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THEMA:   Jan Neruda...

 3 Antwort(en).

iustitia begann die Diskussion am 12.07.04 (14:14) :

Pablos Vorbild, Jan N e r u d a - hier eine Geschichte von ihm:
Jan Neruda: Zu den drei Lilien

Ich glaube, ich war damals von Sinnen. Die Pulse flogen, das Blut wallte.
Es war eine warme, aber dunkle Sommernacht. Die schweflige, tote Luft der letzten Tage hatte sich endlich zu schwarzen Wolken geballt. Ein stürmischer Wind peitschte sie vor sich her, dann brauste ein mächtiger Sturm los, Regengüsse prasselten nieder, und Sturm und Regen dauerten bis spät in die Nacht. Ich saß unter den hölzernen Arkaden des Gasthauses Zu den drei Lilien, unweit des Strahover Tores. Es war ein kleines Gasthaus, das sich nur sonntags regen Besuches erfreute, wenn sich im Salon zu den Klängen eines Klaviers Kadetten und Korporäle im Tanze drehten. Auch heute war Sonntag. Ich saß allein unter den Arkaden in der Nähe eines Fensters. Gewaltige Donnerschläge folgten einander fast ohne Unterlaß, der Regen schlug aufs Schindeldach über mir, das Wasser rann in stiebenden Bächlein zu Boden, das Klavier im Salon gönnte sich nur kurze Ruhepausen und klimperte dann weiter. Wenn ich nicht gerade durchs offene Fenster die sich drehenden, lachenden Paare beobachtete, schaute ich hinaus in den dunklen Garten. Manchmal, wenn ein greller Blitz aufzuckte, sah ich an der Gartenwand am Ende der Arkaden weiße Häufchen menschlicher Knochen. Denn hier war einst ein kleiner Friedhof gewesen, und eben diese Woche hatte man die Gebeine ausgegraben, um sie andernorts beizusetzen. Das Erdreich war noch zerwühlt, die Gräber waren offen. Ich hielt es immer nur kurze Zeit an meinem Tisch aus.
Des öfteren stand ich auf und trat für eine Weile an die sperrangelweit geöffnete Tür des Salons, angelockt von einem schönen, etwa achtzehnjährigen Mädchen. Schlanker Wuchs, volle, warme Formen, im Nacken gestutztes, lockeres, schwarzes Haar, ovales, glattes Gesicht, helle Augen ein schönes Mädchen! Ihre Augen hatten es mir vor allem angetan. Klar wie Wasser, geheimnisvoll wie ein Weiher begehrliche Augen.
(Forts.)


iustitia antwortete am 12.07.04 (18:03):

Okay - war mir so "passiert":

Jan Neruda: Zu den drei Lilien (Teil 2)

Sie tanzte fast unaufhörlich. Aber sie merkte sehr wohl, daß sie meine Blicke anzog. Wenn sie an der Tür vorbeitanzte, an der ich stand, schaute sie mich immer fest an. Wenn sie wieder in den Salon hineintanzte, sah und spürte ich, daß sie mich bei jeder Drehung mit einem Blick streifte. Sprechen sah ich sie mit niemandem.
Schon wieder stand ich da. Unsere Blicke trafen sofort aufeinander, obwohl sie in der letzten Reihe stand. Die Quadrille neigte sich dem Ende zu, die fünfte Tour klang aus. Da kam noch ein Mädchen hereingelaufen, atemlos und durchnäßt, und drängte sich durch. Die Musik zur sechsten Tour setzte ein. Über die erste Kette hinweg flüsterte die Neuangekommene der anderen etwas zu, und diese nickte stumm. Die sechste Tour dauerte etwas länger, sie wurde von einem flotten Kadetten kommandiert. Als Schluß war, blickte das Mädchen mit den schönen Augen noch einmal zum Garten her, dann ging sie zur Vordertür des Salons. Ich sah, wie sie draußen das Oberkleid über den Kopf zog und verschwand.
Ich ging und nahm wieder meinen Platz ein. Abermals brach das Gewitter los, als habe es noch nicht genug gewütet; der Sturm toste mit neuer Kraft, Blitze fuhren nieder. Ich lauschte erregt, aber meine Gedanken galten nur dem Mädchen, diesen wunderbaren Augen.
Erst nach einer Viertelstunde schaute ich erneut zur Tür des Salons. Und da stand sie wieder. Sie ordnete ihr durchnäßtes Kleid, trocknete sich das feuchte Haar; eine ältere Freundin half ihr dabei.
�Und warum bist du bei dem Unwetter heimgegangen?� �Die Schwester hat mich geholt�, vernahm ich jetzt zum erstenmal ihre Stimme. Sie klang seidenweich und voll.
�Ist etwas geschehen?�
�Die Mutter ist gestorben.�
Mich überrieselte es.
Sie drehte sich um und trat heraus. Sie stand neben mir, den Blick auf mich gerichtet, ich spürte ihre Hand neben meiner. Ich griff danach, sie fühlte sich weich an.
Stumm zog ich das Mädchen tiefer und tiefer in die Arkaden. Sie folgte willig.
Das Gewitter hatte nun seinen Höhepunkt erreicht. Der Sturm brauste daher wie eine Sturzflut, Himmel und Erde kreischten, über unseren Häuptern rollte der Donner; es war, als schrien ringsum die Toten aus den Gräbern.
Sie schmiegte sich an mich. Ich spürte, wie ihr feuchtes Kleid an meiner Brust klebte, spürte den weichen Körper, den warmen Hauch ihres Atems.
Mir war, als müßte ich ihr die verrottete Seele aus dem Leib saugen.
(J.N.: Zu den drei Lilien. Übersetzt von Pavel Kohut. In: Geschichten von der Prager Kleinseite. 1979. S. 204ff.)


wanda antwortete am 14.07.04 (21:04):

ich habe die Geschichte eben erst gelesen, mit Vergnügen gelesen und kann mich mit dem letzten Satz nicht arrangieren.


iustitia antwortete am 15.07.04 (20:54):

Ja, Dein Sprachgefühl, liebe "wanda", ist verlässlich.
Eine andere Übersetzung (von Günther Jarosch) bietet folgenden Schluss der 1876 erschienenen Erzählung:

"Sie presste sich an mich. Ich fühlte, wie sich ihr feuchtes Kleid an meine Brust schmiegte, fühlte ihren weichen Körper, den warmen, glühenden Atem - mir war, als müsste ich ihr die verruchte Seele aussaugen!
*
Nach dieser Übersetzung fängt der Erzähler mit folgenden Sätzen die Geschichte an:
"Ich glaube, damals war ich von Sinnen. Mein Puls flog, mein Blut wallte."

Was dieser "Mann" dort also genießt und gleichzeitig als unmoralisch verdammen will, ist also die Hilflosigkeit eines Mädchens... Er entschuldigt sich mit männertypischem Verhalten: Die Frau ist schuld...
Jan Neruda (1834 - 1891) war ein realistischer, sozialkritischer Dicher, ähnlich wie in der Schweiz Gottfried Keller. Deshalb hat Pablo Neruda ihn als Namens-Vorbild genommen.
Seine bekanntesten Erzählungen sind wohl:
"Der Wassermann" und "Die Sankt-Wenzels-Messe"; beide in dem TaBu von Aufbau (bb 441): Jan Neruda: Kleinseitner Geschichten. (1980 erschienen.)