nun ist's aus, wir müssen wandern!

Auf die Reise will ich fest
Ein dich schließen und verwahren,
Draußen mag ein linder West
Oder Sturm vorüberfahren;

Daß wir unsern letzten Gang
Schweigsam wandeln und alleine,
Daß auf unserm Grabeshang
Niemand als der Regen weine!

Nikolaus Lenau


poetax antwortete am 21.10.03 (15:44):

Herbstmorgen in Holland (Erich Fried)

Die Nebelkuh
im Nebelmeer
muht nebel mei-
nem Bahngleis her

nicht neben, denn
wo Nebel fällt,
wird auch das n
zum l entstellt.

Herbstmorgel il Hollald
Lul weiter il die Lebelwelt,
so bil ich eldlich kolsequent
uld sage licht mehr Nebel
lur Lebel
.


hl antwortete am 21.10.03 (16:04):

Lied der Jahre

Wer bin ich und wie halte ich die Jahre,
Die glühn, verflackern, sinken wie der Mohn?
Wohin der Duft? Und wer bewahrt den Ton?
Hoch flog der Ball im Aufwind junger Jahre.
Nun fällt er schon...?

Ist dies verloren, ist es je geschehen?
Schlaf unter Sternen; Küsten meerumbaut;
Der ströme Wandern; Städte hochgebaut? -
Ich könnte wieder alte Straßen gehen...
Sie wären nicht vertraut.

Wer bin ich, da mir dies entsunken?
Und wer vor dem, was die Zukunft mir gepaart?
Und wer, vom Winde wach, vom Weine trunken,
Inmitten eines Schwarms und dieser Fahrt
Von Seelenvögeln und von Geisterfunken?
Gibt Antwort, Gegenwart!

Ich bin, ich atme - eines: Mund und Flöte.
Ich spiele mir ein Lied; ich bin das Lied.
Ich bin der Hauch, der durch die Hoffnung zieht,
Der Spieler und das Spiel, der Leib der Flöte,
Der Flöte Lied.

Was frag ich nach dem Lied verschollener Jahre...
Ich bin. Ich atme. Hör ich nicht den Ton?
Hell schwebt die Wolke. Leuchtend brennt der Mohn.
Die Flöte harrt. Lass singen deine Jahre.
Ich hör sie schon.

Rudolf Hagelstange


hl antwortete am 21.10.03 (23:50):

Mein Stern

Oft in meinem Abendwandel hefte
Ich auf einen schönen Stern den Blick,
Zwar sein Zeichen hat besondre Kräfte,
Doch bestimmt und zwingt er kein Geschick.
Nicht geheime Winke will er geben,
Er ist wahr und rein und ohne Trug,
Er beseliget und stärkt das Leben
Mit der tiefsten Sehnsucht stillem Zug.

Nicht versteht er Gottes dunkeln Willen,
Noch der Dinge letzten ewgen Grund,
Wunden heilt er, Schmerzen kann er stillen
Wie das Wort aus eines Freundes Mund.

In die Bangnis, die Bedrängnis funkelt
Er mit seinem hellsten Strahle gern,
Und je mehr die Erde mählich dunkelt,
Desto näher, stärker brennt mein Stern.

Holder! Einen Namen wirst du tragen,
Aber diesen wissen will ich nicht,
Keinen Weisen werd ich darum fragen,
Du mein tröstliches, mein treues Licht!

C.F.Meyer


tiramisusi antwortete am 22.10.03 (23:42):

za Medea: :-)

Nad mòrzem, północa, bije wiéldzi zwón,
zagrałë bazunë od nôdalszëch strón.
Wëbiegają z chëczë maszopi:
"Czë sã chtos na morzu topi?
Koga dzysô zgón?
Koga dzysô zgón?"
Stanãłë na sztrądze, zdrzą w bezmiérną
dôl,
a tu jasnosc wiélgô bije westrzód fal.
Spiéwã czëc je, że w stajence,
przë Starëszku i Panience -
"Dzecko - Bożi dôr!
Dzecko - Bożi dôr!"


iustitia antwortete am 23.10.03 (00:31):

Nad.... (Nud? Äh - nu???)

Auf dem Meer um Mitternacht schellt eine grosse Glocke,
Die Trompete wird in den entfernten Ländern gehört.
Fischer laufen aus ihren Hütten heraus:
"hat jemand, das ertrunken wird im Meer?",
Wer Tag ist heute gekommen?
Wer Tag ist heute gekommen?
Sie stoppen auf dem Ufer und starren herüber,
Und hier sehen sie ein schönes Licht unter
die Wellen.
Singend wird im Stall gehört,
Der alte Mann und Mary haben
Ein Kind - Geschenk des Gottes!
Ein Kind - Geschenk des Gottes!


Sofia204 antwortete am 23.10.03 (12:46):

Herbstwind schwedisch

Höstens Wind

Blaskig Trottoar
gra�blankt lyser
slaskigt Rännsten
huttar ryser
krokig Ryggrad
böjer frama�t
uppfälld Krage
väjar dyva�t
- i Höstens Wind.
Sturrör frustar
Tystnad skrämmer
gra�vitt Hankatt
hema�t ränner
grenrik, spöklik
väjar Linden
rispar, raspar
Husknudkinden
- i Höstens Wind

Roland Ewertsson

***

Schweden - eisige Land mit seiner Mitternacht,
der Eingang zum Reich der Larven und Gespenster.
C.F.Meyer


tiramisusi antwortete am 23.10.03 (13:23):

oh schööön :-) Ich kliebe Schwedisch!
Hier mein spanisches Lieblingsgedicht, es ist von Federico Garcia Lorca und stammt aus dem "Canto Jondo" Zyclus:

LA CASADA INFIEL
(Die untreue Ehefrau)

Y yo que me la lleve al río
creyendo que era mozuela,
pero tenía marido.

Fue la noche de Santiago
y casi por compromiso.
Se apagaron los faroles
y se encendieron los grillos.
En las últimas esquinas
toque sus pechos dormidos,
y se me abrieron de pronto
como ramos de jacintos.
El almidón de su enagua
me sonaba en el oído
como una pieza de seda
rasgada por diez cuchillos.

Sin luz de plata en sus copas
los árboles han crecido
y un horizonte de perros
ladra muy lejos del río.

*

Pasadas las zarzamoras,
los juncos y los espinos,
bajo su mata de pelo
hice un hoyo sobre el limo.
Yo me quité la corbata.
Ella se quito el vestido.
Yo, el cinturón con revólver.
Ella, sus cuatro corpi�os.
Ni nardos ni caracolas
tienen el cutis tan fino,
ni los cristales con luna
relumbran con ese brillo.

Sus muslos se me escapaban
como peces sorprendidos,
la mitad llenos de lumbre,
la mitad llenos de frío.
Aquella noche corrí
el mejor de los caminos,
montado en potra de nácar
sin bridas y sin estribos.

No quiero decir, por hombre,
las cosas que ella me dijo.
La luz del entendimiento
me hace ser muy comedido.
Sucia de besos y arena,
yo me la llevé del río.
Con el aire se batían
las espadas de los lirios.

*

Me porté como quien soy.
Como un gitano legítimo.
Le regalé un costurero
grande, de raso pajizo,
y no quise enamorarme
porque teniendo marido
me dijo que era mozuela
cuando la llevaba al río.

Übersetzung auf Wunsch nächste Woche, wenn ich wieder da bin.Es ist eines der sinnlichsten Gedichte, die es in spanischer Sprache gibt. Es erzählt ein kleines Liebesabenteuer eines Zigeuners, dem eine junge Frau gesagt hat, dass sie ledig sei - später aber, als die beiden am Fluss sind, gesteht sie, dass sie verheiratet ist ..

Er beschreibt die sinnlichen Laute eben dieser untreuen Ehefrau, "als ob ein Stück Seide mit zehn Messern zerschnitten wird" und unvergleichlich, in wenigen Worten, beschreibt er den Duft, der sich unter einer langen Haarpracht im Nacken in der feuchten kleinen Mulde unter dem Haaransatz bildet...


Sofia204 antwortete am 23.10.03 (16:18):

und gibt es bis dahin vielleicht
eine Übersetzung zu dem Gedicht an Medea.?


tiramisusi antwortete am 23.10.03 (16:42):

die hat freund iustitia schon druntergesetzt :-)
es ist ein kaschubisches weihnachtslied


hl antwortete am 23.10.03 (16:52):

Die pflichtvergessene Frau durch Federico Garcia Lorca

So nahm ich sie zum Fluß
glaubend war sie ein Erst,
aber sie hatte bereits einen Ehemann.
Er war auf Nacht Str. James
und fast, als ob ich zu verbunden wurde.
Die Laternen erloschen
und die Kricket beleuchteten oben.
In den weitesten Straßenecken
Ich berührte sie Schlafenbrüste
und sie öffneten sich zu mir plötzlich
wie Spitzen der Hyazinthe.
Die Stärke ihres Petticoat
geklungen in meinen Ohren
wie ein Stück Seide
Miete durch 10 Messer.
Ohne silbernes Licht auf ihrem Laub
die Bäume waren größer gewachsen
und ein Horizont der Hunde
sehr gebellt weit von den Fluß.

Hinter den Brombeeren
die Schilfe und das hawthorne
unter ihren Block des Haares
Ich bildete eine Höhle in der Masse
Ich entfernte meinen Riegel,
sie auch weg von ihrem Kleid.
I, mein Riemen mit dem Revolver,
Sie, ihre vier Mieder.
Noch nard noch Mutter-o'-Perle
haben Sie Geldstrafe der Haut so,
noch Glas mit Silber
Shine mit solcher Helligkeit.
Ihre Schenkel glitten weg von mir
Gleiches startled Fische,
beinahe voll vom Feuer,
beinahe voll von der Kälte.
Diese Nacht lief ich
auf dem besten der Straßen
angebracht an einer nacrestute
ohne Zaumsteigbügel.

Als Mann wiederhole ich nicht
die Sachen, die sie zu mir sagte.
Das Licht des Verstehens
hat mich diskreter gebildet.
Geschmiert mit Sand und Küssen
Ich nahm sie weg vom Fluß.
Die Klingen der Lilies
gekämpft mit der Luft.

Ich benahm mich wie was ich bin,
wie ein korrekter Zigeuner.
Ich gab ihr einen großen Nähenkorb,
von Stroh-farbigem Satin
aber ich verliebte nicht
für, obgleich sie einen Ehemann hatte
sie erklärte mir, daß sie ein Erst war
als ich sie zum Fluß nahm.



google-Übersetzung *g*


tiramisusi antwortete am 23.10.03 (17:40):

*hintenüberkipp* oh HL... herrlich..ich brech zusammen :))
danke, selten so gelacht ...LOL
vielleicht schaff ichs mit der übersetzung heute nacht noch, habe nur viel arbeit ab 20h und muss eine nachtschicht machen und eine datenbank beim kunden einrichten - ächz


hl antwortete am 23.10.03 (17:47):

würde mich freuen, denn selbst die vergoogelte Übersetzung verspricht ein gutes Gedicht


aknediw antwortete am 24.10.03 (22:44):

Kassenhass
Ein Mann, der eine ganze Masse
Gezahlt hat in die Krankenkasse,
Schickt jetzt die nötigen Papiere,
Damit auch sie nun tu das ihre.
Jedoch er kriegt nach längrer Zeit
statt baren Gelds nur den Bescheid,
Nach Paragraphenziffer X
Bekomme er vorerst noch nix,
Weil, siehe Ziffer Y,
Man dies und das gestrichen schon,
So daß er nichts, laut Ziffer Z,
Beanzuspruchen weiter hätt.
Hingegen heißt's, nach Ziffer A,
Daß er vermutlich übersah,
Daß alle Kassen, selbst in Nöten,
Den Beitrag leider stark erhöhten
Und daß man sich, mit gleichem Schreiben,
Gezwungen seh, ihn einzutreiben.
Besagter Mann denkt, krankenkässlich,
In Zukunft ausgesprochen häßlich.

Eugen Roth

Ist heute noch genau so.
Adolf


eika antwortete am 25.10.03 (15:53):

Die große Fracht

Die große Fracht des Sommers ist verladen,
das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,
die große Fracht des Sommers ist verladen.

Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
und auf den Lippen der Galionsfiguren
tritt unverhüllt das Lächeln der Lemuren,
das Sonnerschiff im Hafen liegt bereit.

Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,
kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;
doch offnen Auges wirst du im Licht ertrinken,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.

Ingeborg Bachmann

Für dieses Gedicht erhielt sie 1953 den Preis "Gruppe 47".
Sie starb bei einem Brandunfall in Rom vor 30 Jahren.


eika antwortete am 01.11.03 (12:17):

Wer kommt?

Novemberschwärze vor verwaschnem Hell:
die letzten Sonnenblumen stehen schwarz Modell.
Seitab verglühen restlich Hagebutten.
Weil oben, nässen Bäume ohne Kutten.

Gestaffelt und vereinzelt, auch der Nußbaum leer.
Fern übt mit Waffenschein ein einsames Gewehr.
Den häßlich kleinen Unterschied vertuscht der Nebel.
Ach, wüßt ich dem Adventsgebrüll doch einen Knebel.

Wer kommt, ist da, multipliziert?
Im Radio angekündigt, nur wie üblich, ein Orkan,
der seine Wut gewöhnlich unterwegs verliert.
Vor jähem Frost geschützt der blanke Wasserhahn,
verschnürt die Päckchen, fertig zum Versand;
demnächst droht Weihnacht dem Novemberland.

Günter Grass


Medea. antwortete am 01.11.03 (18:59):

Liebe tiramisusi
liebe justitia -

gerade sehe ich in das Kapitel Gedichte und finde
ein Gedicht in kaschubischer Sprache - ich bedanke mich sehr bei Euch beiden - einmal für das Einsetzen und zum anderen für das "Übersetzen" ... .-)

(hat da auch ein wenig Madame goggle mitgewirkt? ;-) )

Seit meiner Schwiegermutter und Günter Grass (Blechtrommel) habe ich es ja mit den Kaschuben - und häufig das Liedchen "Wo kommen denn all' die Kaschuben her, es sind so viele wie Sand am Meer..." im Ohr. Leider habe ich sie damals nie nach dem vollständigen Text gefragt und nun ist sie schon so viele Jahre unter der Erde ....
Ihr habt mir beide eine Freude gemacht -
und dafür bedanke ich mich.


Medea. antwortete am 01.11.03 (19:07):

Nähe des Geliebten

Ich denke Dein, wenn mir der Sonne Schimmer vom Meere strahlt,
ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer in Quellen malt.
Ich sehe Dich, wenn auf dem fernen Wege der Staub sich hebt;
in tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen die Welle steigt.
Im stillen Haine geh' ich oft zu lauschen, wenn alles schweigt.
Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,
Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne. -
Oh, wärst du da!


poetax antwortete am 01.11.03 (21:35):

Allerseelen

Urnen füllen sich und Krüge
mit der Jahre grünem Moose.
Es verliert im Busch der Weg sich,
es verwilderte die Rose.

Rost stürzt durch die Tür der Grüfte,
wo die Gräser fröhlich sprießen,
Schloss und Riegel bröckeln nieder.
Was ist hier noch zu verschließen?

Nutzlos sind die Lebenslettern
denen, die so tief hier schlafen.
Namen lösen sich und Zahlen
von den alten Epitaphen.

An den Steinen, die zerfallen,
an den Kreuzen, die sich neigen,
merkst du, dass die Totenklagen
längst geheilt sind durch das Schweigen.

Denn es löst die Zeit die Schmerzen,
die uns bleiben als Vermächtnis.
Länger währt das Reich der Toten
als der Lebenden Gedächtnis.

[Friedrich Georg Jünger 1898-1977]
.


Medea. antwortete am 02.11.03 (07:54):

Leider ist "Nähe des Geliebten"
nicht von mir. ;-)
Habe vergessen, den ollen Goethe einzusetzen, also:
von Johann Wolfgang von Goethe.


poetax antwortete am 07.11.03 (22:09):

Reklame

Wohin aber gehen wir
ohne sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
aber
mit musik
was sollen wir tun
heiter und mit musik
und denken
heiter
angesichts eines Endes
mit musik
und wohin tragen wir
am besten
unsre Fragen und den Schauer aller Jahre
in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn Totenstille

eintritt

(Ingeborg Bachmann)
.


tiramisusi antwortete am 08.11.03 (18:00):

ich hatte es ja versprochen ..
hier eine eigene übersetzung des gedichts von garcia lorca
"la casada infiel" - solltet ihr es mal anders übersetzt irgendwo finden - da hab ich nicht abgeschrieben :-))

Und ich, der sie mit sich nahm zum Fluss,
glaubte, sie wäre ledig,
aber sie hatte einen Ehemann.

Es war die Nacht auf St. jakob
und fast als hätten sie sich mit mir verbündet,
erloschen die Laternen
und die Grillen begannen zu leuchten.
Bis in die äussersten Winkel
berührte ich ihre schlafenden Brüsten
und sie öffneten sich mir
wie Knospen von Hyazinten.
Die Stärke ihres Petticoats
raschelte an meinem Ohr
wie ein Stück Seide
das man mit zehn Messern zerschneidet.

Ohne Silberlicht in ihren Kronen
schienen die Bäume noch höher
und ein Horizont von Hunden
bellte weit weg vom Fluss.

Hinter den Himbeersträuchen,
dem Schilf und dem Weissdorn
baute ich uns ein Lager,
leicht feucht und duftend
wie in der Mulde
unter ihrem schweren Haar

Ich legte meinen Gürtel ab,
sie ihr Kleid -
Ich den Koppel mit dem Revolver.
Sie ihre vier Mieder:
Keine Narde und keine Perlmutt
waren dieser zarten Haut gleich
und kein Kristall im Mondlicht
leuchtet mit diesem Glanz.

Ihre Schenkel entwischten mir
wie erschrockene Fische
halb voller Glut,
halb voller Kälte.
In dieser Nacht folgte ich
dem besten aller Pfade!
Rittlings reitend auf dieser Stute
ohne Zügel und ohne Steigbügel...

Ich werde - bei meiner Ehre
nicht widerholen, was sie mir flüsterte.
Das Funkeln des Verstehens
liessen mich zurückhalten.
Besudelt von Küssen und von Sand
führte ich sie wieder fort vom Fluss
und die Schwertlilien kämpften mit dem Wind.

Ich schenkte ihr einen grossen Nähkorb
aus strohfarbenem Satin
aber ich verliebte mich nicht in sie,
denn sie hatte schon einen Ehemann.
Aber sie sagte mir, sie sei frei
als ich sie mit mir nahm, zum Fluss.

Anmerkung: sehr schön finde ich seine kleine Anspielungen auf das Hohelied Salomos, wie zB:
"Was dir entsprosst, ist ein Lustgarten von Granatapfelbäumen samt köstlichen Früchten, Hennasträuchern samt Narden"

Demnächst mehr von Spaniens grösstem Poeten


lola antwortete am 09.11.03 (09:58):

Herbstbeginn - Hermann Hesse (1877-1962)

Der Herbst streut weiße Nebel aus,
Es kann nicht immer Sommer sein!
Der Abend lockt im Lampenschein
Mich aus der Kühle früh ins Haus.

Bald stehen Baum und Garten leer,
Dann glüht nur noch der wilde Wein
Ums Haus, und bald verglüht auch der,
Es kann nicht immer Sommer sein.

Was mich zur Jugendzeit erfreut,
Es hat den alten frohen Schein
Nicht mehr und freut mich nimmer heut -
Es kann nicht immer Sommer sein.

O Liebe, wundersame Glut,
Die durch der Jahre Lust und Mühn
Mir immer hat gebrannt im Blut -
O Liebe, kannst auch du verglühn?


poetax antwortete am 12.11.03 (13:38):

Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind

Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind,
sein Ross, das trug ihn fort geschwind.
Sankt Martin ritt mit leichtem Mut,
sein Mantel deckt ihn warm und gut.

Im Schnee da saß ein armer Mann,
hatt' Kleider nicht, hatt' Lumpen an.
"O helft mir doch in meiner Not,
sonst ist der bittre Frost mein Tod!"

Sankt Martin zieht die Zügel an,
das Ross steht still beim armen Mann.
Sankt Martin mit dem Schwerte teilt
den warmen Mantel unverweilt.

Sankt Martin gibt den halben still,
der Bettler rasch ihm danken will.
Sankt Martin aber ritt in Eil
hinweg mit seinem Mantelteil.

Sankt Martin legt sich müd' zur Ruh,
da tritt im Traum der Herr dazu.
Er trägt des Mantels Stück als Kleid,
sein Antlitz strahlet Lieblichkeit.

Sankt Martin sieht ihn staunend an,
der Herr zeigt ihm die Wege an.
Er führt in seine Kirch' ihn ein,
und Martin will sein Jünger sein.

Sankt Martin wurde Priester gar
und diente fromm an dem Altar,
das ziert ihn wohl bis an das Grab,
zuletzt trug er den Bischofsstab.

Sankt Martin, o du Gottesmann,
nun höre unser Flehen an,
o bitt für uns in dieser Zeit
und führe uns zur Seligkeit.

Volkslied aus dem Rheinland, 20.Jh.

.


hl antwortete am 13.11.03 (15:45):

Louise Otto-Peters (1819-1895)

Nebel

Es lagert rings umher ein grauer Flor -
Ich weiß es nicht: bricht noch die Sonn' hervor?
Wird dieser Nebel heut sie ganz verhüllen?
Und ob er steigt, und ob er niederfällt?
So frag' ich wohl - doch schweigend ruht die Welt
Und Flur und Thal mit Dunst sich füllen.

Es dampft der Wald, ein rauchender Altar,
Einsam darüber kreist ein scheuer Aar,
Er möchte gern empor zur Sonne steigen -
Doch nur ein matter Punkt im Aethermeer
Erscheint sie heut, sonst alles grau umher -
Unheimlich bang ist dieses Schweigen!

Ein Bild der Zeit! Ein Nebel schließt uns ein -
Kein Wetter tobt, es glänzt kein Sonnenschein -
Die Welt gehüllt in eine weite Wolke!
Kein Adlerblick erspäht der Sonne Glanz -
Der Freiheit Sonne - sie verhüllt sich ganz -
Ein dumpfes Schweigen rings im Volke.


marie2 antwortete am 13.11.03 (16:38):

Es gibt noch Wunder

Es gibt noch Wunder, liebes Herz,
getröste dich!
Erlöste dich
noch nie ein Stern aus deinem Schmerz?

Das Strahlenspiel
vom hohen Zelt
in deiner Qualen
Tiefe fiel
und sprach; "Sieh, wie ich zu dir kam
vor allen andern ganz allein!
Bin ich nicht dein?
Getröste dich!"

Erlöste dich
noch nie ein Stern?

Christian Morgenstern


poetax antwortete am 15.11.03 (21:08):



Ich hatt' einen Kameraden,
einen bessern find'st du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
er ging an meiner Seite
in gleichem Schritt und Tritt,
in gleichem Schritt und Tritt.

Eine Kugel kam geflogen,
gilt's mir oder gilt es dir?
Ihn hat es weggerissen,
er liegt mir vor den Füßen,
als wär's ein Stück von mir,
als wär's ein Stück von mir.

Will mir die Hand noch reichen,
derweil ich eben lad'
"Kann dir die Hand nicht geben,
bleib' du im ew'gen Leben,
mein guter Kamerad,
mein guter Kamerad."

[Ludwig Uhland]
.


poetax antwortete am 22.11.03 (21:32):

ich liebe das Novembergelb
den Morgentau auf Spinnenfäden,
der kurzen Tage stummes Reden,
das Blatt, das nichts am Baum mehr hält
der Krähe Ruf, das Stoppelfeld -
mehr als des Frühlings Drang und Hast
ist es der Herbst, der zu mir passt
.


ianna antwortete am 23.11.03 (00:22):

Herbst-Melancholie

Mir welkt kein Garten:
Ich habe keinen.
Kein Haus, durch das Novemberwinde weinen.
Mir tut das schwärzeste Gewölk nicht weh,
Weil ich so selten nur den Himmel seh.

Ich ziel nicht mehr auf goldne Himmelssterne,
Mich tröstet eine kleine Gaslaterne.
Mich täuscht kein Glück, enttäuscht kein Warten.
Mich schmerzt kein Herbst,
Mir welkt kein Garten...

Mascha Kaléko