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THEMA:   Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen

 9 Antwort(en).

Margot Girlich begann die Diskussion am 16.02.01 (16:18) mit folgendem Beitrag:

Das ist ein Buch, was einem die Augen öffnet, wie der Rechtsradikalismus unversehens an Macht gewinnen kann. Haffner beschreibt sehr lebendig und menschlich, wie er zwar die Gefahren herannahen sah, aber das ganze Ausmaß nicht erkannte. Ein Buch, das auch jeder Jugendliche in der Schule lesen müßte, um die Ereignisse der Gegenwart mit offenen Augen sehen und einordnen zu können.

(Internet-Tipp: https://www.lyrikline.org)


Ilse Wedelstaedt antwortete am 23.02.01 (22:50):

Das Elend ist doch, daß wir die Geschichte kennen (wenn wir uns denn die Mühe gemacht haben, uns zu informieren) - und keine Lehren daraus ziehen!


Peter Herbold antwortete am 24.02.01 (18:50):

Ganz ähnlich wie Haffner zeigen die Tagebücher von Victor Klemperer von 1918 bis 1945 (im Aufbau Taschenbuch Verlag)wie nach den Wirren des Ersten Weltkriegs ein Hitler an die Macht kommen und sich bis zum bitteren Ende halten konnte.
Dieser Tag-für-Tag-Bericht gefällt mir übrigens noch aus einem anderen Grund: Mein eigenes Leben, so eng begrenzt im Raum und in der Zeit wie jedes Menschenleben, wird ausgeweitet durch die detailgenaue Schilderung des Schicksals anderer Menschen; während ich lese, "bin" ich in gewisser Weise der Autor, sehe seine Zeit und seine Welt mit seinen Augen - eine phantastische Ausdehnung meiner Erlebnismöglichkeiten, eine Art "Lebenspluralisierung", wie das einmal jemand genannt hat.


Ricardo antwortete am 26.02.01 (21:28):

Das Tagebuch von Viktor Klemperer habe ich auch gelesen und es hat mich erschüttert, zumal ich auch in Dresden gewohnt habe und die meisten Lokalitäten kenne, wo sich dieses Schicksal ereignet hat. Besonders betroffen macht, daß der schreckliche Terrorangriff auf die Stadt den Klemperers das Leben gerettet hat.
Aber ich glaube nicht, dass sich solche Verhältnisse wiederholen können und vertraue dem heutigen Staat und seinen Gesetzen.
Unsere Kinder denken anders als damals die deutsche Jugend.
Sie dürfte den radikalen Versuchungen in ihrer großen Mehrheit widerstehen


Claudine Borries antwortete am 01.03.01 (12:27):

Ich habe soeben Peter Gay: Meine deutsche Frage, zuende, gelesen.Der Haffner kommt als nächstes dran.
Peter Gay ist Historiker und Psychoanalytiker und lebt und lehrt in den USA.
Das Buch von ihm ist sehr lesenswert, weil es mit einem hohen Reflexionsgrad über die Auswirkungen der Demoralisierungen und der Erniedrigungen auf seine Seele durch die NS-Zeit versehen ist . Er berichtet über die Zeit von 1933-1939 , seine Schulzeit in Berlin und die gerade eben noch geglückte Flucht über Kuba in die USA.
Wichtig aber auch ist sein Mißtrauen, sein Groll, seine Vorbehalte gegenüber den Deutschen , als er 1961 zum ersten Mal wieder die BRD und Berlin, den Ort seiner Kindheit und Jugend besucht, und über die er unverhohlen zu sprechen vermag. Es bleibt ein tiefer Argwohn uns gegenüber,-- und das ist verständlich.Ich aber kann nur immer wieder bedauern, wie viele unsere Kultur beflügelnde Menschen durch diese irrsinnige Zeit verloren gegangen sind.Abgesehen natürlich von dem Grauen, das mit dieser entsetzlichen Geschichte ausgelöst wurde , und das uns anhaftet , ob wir es nun wollen oder nicht, ob wir unmittelbar beteiligt waren oder nicht !
Gruß
Claudine


Klaus Stoll antwortete am 11.03.01 (18:50):

Hallo Margot, Geschichte eines Deutschen ist ein Buch, das man für seine Enkel aufbewahren sollte. Es beantwortet viele der Fragen, auf die ich (Jg. 1934) nie Antworten erhalten konnte und die ich meinen 3 Enkeln auch nicht werde beantworten können, weil es auf dem Friedhof in 10-15 Jahren wahrscheinlich noch keinen Internet-Anschluss geben wird und sie heute noch unschuldige Kinder sind.


C.B. antwortete am 15.03.01 (12:44):

Hallo Margot,
inzwischen habe ich den Haffner nun auch zuende gelesen.
Was mich an diesem Buch besonders erschüttert hat: daß hier ein junger mit wacher Intelligenz ausgestatteter Deutscher schon früh erkannt hat, in was für ein Wahnsinnssystem die Demontage der rechtmäßigen Verfassung führen würde.
Vernichtend ist Haffners Beurteilung dieser deutschen gegenüber den Revolutionen in Frankreich und
Spanien.Während Revolutionen auf welcher Seite auch immer von einem hohen moralischen Ethos getragen wurden, sei in Deutschland 1933 nur eines auszumachen gewesen : Feigheit und Angst.Das empfand ich als hartes aber wahrscheinlich berechtigtes Urteil.
Erschreckend, wie klar Haffner dem fortscheitenden Unrechtsstaat ins Auge sieht und ganz sicher weiß, daß er hier nicht länger bleiben kann und will.
Daß jemand das erkennen konnte, und wachen Auges den schleichenden,infamen Terror ausmacht ,mit dem ein ganzes Volk in den Untergang geführt wird, macht es uns Nachgeborenen umso schwerer, zu ertragen, daß wir zu diesem in Teilen doch schwachen und unfähigen Deutschland gehören.Daß man sich immer fragen muß, ob man den Mut zum Widerstand aufgebracht hätte....!
Ich kann nur sagen: umso mehr müssen wir den Anfängen wehren, wenn sich rechte Gewalt breitmacht.!
Grüße Claudine


Gudrun antwortete am 21.03.01 (22:34):

Hallo,

ich habe das Buch beendet und denke doch, dass die von Haffner während und nach dem 1. Weltkrieg aufgewiesene deutsche Unfähigkeit zum privaten Glück ( schlicht gefasst ) und die damit verbundene Sucht nach kollektivem Erleben auch ein nicht unwichtiger Aspekt ist beim Versuch, das Unfassbare zu begreifen.
Sehr wichtig finde ich das, was Reich- Ranicki über unsere Sprachgewohnheiten , abgebildet und damals schon angemahnt bei Haffner, sagt - und er schließt sich selbst nicht aus; Gemeint ist das Sprechen vom `Judenproblem - uns allen bekannt durch sog. positive Diskriminierung : wie z. B. Es gab doch so viele bedeutende Juden , �rzte, Wissenschaftler, Künstler ..Haffner hat das Verdienst, schon Ende der 30er Jahre entsetzt darauf hingewiesen zu haben.


Margot Girlich antwortete am 02.06.01 (16:00):

Dankeschön allen, die sich mit Haffner beschäftigt und so engagiert über ihn, aber auch über Klemperer und Peter Gay hier berichtet haben.
Die beiden letztgenannten Bücher kenne ich noch nicht, vielen Dank für den Tipp!
Allen ein schönes Pfingstfest! blaettchen

(Internet-Tipp: www.rosenfreunde.de)


C.B. antwortete am 02.06.01 (19:12):

Hallo Margot,
eigentlich kommt man mit diesem Thema ja nie zu einem Ende.Obwohl meine Aufmerksamkeit neuerdings immer mehr den Neuerscheinungen-und Besprechungen auf dem detuschen Buchmark gilt, fand ich doch auch nochmal ein TB von Primo Levi:
" Ist das ein Mensch?"
Da er sehr nüchtern und sachlich über die Vorgänge und den menschlichen Verfall im KZ Auschwitz berichtet, ist das Buch durchaus lesenswert,-- aber es rührt an die Substanz. Ich kann mir, mit unserem heutigen Bewußtsein und in unseren Lebensverhältnissen lebend, immer wieder gar nicht vorstellen, daß Menschen das überhaupt aushalten und durchstehen konnten.Und wie viel der Mensch aushält oder aushalten muß und kann, bevor er stirbt.
Mit ernsten Grüße
Claudine