Archivübersicht | Impressum

THEMA:   Weihnachtliches - aus der Perspektive von unten

 2 Antwort(en).

iustitia begann die Diskussion am 04.12.03 (09:27) mit folgendem Beitrag:

In der Vorweihnachtszeit - ein Rückblick in die "schwarze" Welt vor mehr als hundert Jahren...

Heinrich Kämpchen
Weihnachtsgedanken eines Arbeitslosen

Überall der Weihnachtstraum,
Nur in meinem kahlen Zimmer
Fehlt der aufgeputzte Baum,
Ist kein Glanz und Lichterschimmer.

Von den Gassen hallt es froh,
Und die Mette hör ich singen;
Brot und eine Schütte Stroh
Will mir nicht das Christkind bringen.

Arbeitslos und ohne Geld
Hab' ich Wochen schon gelungert,
Ob der Magen grimmig bellt,
Fort und fort die Zeit gehungert.

Wenn dies auch zur Ordnung paßt,
Die man stützen will zur Stunde -
Solche Ordnung ist verhaßt
Mir aus tiefstem Herzensgrunde.

Frieren im Dezemberfrost,
Hungern, hungern ohne Ende,
Und dazu nur Himmelstrost
Für die nackten, kahlen Wände.

Solcher Ordnung Fortbestehn
Muß auf's schärfste ich bemängeln:
Möge sie zum Teufel gehen
Oder zu den lieben Engeln!
(Zuerst in der Bergarbeiterzeitung, 22. 12. 1894)

Ein fast hundertundzehn Jahre alter Text! Er erschien in der "Bergarbeiter-Zeitung" vom 22.12.1894; sein Autor war damals bekannt im Ruhrgebiet; er selber hatte schon Bekanntschaft gemacht mit Ordnungskräften, so daß das religiös-liebliche Weihnachtsgeschehen in seinem Gedicht bitter, kritisch, eben realistisch-un-deutsch und deutlich parteiisch ausfiel.
Kämpchens Schicksal war beispielhaft verwoben mit der deutschen Gewerkschaftsbewegung und der Sozialstruktur des Ruhrgebiets, das in der Werbesprache der Agenturen heute "Ruhrpott" heißen darf, ohne an Kohle und Eisen zu erinnern.
Der Autor war einer der Führer im Streik vom Mai 1889. Damals waren von 105 000 Bergarbeitern bis zu 93 000 im Ausstand. Damals redet der gottbegnadete und der selbstgnädige Kaiser Wilhelm II am 14. Mai 1889 vor der Abordnung solches: "Sollten aber Ausschreitungen gegen die öffentliche Ordnung und Ruhe vorkommen, sollte sich der Zusammenhang der Bewegung mit socialdemokratischen Kreisen herausstellen, so würde Ich nicht imstande sein, eure Wünsche mit meinem Königlichen Wohlwollen zu erwägen".
Aus diesen Vorgängen entwickelte sich der "Verband zur Wahrung und Förderung der bergmännischen Interessen in Rheinland und Westfalen". Der Dichter erlebte die volle Schärfe der Repressionen durch die Arbeitgeber und den preußischen Staat. War es damals doch noch Sitte, daß Arbeiter als Bittsteller auftreten. So traten drei Beauftragte der Kumpel am 14. Mai 1889 bei Wilhelm II. auf, die eine Petition überbrachen.
Nach dem Streik wurde er gemaßregelt: Anfahrverbot! Bis zu seinem Tode im Jahre 1912 lebte er von einer kärglichen Knappschaftsrente und den kleinen Honoraren für die Gedichtabdrucke. Von 1890 bis 1912 stand fast in jeder Ausgabe der Bergarbeiter-Zeitung ein Gedicht von ihm; nachträglich stellen sie eine kulturelle und politische Chronik der Gewerkschaftsbewegung dar. Ein Schriftsteller, den keine Literaturgeschichte verzeichnet! Eine Weihnachtsgedicht, das in keinem Lesebuch, in keiner Weihnachtsanthologie steht!
Der Autor Heinrich Kämpchen ist der bedeutendste, aber auch der unbekannteste, deutsche Arbeiterdichter aus der Zeit der Jahrhundertwende!
(Text nach: Heinrich Kämpchen: "Seid einig, seid einig - dann sind wir auch frei!" Gedichte. Oberhausen: ASSO Verlag 1984. S. 67)


dirgni antwortete am 04.12.03 (12:48):

ja iustitia,

so manche Schriftsteller wurden zu unrecht "vergessen", vielleicht weil sie unbequem sind. Zu Weihnachten möchte man zwar Besinnliches lesen, aber lieblich sollte es auch sein.

Ich kenne ihn auch erst aus dem ST - Antonius hat zwei seiner Gedichte gebracht (s. Archiv)


Medea. antwortete am 04.12.03 (15:46):

Ich erinnere mich an das Märchen "Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern" ....,
"Weihnachten" von ganz unten ..........