Archivübersicht | Impressum

THEMA:   Mein Stein

 48 Antwort(en).

DorisW begann die Diskussion am 24.10.03 (08:17) mit folgendem Beitrag:

Teil I

Mein Stein gehört mir gar nicht, er ist Eigentum des lieben Gottes oder der Regierung, ich weiß nicht, wessen. Sicher ist nur, daß sich außer IHM, der ihn erschuf, und mir, der ihn entdeckte, noch nie jemand um diesen Stein gekümmert hat. Nur die Fuhrleute verfluchen ihn manchmal, weil sie mit der Radkappe hängenbleiben, wenn sie einen Wagen voll Langholz um die Ecke fahren wollen. Gäbe es dort keinen Stein, dann müßten sie gar nicht um die Ecke fahren, aber was soll man machen, da liegt er eben seit hunderttausend Jahren, nach meiner Schätzung.
Er ist kein Hiesiger. In grauer Vorzeit ließ er sich von den Gletschern aus dem Urgebirge hierhertragen und setzte sich am Kreuzwechsel der Bären und Wölfe fest, mit dem lästigen Eigensinn aller Zugereisten. Von Zeit zu Zeit besuche ich ihn, wie einen Freund, der mit dem Alter ein bißchen wunderlich geworden ist. Er duldet meine Gesellschaft arglos, ich aber trage mich mit hinterhältigen Plänen, er darf nicht merken, was ich eigentlich mit ihm vorhabe. Seit Jahren träume ich nämlich davon, den alten Burschen auszugraben und in meinen Garten zu wälzen. Die Schwierigkeit liegt zunächst darin, daß ich nicht dahinterkommen kann, wie groß er eigentlich ist. Er zeigt mir nur seinen grauhäutigen Schädel und eines von seinen listigen Augen aus weißem Quarz; leicht möglich, daß er unterhalb die Maße eines Elefanten hat. Natürlich könnte ich mit Krampen und Schaufel ausrücken, iin der Morgenfrühe, wenn noch niemand um die Wege wäre. Aber es ist ja immer jemand unterwegs, ein neugieriger Nachbar. Der fände die Sache verdächtig, als wollte ich da heimlich eine Kindsleiche begraben, und deshalb müßte ich ihm mein Vorhaben erklären. Daraufhin liefe der Nachbar zum Pfarrer, wohin denn sonst? Der alte Herr überdächte das Ganze sorgsam und spräche bei Gelegenheit mit dem Vorstand, ob es etwa geraten sei, den Wachtmeister zu verständigen. Erst dieser Mann der Ordnung fände dann die richtige Lösung. Er würde den Doktor zu mir schicken, damit er mir an das Knie klopfte und ein wenig herumfragte, was das Trinken betrifft oder gewisse Vorkommnisse in meiner Verwandtschaft. Denn meinesgleichen muß dem Gemeinwesen unheimlich sein, ein Mensch, der Steine in seinen Garten schleppen will, während sich doch vernünftige Leute Jahr und Tag damit abmühen, sie hinauszuschaffen.


DorisW antwortete am 24.10.03 (08:18):

Teil II

Lange habe ich überlegt, ob ich etwa eine Eingabe an die Obrigkeit richten könnte, ein Gesuch um Verleihung eines Feldsteines. Hohe Regierung, würde ich schreiben und dann mein Anliegen in vorsichtigen Worten auseinandersetzen. Wie ich die Jahre hindurch schlecht und recht gelebt und den Zins für mein Dasein entrichtet hätte, ohne lauter als heimlich zu murren. Gewiß sei das meine Pflicht gewesen, besondere Verdienste könne ich durchaus nicht vorweisen. Meine Bitte ginge also rundweg dahin, mir ohne jeden Grund, sozusagen gnadenhalber, aus öffentlichen Mitteln einen Stein zu schenken. Dies in völliger Ergebenheit.
Die Obrigkeit müßte dann einen Ausschuß ernennen und in das Dorf schicken, sachverständige Leute, die mancherlei zu bestimmen und zu klären hätten, Maß und Gewicht des Steines und seinen Wert für Wissenschaft und Handel. Es wäre auch die Möglichkeit zu erwägen, daß seine Entfernung etwa das Bild der Landschaft nachteilig verändern könnte. Und wenn sich das alles zu meinen Gunsten entschiede, bliebe noch immer die schwierigste Frage offen, die nämlich, wozu ich den Stein überhaupt brauchte.
Das aber wüßte ich nicht. Um ihn zu haben. Um ihn unter meiner Birke liegen zu haben, zwischen den Haselbüschen, gewärmt von der Sonne, gebadet vom Regen, mit Moos und Efeu schön begrünt, einen uralten, mächtigen, ehrwürdigen Stein. Um Erde in seine Spalten zu streuen und Gräser darin wachsen zu lassen. Um abends und morgens hinauszugehen und mit der Hand über sein rauhes Gesicht zu streichen. Die Vögel würden auf ihm sitzen und singen, ich selber nicht mehr. Denn die Jahre sind hingegangen; ihm hat es nichts ausgemacht, aber ich bin alt geworden. Ich gehe krumm, wenn ich zu lang auf einem Stein sitze.
Ach, was für Sorgen, liebe Leute! Es ist recht schwierig, ein Narr zu sein, wenn es niemand merken soll!

*

Und jetzt kommst du, Anton :-))
Wer war's?


mart antwortete am 24.10.03 (08:54):

Erinnert mich irgendwie an Stifter.


DorisW antwortete am 24.10.03 (09:18):

Da ich leider noch nichts von Stifter gelesen habe, kann ich dir nicht sagen, wie nahe du dran bist, mart...

Aber er selbst ist es nicht.

Immerhin liegst du so weit richtig, dass es sich um einen Landsmann von dir handelt :-)


mart antwortete am 24.10.03 (09:34):

"Die meisten verstehen nur die Frakturschrift im Buche der Schöpfung
und übersehen die kleine Perlschrift auf Wiesenblumen und Schmetterlingsflügeln."

Zitat Adalbert Stifter


mart antwortete am 24.10.03 (09:49):

Dann P.R.?


DorisW antwortete am 24.10.03 (10:05):

Hmmm, schöner Satz :-)

Aber Peter Rosegger ist es auch nicht.


iustitia antwortete am 24.10.03 (11:45):

Doris!
Toller Text! Habe aber noch keine Ahnung...
So gingen meine Assos: Tucho? Zuckmayer?
Passt aber alles nicht so!
Dann der lyrische "Narr" Brambach. Aber der ist nicht so hintergründlich...
Will noch einen Tag büffeln und schnüffeln...
Danke schön..!
Oder, wahnwitziger Blitz durch graue Zellen: Katharina?? (Habe seit Monaten nix von ihr gehört...!)


Sofia204 antwortete am 24.10.03 (15:03):

bin schon sehr gespannt, wer es ist.
Von d e m Dichter möchte ich mehr lesen,
vielleicht F.G.?


DorisW antwortete am 24.10.03 (15:23):

Hmmmmm... jetzt gibst du *mir* aber ein Rätsel auf, Sofia :-)

Ich weiß nicht, wer F.G. sein könnte, aber auch der ist es den Initialen nach nicht...


Medea. antwortete am 24.10.03 (16:01):

Mir kommt Stefan Zweig in den Sinn ....
Österreicher ist er zwar, aber ....???


mart antwortete am 24.10.03 (16:35):

Ich glaube, dazu ist es zu betulich und der Satzbau zu einfach.

Eher noch ein Herr W.


Sofia204 antwortete am 24.10.03 (16:50):

@DorisW,
ich meinte Grillparzer, leider falsch,
der Goethe aber,
der das Veilchen im Wald ausgegraben hat
um es zu Hause am stillen Ort weiterblühen zu lassen,
ist kitschig im Vergleich zu diesem o.a.(Weltliteratur)-Text


wanda antwortete am 24.10.03 (18:38):

ich bin nur interessiert, sonst gar nichts, alle Vermutungen, habe ich wieder fallen gelassen .....?


DorisW antwortete am 24.10.03 (18:56):

mart,
tatsächlich, ein Herr W.

Aber welcher?


Medea. antwortete am 24.10.03 (19:26):

Bruno Walter,
Franz Werfel,
Jacob Wassermann ?


mart antwortete am 24.10.03 (19:30):

Ich denke der Inhalt und die Diction könnte zu Waggerl passen, aber ich habe so oft schon falsche Tipps abgegeben, daß ich mich auch dafür nicht mehr genieren muß.


Medea. antwortete am 24.10.03 (21:46):

Karl-Heinrich Waggerl, "Mein Wiesenbuch" ...
so abwegig ist das doch gar nicht,

Jetzt warte ich aber auf die Auflösung durch DorisW. :-))


DorisW antwortete am 24.10.03 (23:09):

Hut ab, keiner braucht sich zu genieren :-))

Karl-Heinrich Waggerl, "Liebe Dinge" - das ist eine Sammlung von 12 Miniaturen, die ich mal für ein oder zwei Mark auf dem Flohmarkt gekauft habe. Und wie so viele Bücher bzw. Autoren, die ich ganz zufällig gefunden habe, ist es mir ans Herz gewachsen.
Das "Wiesenbuch" steht übrigens gleich daneben im Regal, Medea. :-)


iustitia antwortete am 24.10.03 (23:57):

Toller Text! DerWaggerl gehört mit einigen Texten zu den Motiven für Weihnacht, Nachbarschaft, HIlfe..
Ich hatte einen anderen Austriaker im Kieck. Von dem biete ich hier diesen Text:
N.N.: THE SCHOOL.

Die kleinen Kinder haben die sanftesten Augen von der Welt. Paradieses-Augen. Drückst du diese kleinen schwarzen Kinder an dein Herz, schmeichelst du ihnen, legst deine Hand auf ihren wolligen Kopf, so schauen sie dich an - - - - niemand könnte es ausdrücken!
�Wie unser Bobo - - - �, sagte ein kleines Mädchen. Niemand wußte dadurch mehr. �Können diese schwar-zen Menschen auch denken?!� sagte das kleine Mäd-chen.
�Dummerl - - - �, erwiderte der Vater ganz stolz und blickte einen Nachbar an, welcher gar nicht zugehört hatte und diesen stolzen väterlichen Blick zertrat, weg-blies.
Die Namen der kleinen Buben sind: Ago, Tajhwia, Amon, Kodjo, Nóté, Swaté, Sabah, Ofolukwakü. Schöne Namen, nicht?! Voll Ausdruck. Englisch können sie be-reits folgendes:
song = lala in ihrer Sprache.
monkey = adün
mouse = kwäkwé
fly = adodan
cat = alonté
rat = obisji
knife = käklä
Welche Sprache ist die schönere?!
Sanfter jedenfalls ist das Odji, wirklich hier der tönend gewordene Mensch selbst, der ganze Mensch ausge-drückt im Laute, keine beliebige Musik. Wie ein dunkles sanftes Herz, welches zu sprechen anfinge -.
Diese Kinder weinen lautlos. Wie ein inneres Drama ist es. Das Gesicht bleibt unbekümmert. Durchaus keine Klage. Die Tränen rinnen herunter, nicht wie aus dem Antlitz kommend, sondern dieses nur zufällig passierend auf ihrem schweren Wege.
Ganz unbekümmert ist das Gesicht, während die Tränen rinnen - - -.
*
Es stehen einige Texte von ihm bei gutenberg.de
Muss ich mal gleich nachforschen..


Medea. antwortete am 25.10.03 (14:57):

Hallo justitia

könntest Du nicht als kleine Hilfe die beiden Anfangsbuchstaben des Namens preisgeben? :-))


schorsch antwortete am 25.10.03 (14:59):

Habt ihr übrigens eine Ahnung, wo die Gletscher sind, die diese Findlinge zu uns gebracht haben?
Ich weiss es: Sie haben sie zurückgezogen - um neue Steine zu holen (;--))))


iustitia antwortete am 25.10.03 (17:28):

Nun, er war ein seltsamer P e t e r...

Z.B. fängt ein Text von ihm so an:

Weshalb ist das kein Programm der Lebensfreudigen: Von 5 - 6 abends Einatmen von Lindenblütenduft im Parke soundso?!?
(1903 zuerst erschienen)


mart antwortete am 26.10.03 (07:38):

Justitia,

Du hast schwierige Nüsse zum Knacken - ich rate: P.R.?


Medea. antwortete am 26.10.03 (08:57):

.... Als ich noch der Waldbauernbub war... ?
Ich meine den Schriftsteller hierzu.?
Vielleicht?


schorsch antwortete am 26.10.03 (09:44):

Als ich noch der Waldbauernbub war... ?

Johann Peter Hebel. Ein leider fast vergessener Volks-Schriftsteller.

Wenn ich mich recht erinnere, stammt auch die Geschichte "Zwölfischlegel" aus seiner Feder. In unseren damaligen Schul-Lesebüchern war J.P.Hebel nicht wegzudenken.


Medea. antwortete am 26.10.03 (10:05):

Ohje, lieber Schorsch... habe ich da einen Bolzen geschossen????
"Als ich noch der Waldbauernbub war" habe ich einem nur Peter zugeordnet ... :-))
Da hat mein Gedächtnis jetzt aber einen Purzelbaum geschlagen ... aber? dennoch ??


mart antwortete am 26.10.03 (10:12):

Jedenfalls gibt es von Rosegger folgendes bekanntes Buch:

Als ich noch der Waldbauernbub war
Jugendgeschichten aus der Waldheimat


Medea. antwortete am 26.10.03 (10:19):

Ja, mart, das meinte ich auch ....

Von Johann Peter Hebel sind doch die Meisterdiebgeschichten?


pina13 antwortete am 26.10.03 (17:35):

Hallo Iustitia,
könnte es sich bei dem "seltsamen Peter" um Peter Altenberg handeln? Vom Stil her würde der Text zu diesem Autor passen, ich tippe auf die Sammlung kurzer Prosastücke mit dem Titel Ashantee von 1897.
M f G
Pina


iustitia antwortete am 26.10.03 (20:08):

Ja, der alte, oll-liebe "Schnorrer" Peter A.! Der hat sich selber so genannt!
Viel Texte von ihm stehen unter:

https://www.gutenberg2000.de/altenbrg/prosaskz/0htmldir.htm

Internet-Tipp: https://www.gutenberg2000.de/altenbrg/prosaskz/0htmldir.htm


schorsch antwortete am 27.10.03 (11:22):

Asche auf mein Haupt: Natürlich meinte ich nicht J.P.Hebel, sondern P. Rosegger......


DorisW antwortete am 29.10.03 (15:43):

Weil einigen von euch "mein Stein" so gut gefallen hat, kommt hier noch eine weitere Miniatur aus dem Band "Liebe Dinge" von K. H. Waggerl:

Mein Tisch

Mein Tisch war das erste Stück Hausrat, das ich erwarb, als ich mich in jungen Jahren entschlossen hatte, seßhaft und ein gesitteter Mensch zu werden. Von nun an, dachte ich, muß dein Dasein eine feste Mitte haben, eben diesen Tisch. Du wirst mit Anstand daran sitzen, um dein Brot zu essen, und wenn du nichts zu kauen hast, kannst du wenigstens die Ellbogen darauf stützen und deine Sorgen überdenken. Haus und Hof wirst du ja doch nie gewinnen, aber dieses kleine Geviert ist so gut wie ein Stück Land. Du wirst deine Gedanken hineinsäen, und der Himmel wird sie verderben oder reifen lassen, wie sonst die Saat auf einem Acker. Es werden nur geringe Gedanken sein, das soll dich wenig kümmern. Großen Geistern ziemt es zwar, sich in große Ideen zu kleiden, aber schließlich leben auch sie wie unsereins vom täglichen Brot der kleinen Einfälle. Und was immer du tust, das Rechte wie das Schlechte, es geht seine eigenen Wege.
So war es dann auch, und so ist es geblieben. Freilich, wenn ich mich an meinen Tisch setze, muß ich ihn zuerst mit einem passend gefalteten Brief ins Gleichgewicht bringen, weil jeden Tag ein anderes von seinen vier Beinen ein wenig kürzer ist. Unten, in der Fußleiste, hat er einen Wurm sitzen, der streut seit Jahr und Tag kleine Häufchen von gelbem Holzmehl auf den Boden, unermüdlich, es muß ein Geschäft für die Ewigkeit sein, einen Tisch aufzuzehren. Auch die Platte ist nicht mehr ganz eben, unzählige Mägde haben runde Astknoten aus dem beinharten Holz gescheuert, und das ärgert mich manchmal bei der Arbeit, ich kann nicht wie der liebe Gott über Berg und Tal schreiben. Irgendwann einmal muß wohl ein verliebter Mensch an meinem Tisch gesessen haben, der schnitzte ein A und ein M hinein, und ein Herz dazu, aber nur ein halbes. Vielleicht war das Messer zuwenig scharf oder die Liebe nicht groß genug.

(Fortsetzung folgt)


DorisW antwortete am 29.10.03 (15:49):

Wunderlich, daß ich mich von jeher nur unter altem Gerümpel wohl gefühlt habe. Woran mag das liegen? Grob gesagt, ich lebe überhaupt weit lieber mit Dingen als mit Menschen. Jedes ist ein Wunder für mich, denn jedes ist nur reine Gestalt, weiter nichts. Der Sinn seines Daseins ist, ganz einfach dazusein. Freilich kann auch ein Ding sozusagen in Sünden fallen, aber daran ist immer nur der Zweck schuld, den wir ihm aufbürden. Das ist es ja auch, was unser eigenes Tun verdirbt, denn schuldlos kann nur das Zwecklose sein. Der Mensch allein ist fähig, sein wahres Wesen zu verbergen, und er ist ja auch das einzige Geschöpf, das es nötig hat. Es wäre unmöglich, zu leben, wenn es möglich wäre, daß einen jemand wirklich kennt. Ich gebe zu, das alles mag nur gleichnisweise richtig sein, ohne tieferen Zusammenhang. Aber wenn eines gar nichts mit dem anderen zu tun hat, dann ist mir das immer doppelt verdächtig.
Verdächtig auch, daß mein Herz so sehr an alten Dingen hängt. Liegt es daran, daß jedes von diesen Dingen nur einmal in der Welt vorhanden ist? Meinem Tisch zu begegnen war ein Glücksfall, unwahrscheinlich wie der, daß man unter tausend Leuten einen Menschen findet. Ich meine auch zu wissen, wie der Mann beschaffen war, der vor langen Jahren zu einem Meister ging und sagte: "Du sollst mir einen Tisch machen. Mach ihn so breit, daß ich eben nochhinüberlangen und meine Hand auf eine andere legen kann. Das Maß für die Höhe nimm von mir; wenn ich schon nicht immer aufrecht stehen darf, an meinem Tisch will ich aufrecht sitzen. Die Beine kannst du ein wenig abdrehen, des Ansehens halber, aber mach eine Trittleiste unten herum, damit es kein Gescharre auf dem Boden gibt, das haben die Weiber nicht gern. Ja, und unter die Platte zimmerst du mir eine Lade für das Brot und das Messer."


DorisW antwortete am 29.10.03 (15:54):

Der Meister machte es dann so, er tat noch ein übriges und strich das Gestell und den Kranz mit guter Farbe, und auf das Stirnbrett der Lade malte er ein heiliges Zeichen, den Namen dessen, der das Brot gibt. Inzwischen sind freilich seine Malerkünste unter dem Putzlappen der Frauenzimmer dahingegangen. Die werden ja sogar Gottes Thron bis auf das Holz blank reiben, wenn sie dereinst alle im Himmel sind.
Einmal hatte ich einen Freund zu Gast, dem gefiel mein Tisch so sehr, daß er beschloß, ihn nachmachen zu lassen. Er habe zwanzig Häuser in einer Reihe gebaut, sagte er, das erste haargenau wie das letzte, so daß die Inwohner das ihre nur wiederfinden konnten, solang sie ganz nüchtern waren. Also müßte es doch seltsam zugehen, wenn es nicht gelänge, dieses grobschlächtige Möbelstück ein zweites Mal in die Welt zu setzen. Einen Abend lang krochen wir unter dem Tisch herum und maßen und zirkelten und zeichneten alles getreu auf das Reißbrett. Aber nach Wochen, als der neue Tisch aus der Werkstatt kam, stand der Freund davor und schüttelte den Kopf. Was denn, wir krochen abermals unter den Tisch, um zu messen und zu zirkeln. Kein Zweifel, alles haargenau und richtig. Auch das Herz hatte der Meister hineingeschnitten, sogar ein ganzes, der Ordnung halber. Es war wirklich der gleiche Tisch, nur eben bei weitem nicht derselbe.
Nun, wir setzten uns dann doch wieder an den alten. Ich holte zum Trost eine Flasche aus dem Keller, weißen Wein, köstlich im Glas, und schwarzes Brot und Nüsse. Wir schwiegen gesprächig, und alles war gut.

(Ende)


Medea. antwortete am 29.10.03 (18:51):

Liebe Doris,
diese Miniaturen von K. H. Waggerl sind schon etwas
Besonderes.

Ich freue mich schon auf die nächste - sofern es Deine Zeit erlaubt.


Sofia204 antwortete am 29.10.03 (23:12):

.. ein Gedankentisch mit Astlöchern -
nicht nur für Strategen .. :-)


Sofia204 antwortete am 29.10.03 (23:18):

also Astknoten
wo 'Meter' und 'Rad' herkommen


DorisW antwortete am 07.11.03 (19:55):

K.H. Waggerl: Mein Hund

Mein Hund war ein winzig kleines Ding, als ich ihn nach Hause brachte; es sollte ein Pudel daraus werden, sagte man mir. Dem Stammbaum nach konnten seine Ahnen schon die Türken vor Wien verbellt haben, und auch in seinem Äußeren erinnerte mich einiges an die Tracht der Kavaliere in jener Zeit. Aber sonst sah er nicht nach altem Adel aus, eher wie eines von diesen schwarzen Kutscherhündchen, wie sie die Fuhrleute früher auf dem Blochwagen hatten, etwas ungemein Geschwindes und Lautes, ein Geschöpf aus durchdringendem Lärm und undurchdringlicher Wolle. Nach meiner Erfahrung bedienen sich die Mächte des Schicksals gern harmloser Geschenke, wenn sie dem Menschen ein unabsehbares Verhängnis ins Leben schmuggeln wollen, und deshalb hätte mir auch dieses Angebinde verdächtig sein müssen. Aber es war ja ein Hund, ein beseeltes Wesen also. Ich dachte, daß er mir zu einem Freund heranwachsen konnte, wenn ich mir ein wenig Mühe gäbe, zu einem fröhlichen Gefährten, und dann würde ich nicht wieder einsam sein, nur noch allein mit ihm auf meinen Wegen. Warum sollten wir nicht voneinander lernen? Die riechbare Welt scheint mir weit verläßlicher zu sein als die bloß sichtbare, und andererseits gibt es auch wieder Rätsel, die man nicht lösen kann, indem man einfach die Nase hineinsteckt.

(...)


DorisW antwortete am 07.11.03 (19:59):

Nun, der Hund wuchs heran, so weit ein Pudel zu wachsen hat. Manches in seiner Natur gab mir zu denken, eine gewisse Kargheit im Umgang, aber das schrieb ich seiner vornehmen und meiner geringen Herkunft zu. Schließlich wollte ich ja kein unterwürfiges Schweifwedeln um mich haben, einen Hund, der gleichsam immerfort lächelt wie gewisse Leute, nur eben am anderen Ende. Als er mir zum erstenmal die Zähne zeigte, nahm ich das nicht ernst. Ich kraute seinen Kopf und lachte ihn aus, und plötzlich biß er mich scharf ins Handgelenk.
Ich saß unter einem Baum, das Blut tropfte ins Moos, und ich wartete auf meinen Zorn. Jedoch, der Zorn kam nicht, nur Traurigkeit und hilflose Bestürzung. Natürlich hätte ich sofort etwas Entscheidendes tun müssen, mit der Peitsche oder mit einem Schuß Pulver. Damit wäre die Sache zwar erledigt, aber nicht geklärt worden. Ich wußte ja und sah es täglich, wie gutartig der Hund eigentlich war; er tat wirklich niemandem etwas zuleide, außer seinem Herrn. Nie schnappte er nach einer Fliege, er zerbiß keinen Schmetterling, und wenn ein Maulwurf über die Straße flüchtete, schob er ihn nur mit der Nase vor sich her und setzte sich zurecht, um zuzuschauen, wie dieses quietschende Ding eilig wieder in der Erde verschwand.

(...)


DorisW antwortete am 07.11.03 (20:06):

Nein, ich ließ es gut sein, und seitdem leben wir nebeneinander und vertragen uns leidlich. Ich habe mir hilfsweise die Erklärung zurechtgelegt, daß dieses Wesen zu mir geschickt wurde, um einen Auftrag zu erfüllen. Vielleicht ist es so, daß ich in einem früheren Leben jemand wie einen Hund behandelt habe, und nun behandelt er mich seinerseits, wie es solch ein Mensch verdient. Ich finde diese Auslegung durchaus glaubwürdig, denn wäre mein Hund wirklich ein Hund, dann müßte die Wissenschaft irren in allem, was sie über die Seele des Hundes zu sagen hat. Ein schaudervoller Gedanke nebenbei, daß ein kleiner Hund ein Dutzend großer Gelehrter widerlegen könnte!
Aus gewissen Umständen ist zu schließen, daß mein Pudel ehedem ein recht wunderlicher Mensch gewesen sein muß, von einer aufreizenden Betulichkeit, wie sie manchmal Leuten eigen ist, die bessere Tage gesehen haben. Anfangs fraß er so gut wie nichts, bis sich zufällig ergab, daß er aus vier weißen Schüsseln zu speisen wünscht und daß dieses Gedeck auf einem Tafeltuch aus Sackleinen stehen muß. Was er in den Schüsseln findet, ist ihm gleichgültig, aber wenn nur eine fehlte, fräße er nicht einmal gebackenes Huhn oder sonst eine Leckerei, die mein eigenes Benehmen sofort ins Wanken brächte.
Das Deutsche scheint mein Hund nicht zu verstehen oder doch nur ein besseres als meines. Vermutlich spreche ich für ihn eine lautlose und genaue Sprache der Mienen und Gebärden, mir selber fremd. Er weiß jedenfalls immer, was ich tun will, um dann tun zu können, was er will.
Der Himmel wird bestimmen, wie lange ich für meine dunklen Untaten zu büßen habe. Es ist wahrhaftig eine Prüfung, wenn mein schlechtes Gewissen sozusagen auf eigenen vier Beinen neben mir her läuft. Jetzt wird mein Hund bald sechs Jahre alt, ebensolang kann er leicht noch leben, aber welche Spanne mag mir zugemessen sein? Möglich, daß er mich auch darin übertrifft. Dann bin ich sicher, daß wenigstens ein schwarzer Pudel in meinem letzten Geleit nicht fehlen wird, ein nobler Gegner, vielleicht endlich versöhnt und aus dem Bann gelöst. Auch er.

(Ende)


Medea. antwortete am 08.11.03 (05:47):

Danke Doris,

wie all seine Geschichten mit Humor, Einfühlvermögen und viel Nachdenklichkeit geschrieben, wiedermal ein typischer Waggerl.


DorisW antwortete am 08.11.03 (17:13):

@Medea.,
hast du noch mehr von Waggerl gelesen?
Das Wiesenbuch hast du, glaub ich, weiter oben schon erwähnt, außerdem hat mir "Das Jahr des Herrn" sehr gefallen. Ein Buch von der Sorte, in die man sich so ganz vertiefen kann - ich jedenfalls.


Medea. antwortete am 08.11.03 (18:03):

Nein, leider nur "Mein Wiesenbuch" und das hat mir gefallen, aber es ist bereits Jahre her. Eine meiner Deutschlehrerinnen hat uns damals mit Waggerl, den sie sehr schätzte, bekanntgemacht. Daher freuen mich besonders die kleinen Geschichten, die Du einsetzt. ;-))

Kann Dir aber unbedingt noch Erhard Kästner empfehlen -
seine "Lerchenschule" oder das "Zeltbuch von Tuvalu", "Die Trommeln des Berges Athos" und andere, sind ein kleines Juwel. Angelika ist auch ein Kästner-Fan. ;-))


Medea. antwortete am 08.11.03 (18:15):

Ich war wiedermal zu schnell und dann passieren Fehler.. :-((
Das Zeltbuch von Tumiland und nicht "Tuvalu" ist der Titel und Erhart schreibt sich hinten mit "t"....
und "Ölberge-Weinberge" ist mir eben noch eingefallen.....
Wie ich auf Tuvalu gekommen bin, wissen allein die Götter :-))


DorisW antwortete am 08.11.03 (18:54):

Den merk ich mir mal vor, den Tuvalu-Kästner ;-)


DorisW antwortete am 10.11.03 (20:09):

K. H. Waggerl: Mein Bett

Mein Bett ist ein riesiges Gehäuse, ein Viermaster mit hohen Aufbauten an Bug und Heck, ein gutes Schiff auf dem dunklen Wasser des Schlafes, den bauchigen Karavellen vergleichbar, mit denen einst die spanischen Waghälse die Weltmeere befuhren.
Ich habe dieses Bett von meiner Tante geerbt, sie war Bräuwirtin im oberen Pinzgau. Gott hat sie längst selig, hoffe ich, obwohl es ihm schwerfallen mag, denn die Tante wird kein sehr fügsamer Gast im Himmel sein. In jungen Jahren verbrachte ich manchmal etliche Ferienwochen in ihrem Haus, damit ich bei Rauchfleisch und braunem Bier ein wenig Speck ansetzte. "Der Verstand sitzt auch beim Menschen nicht im Kopf", sagte die Tante, "sondern im Speck, denn Speck macht schlau."
Sie war selber ein stattliches Weibsbild, damals freilich schon alt und von der Gicht geplagt. Sie konnte sich nicht mehr legen, lieber saß sie des Nachts in einem Lehnstuhl dem Bett gegenüber, das immer schon frisch aufgeschüttelt für mich bereitstand, wenn sie mich abends in íhre getäfelte Stube rief. Ich mußte dann noch eine Weile bei ihr sitzen, und während sie behaglich ihr Schlafbier aus dem Steinkrug trank, wollte sie von mir hören, wie die Dinge dieser Welt lateinisch hießen, die Geldtruhe, auf der ich hockte, der Spucknapf oder die Bettbank mit dem Wachslicht darauf. Ich wagte nie zu gestehen, daß ich kein Latein verstand, aber die Tante war ja ohnehin mit dem zufrieden, was ich aus dem Meßgesang des Pfarrers entlieh. Wenn sie endlich müde war, hatte ich den Rest des Bieres aus dem Fenster zu schütten und das Licht zu löschen. Sonst mußte das eine Magd besorgen, die in der Oberstube schlief, ein schwerfälliger Trampel, mit dem die Tante nie ein gelehrtes Gespräch führen konnte. Im Dunkeln schlüpfte ich aus den Hosen, und dann verschwand ich in einem riesigen Berg von Kissen und Deckbetten.


DorisW antwortete am 10.11.03 (20:16):

Es war köstlich, in diesem Bett zu schlafen. Ich hörte den lauten Atem der Tante, bisweilen schnarchte sie gewaltig, erwachte davon und schalt sich selber aus. Alle Fenster standen weit offen, man sah den Kirchturm schwarz im schwarzen Himmel stehen und die Sterne um ihn her. Jedes Geräusch war gleichsam von Stille umgeben und überaus deutlich, ein Gaul schnaubte drüben in den Ställen, eine Kuh rasselte mit der Kette, wenn sie sich niedertat. Einmal belauschte ich lang einen Dieb, der unten an den Fenstern herumtappte, ob er eines offen fände. Aber die Tante verbot mir, Lärm zu schlagen. Wenn da einer stehlen wolle, sagte sie, sei es seine Sache, Gott werde ihn wohl dafür zu strafen wissen. Es war ja auch gar kein Dieb gewesen, sondern der Jungknecht, aber die Tante wollte mir nicht erklären, warum der durch ein Fenster statt durch die Tür nach Hause kam.
Mitunter zog des Nachts ein Unwetter auf. Der Regen rauschte mächtig in den Bäumen, das Licht der Blitze fuhr herein und der Donner hinterher, als bräche das Haus zusammen. Die Tante rief dann der Reihe nach alle Heiligen an, und ich antwortete ihr mit einem Ora pro nobis, aber mir war gar nicht bang, ich fühlte mich unsäglich wohlgeborgen. Konnte ein Blitz durch zwei Ellen Federn schlagen? Nichts von Ungewitter unter meiner Decke. Ich ließ meine Hand auf zwei Fingern umherwandern, in einer weitläufigen Landschaft, mein Bauch war ein sanfter Hügel, die Beine zwei steile Berge, auf denen der Leintuchhimmel ruhte, und dann flog die Hand auf wie ein großer Vogel und schwebte über Schluchten und Tälern, sie hatte es gut in dieser warmen Gegend.
Oft weckte mich die Tante, indem sie ihren Stock auf den Boden stieß. Dann mußte ich eilig aufstehen, um ihren kranken Fuß auf dem Schemel zurechtzurücken. Dafür erhielt ich jedesmal sofort einen blanken Sechser in die Hand gedrückt; ein schöner Nebenverdienst, besonders wenn das Wetter umschlug. Es geschah aber auch, daß die Tante sich vergaß und gegen die Decke statt auf den Boden klopfte. Daraufhin erschien nach einer Weile die Magd, mit einem Talglicht in den Händen. Die Tante warf den Stock nach ihr und scheuchte sie wieder hinaus.


DorisW antwortete am 10.11.03 (20:23):

Man hat mir erzählt, daß es vor undenklichen Zeiten einmal zwei Betten von gleichen Maßen gegeben habe. Als es mit dem alten Bräuwirt zu Ende ging, trug er seiner längst mannbaren Tochter auf, sich endlich zu verheiraten. Bierbrauen sei kein Weibergeschäft, sagte er, verdammt noch einmal. An Bewerbern war kein Mangel. Die Tante wählte schließlich einen Kerl aus der Nachbarschaft, jung und tüchtig, aber auch wieder nicht zu tüchtig, das Regiment wollte sie selber behalten. Es wurde eine fürstliche Hochzeit zugerichtet. In der Nacht vorher betrank sich der Bräutigam, was zu begreifen ist. Er war ja einem ausziehenden Krieger vergleichbar, den die Gefährten einem ganz ungewissen Schicksal überlassen mußten. Am Morgen in der Kirche war er nur noch so weit bei Trost, daß er mit Mühe ja und amen sagen konnte, und nachher setzte er sich gleich wieder zu den Seinen in die Bierstube. Vier Zechgenossen trugen ihn abends zur passenden Zeit in die Brautkammer und legten ihn in das Bett, nicht ohne der Braut im anderen Glück und Segen zu wünschen.
Das wenigstens hätten sie unterlassen sollen. Die Tante erhob sich und ließ sogleich einen Brückenwagen anspannen. Dann mußten die Knechte das Bett mit dem scheintoten Bräutigam hinunterschaffen und auf den Wagen heben. Sie selber schwang sich auf den Bock, um ihn über Land bis vor sein Vaterhaus zu fahren. Dort stellten ihn die Leute auf die Straße hin, die Tante schellte einmal am Tor und ließ die Gäule gelassen wieder heimwärts traben. Ihr Angetrauter kam nie wieder in das Bräuhaus zurück. Nicht einmal die Hunde hätten ihn noch kennen mögen.
Gott habe sie selig, dachte ich. Die Tante dachte an mich, als sie hinüberging, viel mehr als ihre Liegestatt hatte sie am Ende nicht zu vererben. Ich mußte mich inzwischen niedriger betten, aber meine Gäste genießen es immer noch, wenn ich sie, schwer vom Wein, über die kurze Treppe hinauf in das Traumschiff klettern lasse. Ganz zuletzt möchte ich wohl selber wieder darin liegen. Immer habe ich es schön und bedeutsam gefunden, daß gewisse alte Völker ihre Toten wie Schlafende zur Ruhe legten. Ich wünschte sehr, ich hätte jemand, der mich auf die gute Seite legt, wenn es soweit ist, der mir die gefalteten Hände unter die Wange schiebt und die Decke sorgsam heraufzieht, damit ich nicht frieren muß in der endlosen Nacht.