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THEMA:   Eine Rede an einer Uni (1950)

 8 Antwort(en).

iustitia begann die Diskussion am 28.06.04 (18:09) :

Wer schrieb und hielt vor Studenten diese Rede?
(Ein Lehrer, ein Schriftsteller ein Nobelpreisträger... Er hielt die Ansprache anlässlich der Schlussfeier im Sommer 1950 in Harvard, als er nach einem längeren Europa-Aufenthalt an seine Universität zurückkehrte.)
Ich stelle diesen Text auch deshalb vor, weil der Dichter auch vielen von uns in der Schule begegnet ist (z.B. in der Theatergruppe...)
Und der Autor stellt keine Betrachtungen über Ranking, über Elite-Unis, über Professoren der Naturwissenschaften, die (ganz natürlich!) vom Staat gefördert werden wollen, weil sie so tolle Forschungen betreiben wollen; d.h. so viel Wind mit Hilfe von Medienfritzen machen
Er berichtet von seiner Studienzeit, von sich selber und von amerikanischen und europäischen Autoren, die er zur Weltelite zählt. Er ist selber Elite; und die Menschen konnten das miterleben, selber lesen und mit ihm diskutieren � ohne dass er als Politiker sich den Hof machen lassen wollte oder Krieg führen oder in Kriegsnebenhandlungen (z.B. Fußballkämpfen) sich präsentieren wollte.
**
Der D i c h t e r "An die Jugend" (in einer Übersetzung von H. H.:)
Ich war, mit Unterbrechungen, mein Leben lang Lehrer, und wenn ich - wie in diesem Jahr - in eine Universitätsgemeinschaft zurückkehre, stelle ich immer Vergleiche an. Nicht Vergleiche zwischen den verschiedenen Hochschulen, sondern zwischen etwas viel Auffallenderem und Aufschlußreicherem - Vergleiche zwischen den Lebensauffassungen, den stillschweigenden Voraussetzungen, den Gedankenwelten der Studenten, die ich während der Jahrzehnte meiner Lehrtätigkeit kannte; einer Lebensauffassung, die unsereins 1917 bis 1920 selber hatte, einer solchen, die meine Schüler auf der Universität von Chicago in den dreißiger Jahren hatten, und der, die ich dieses Jahr bei den Studenten um mich her wahrnahm. Welch ein Unterschied! Welch ein Unterschied!
(...)
Fortsetzung mit Auszug aus der Rede folgt...


Miriam antwortete am 29.06.04 (09:41):

JUSTITIA,

Habe die ganze Nacht vor dem Bildschirm verbracht! Wo bleibt die Fortsetzung?


iustitia antwortete am 29.06.04 (15:12):

Wow - miriam!!
- Damit hatte ich nicht gerechnet...! Bist Du noch aufnahmefähig für Thornton W i l d e r .... - Hast Du auch Erinnerungen an "Unsere kleine Stadt".
Über "Goethes Begriff der Weltliteratur" hatte Wilder eine kluge Rede gehalten - 1949; da fand ich diese Rede "An die Jugend" - gehalten vom Auditorium der Harvard-University.
"Damals" hat man wirklich noch an Werte, an Begiff, an Kultur und völkerverbindende Literatur und Kunst geglaubt...
Also, Auszüge aus der Rede..., dür Dich - und alle Leser/innen - gleich ...


iustitia antwortete am 29.06.04 (15:13):

Thornton Wilder: An die Jugend. Rede. (Fortsetzung)

Wenn ich dabei bin, Vergleiche anzustellen, wird mir bewußt, daß diejenigen, die bei unbeständigem Wetter leben, Hilfskräfte speichern oder entdecken, die heranzuziehen wir im Jahre 1920 keine Notwendigkeit fühlten. Wie Arten im Tierreich entwickeln auch sie Anpassungen. Diese Hilfskräfte wurden natürlich nicht von ihnen geschaffen, sondern sie finden, was sie brauchen, in den Strömungen des Denkens und der Literatur, die uns alle umfluten, und wie diese von ihnen assimiliert werden, das ist das für uns Interessante.
Das 20. Jahrhundert verschiebt seine Grundlagen und wechselt die Stellen, auf die es das Hauptgewicht legt, mit erstaunlicher Schnelligkeit. Wissenschaftler, Dichter und Schriftsteller haben diese neue Geisteshaltung, die sich nun Platz schafft, beschrieben. Der Mann auf der Straße beginnt sich ihrer bewußt zu sein. Heutzutage junge Menschen zu lehren, heißt sich in die Lage der hervorragenderen versetzen, um von ihnen die Auffassung vom Menschen in seinen neuen Beziehungen zu lernen. Sie ist das, was sie, die nur unbeständiges Wetter gekannt haben, stützt und nährt.
Ich lehre Literaturgeschichte. Ich lese über die geheiligten Klassiker unserer Literatur. Aber ich achte auch auf die Meister der modernen Literatur, und wenn ich das nicht täte, würden meine Hörer mich für sie wachrütteln. Vor etwa fünf Jahren sagte mir ein Freund, ein Professor an einer anderen Universität: �Wissen Sie, wenn einer meiner Schüler eine glänzende Arbeit über den ,Scharlachroten Buchstaben� oder ,Tom Jones� geschrieben hat, lasse ich ihn in mein Sprechzimmer kommen, um ihn zu beglückwünschen und seine nähere Bekanntschaft zu machen, und wir reden eine Weile miteinander. Oft, nur allzu oft dreht sich der junge Mann oder die junge Dame beim Weggehen um und sagt: �Übrigens, Professor X., uns gefallen selbstverständlich die Bücher, die Sie uns zu lesen aufgeben. Was uns aber wirklich interessiert, das sind T. S. Eliot, James Joyce, Franz Kafka, Gertrude Stein, Ezra Pound!�
Und der Professor sagte zu mir: �Also was ist da los? Ich verbringe mein Leben damit, die großen Werke der Literatur zu studieren. Die Bücher jener Autoren sind der Absicht nach in englischer Sprache geschrieben oder in sie übersetzt, aber ich kann keine fünf Seiten von ihnen mit irgendwelchem Genuß lesen, von Verständnis ganz zu schweigen. Ich kann mir nur denken, daß meine begabtesten Studenten entweder Heuchler, äffische Snobisten oder einfach unkultivierte Barbaren sind, die Schönheit und Klarheit nicht erkennen, wenn sie sie vor sich haben.�
> Fortetzung folgt...


iustitia antwortete am 29.06.04 (15:17):

Thornton Wilder:
An die Jugend. Rede. (Fortsetzung 2)

Das ist die Kluft zwischen den Generationen, und es obliegt uns, sehr aufmerksam auf sie zu sein, Studenten des ersten und zweiten Jahrgangs halten mich auf der Straße an oder suchen mich in meinem Sprechzimmer auf, um mich nach gerade diesen Schriftstellern zu fragen. Und das zeigt uns, daß diese Schriftsteller ein tiefes Bedürfnis derer erfüllen, die in stürmischem Wetter leben.
Ich finde in ihren Werken drei stillschweigende Voraussetzungen, die sich in den besten jungen Geistern des 20. Jahrhunderts spiegeln, Voraussetzungen, die wir im Jahre 1920 nicht begriffen hätten. Erstens sieht der junge Mensch von heute sich im Licht der Wissenschaft nicht als einen von fielen Hunderttausenden, nicht als einen von vielen Millionen, sondern als einen von Milliarden. Die zweite ist eine völlig neue stillschweigende Voraussetzung hinsichtlich Verantwortlichkeit. Und die dritte ist die Vorstellung, daß die Dinge, die die Menschen voneinander trennen, weniger wichtig sind als die, die sie miteinander gemein haben.
Zunächst also die Vielzahl der Menschheit. Kierkegaard, der große Däne - der größte aller Dänen - verzeichnet 1844 in seinem Tagebuch, daß ein Anthropologe ihm sagte, vierunddreißig
Milliarden Menschen lebten gegenwärtig oder hätten gelebt und seien gestorben, Menschen über der Kulturstufe des Wilden. Er schrieb das in sein Tagebuch, und dann folgt seine Bemerkung dazu: �Ich trug das einem Freund von mir vor, der auch Anthropologe ist, und er sagte: ,Wie kindisch ! Drei- und viermal so viel voll verantwort-licheMenschen haben gelebt und sind gestorben'.�
Es ist eine Tatsache, daß wir zu zählen gelernt haben. Jedermann kann die Zahlenzeichen schreiben. Aber seit die Archäologen, die Geschichtsforscher, die Naturwissenschaftler, die Physiker uns mit Ziffern über Ziffern überschüttet haben, denkt unsere Generation nicht wirklich in großen Zahlen. Die Kraft des Geistes, immer größere Mengen von Einheiten zu erfassen, ist etwas, das die junge Generation besitzt, wir aber, die wir in mittlerem Alter stehn, noch immer nicht besitzen und auch wirklich nicht im selben Grad besitzen können. Daraus folgt unter anderm, daß sie sich die Vielzahl der Seelen, die gelebt haben, und die voraussichtlichen Milliarden und Milliarden, die noch leben und sterben werden, lebhaft vorstellen kann.

> Fortsetzung folgt.


iustitia antwortete am 29.06.04 (15:19):

Thornton Wilder: An die Jugend. Forts. 4:
Heute sehe ich, daß wir, die Studenten von 1920, die wir schon dem 20. Jahrhundert angehören, entsetzlich provinzlerisch und engherzig waren. Wir waren eine Gruppe aus einer Unmenge von Amerikanern. Und jenseits der Ozeane waren Unmengen anderer Menschen. Und diese �Unmengen� waren ein vager Begriff ohne irgendeinen Widerhall.
Die französische Literatur ist ein köstliches und herrliches Schatzhaus, aber in Wirklichkeit dreht sie sich um sechzig Millionen Franzosen, nicht wahr? Die Meister der modernen Literatur befassen sich damit, die Menschen in ihrer Vielheit zu beschreiben, und sogleich sehen wir eine heftige Werteverschiebung vor sich gehn. In einer Hinsicht schrumpft der einzelne in dieser Ungeheuern Vetternschaft, und in einer ändern erhält seine Behauptung, einen gültigen Persönlichkeitswert zu besitzen, eine neue Dringlichkeit und sucht Bestätigung durch eine neue Autorität.
Wenn wir heute sagen: �Ich liebe�, �ich glaube�, �ich leide� oder �ich will es im Leben zu etwas bringen�, und hören so etwas in das menschliche Universum von Milliarden fallen, ist es selbstverständlich in Gefahr, absurd zu erscheinen. Und doch spüren die Jungen das bis ins Mark und auf eine Weise, die wir nicht kannten. Es erweckt Angst, wenn man fühlt, daß man nur ein einziges Beispiel unter so vielen ist. Aber es ist eine neue Art von Angst. Es ist ein metaphysisches Beunruhigtsein; es ist nicht Nervosität. Es treibt die Jungen dazu, eine neue Grundlage für die Behauptung ihrer Individualität zu finden. Ist es nicht klar, wie leicht sie gelangweilt wären von vielen Tröstungen, in denen wir Älteren eine Stütze fanden? Kein Wunder, daß für sie Shelley altmodisch und Carlyle unlesbar ist. Die sind voll von solchen Behauptungen, und für die Jungen beruhen sie auf falscher Grundlage.
Die zweite stillschweigende Voraussetzung ist diese Frage der Verantwortlichkeit. Die Jugend von heute ist nicht verfolgt von der Vorstellung eines goldenen Zeitalters, Wir, die wir um 1900 geboren sind, erinnern uns dieser Zeitspanne von Sicherheit. Wir, die wir die späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre samt ihren liberalen Strömungen durchlebten, waren von der Idee erfüllt, daß wir, wenn wir uns nur genug mühten und mühten, gar bald eine Utopie verwirklichen würden. Die Jugend von heute kennt diese Ungeduld nicht. Sie kennt auch dieses rückblickende Bedauern nicht. Es hat das seine Ursache nicht in Desillusioniertsein, und es bedeutet auch nicht, daß sie gegen eine Verbesserung der sozialen Zustände gleichgültig ist. Sondern es ist für sie selbstverständlich, daß die menschliche Natur, die ihre mit eingeschlossen, große Elemente von Grausamkeit und Unwissenheit enthält. (Man bedenke, was diese jungen Menschen erlebt haben und was sie nicht erlebt haben!) Wir von 1920 hätten das nie ganz begriffen. Wir hielten unsere guten Absichten für gute Leistungen. Wir hielten die guten Absichten der christlichen Kultur für unumkehrbaren Fortschritt.
Der Student von heute aber ist, was ihn selbst und andere betrifft, hellwach für die Komplexität des Menschen. Er hegt ein tiefgehendes Interesse nicht nur für das Gute, sondern auch für das Böse, und er nimmt an, daß das Leben schwierig ist, moralisch schwierig.
> Forts. folgt.


iustitia antwortete am 29.06.04 (15:21):

Thornton Wilder: An die Jugend (Forts.)
Drittens hat die Wissenschaft noch einen Beitrag zur Gedankenwelt des 20. Jahrhunderts geleistet. Sie hat die Schranken niedergerissen zwischen Rassen und Hautfarben und Umwelten und kulturellen Hintergründen. Für den großen Chirurgen mit dem Patienten vor sich auf dem Operationstisch ist es von zweitrangiger Wichtigkeit, ob der ein Vetter seiner Frau oder die Schwester eines orientalischen Potentaten oder ein nachts zuvor von der Polizei aufgegriffener obdachloser Bettler ist. Dem Telegraphisten ist es gleichgültig, wer das Kabel absendet, das in ein paar Sekunden um den halben Erdball läuft. Für den Kulturgeschichtler stehen die Schöpfungsmythen der Eskimos oder der Eingeborenen von Tahiti neben denen des Ersten Buchs Mosis.
Die Dinge, die allen Menschen gemein sind, beginnen ein ungeheures Übergewicht über diejenigen zu bekommen, die sie trennen. Das war nichts Neues für Goethe oder Pascal oder Burke, aber in diesem Sinn ist es erstaunlich neu für viele meiner eigenen Generation. Meine jungen Freunde hier in Cambridge haben mir ein über das anderemal gezeigt, es sei für sie so selbstverständlich wie das Atmen, daß alle menschlichen Gesellschaften nur Abarten voneinander sind; saß von nun an alle Kriege gewissermaßen Bürgerkriege sind; und daß das große Abenteuer des Menschseins zu allen Zeiten und allerorten so ziemlich das gleiche ist.
Es verstört einen, das Gefühl verloren zu haben, einer einzigen, einer Sicherheit gewährenden Gemeinschaft anzugehören, etwa Neu-England oder den USA oder der westlichen Kulturwelt; genährt und gestützt zu werden von einer dieser Lokalisierungen. Aber mit diesen ist es vorbei. Wir haben in diesem Sinne kein warmes Nest mehr; die Wissenschaftler und die Dichter sind es, die es uns genommen haben.

Wenn T. S. Eliot einen Vers Dantes einem Stoßgebet aus einem Sanskrit-Epos gegenüberstellt, ärgert das meinen Freund Professor X. Aber seine Studenten verstehen sehr gut, daß Eliot damit meint, alle Literatur sei nur ein einziger Ausdruck einer einzigen menschlichen Lebenserfahrung. Wenn James Joyce auf vierundzwanzig Sprachen wie auf einem Klavier spielt, finden sie das nicht unsinnig. Alle Zungen der Welt sind nur lokale Unterschiede einer einzigen Sprache des Planeten; Diese Vorstellungen haben viel Beängstigendes, aber auch viel Verheißungsvolles. Oh, gewiß, es ist etwas Einsames und Beunruhigendes, sich als ein einzelnes Wesen inmitten der Schöpfung von Milliarden und aber Milliarden zu empfinden, und es ist ein besonders starkes Verlassenheitsgefühl, wenn die eigenen Eltern diese Empfindung überhaupt nie gehabt haben. Aber es ist aufregend und begeisternd, unter den ersten zu sein, die die einzige brüderliche Gemeinschaft begrüßen und willkommen heißen, die letztlich gültig sein kann, - die allmählich und schmerzhaft heraufkommende Einheit all derer, die auf diesem einzigen von Menschen bewohnten Stern leben.
(Th. Wilder: An die Jugend. Zürich o.J. S. 9 � 20)


Enigma antwortete am 29.06.04 (15:48):

Ich muss sagen, dass ich mich auch gerne mit diesem Thema beschäftigt habe. In meiner Jugend habe ich "die Brücken von San Luis Rey" gelesen; wenn ich mich recht erinnere, befasst das Buch sich mit dem Thema "Zufall oder Fügung".
Vielleicht lese ich es nach diesem Hinweis noch einmal. Auf jeden Fall habe ich mir die Rede, die mir nicht bekannt war, ausgedruckt. So kann ich sie noch einmal in Ruhe lesen.
Vielen Dank.
Wie ich sehe, ist es nie zu spät, noch etwas dazuzulernen.
Enigma


iustitia antwortete am 30.06.04 (17:48):

Ja, genau meine Erinnerungen: auch an "Die Brücke von San Luis Rey" (schon 1927 in USA)- der Deutschlehrer hatte uns uns um 1962/63 rum empfohlen.

*
Auch Wilders Goethe-Rede ist ähnlich wichtig. Heute redet keiner mehr von humanistischen Werten - oder nur zum Schein.
Die Naturwissenschaften haben eine solch idiotische Rolle übernommen, an den Schulen, in den Hochschulen, im öffentlichen Bewußtsein...!
Jede(r) erhofft da was. Sogar sehr viel. Eigentlich alles, was früher für den vielversprochenen H i m m e l aufgehoben blieb. Und was passiert: es gibt nur mehr Sehnsüchte, Süchte, Krankheiten als früher. Krankheiten, die abhängig sind von unserem kulturellen Mitleben, unserem Genießenwollen. (Ach, pardon: ich geh spazieren. Da "rühr" ich mehr um, als am PC. Jedenfalls für meinen Körperumsatz.