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THEMA:   Gedichte Kapitel 34

 123 Antwort(en).

hl begann die Diskussion am 26.11.04 (10:11) :

Ein neues Kapitel mit neuer Vorlesefunktion. Die Mailliste wird gleich übertragen.


Vorlesefunktion  hl antwortete am 26.11.04 (10:31):

Zu Beginn ein Songtext von Gert Steinbäcker

Es weht a and'rer Wind



Es is uns ziemlich gut 'gangen, wenn i heute z'rückschau
Es war'n noch Fehler erlaubt, es war all's net so genau
Irgendwie war immer Aufschwung, die Probleme abschätzbar
Und die Zukunft war klar

Man hat die Dinge besprochen, auch dem Gegner zug'hört
Die Toleranz war im Wachsen, man hat niemand aussig'sperrt
Mit Gewalt löst man nix, a echter Krieg war nur im Fernseh'n
Und weit weg vorstellbar

Grenzen brechen z'samm, alle jubilier'n
Wenn Völker sich befrei'n, muss man applaudier'n
Plötzlich kommt man drauf, es wackelt die ganze Welt
Unmut schleicht sich ein und es kost' unser Geld

Und man wittert die G'fahr, dass einem schlechter geh'n könnt'
Und so mancher Kussmund zeigt jetzt plötzlich die Zähne
Jetzt muss man irgendwie schau'n, den Letzten beißen die Hund'
Dass man dabei is, ganz vorn

Die ersten Stimmen verdammen den Sozialfirlefanz
Mir hab'n jetzt andere Sorgen, jetzt is Schluss mit die Tanz
Und so mancher heiße Tip mit nationalem Unterton
Stoßt jetzt auf offene Ohr'n

Masken fall'n jetzt schnell, Fassaden bröckeln ab
Ballast muss über Bord, und die Zeit wird knapp

Es weht a and'rer Wind, es weht a and'rer Wind
Man rückt jetzt auseinand' und das geht viel schneller
Als bis man z'sammenfind'
Es weht a and'rer Wind, es weht a andr'rer Wind
Das eig'ne Hemd fest im Griff traut man jedem alles zu
Und das geht unheimlich g'schwind

Man will für schwierige Fragen einfache Lösungen hör'n
Und so manch' starker Mann sieht ihn schon aufgeh'n, sein Stern
Und man fackelt net so lang, man hat die Schuldig'n für wurscht was
Wieder gleich bei der Hand

Die Angst is a Sau, der Ton is schärfer word'n
Die dünne Schicht Haltung hat man schnell verlor'n

Es weht a and'rer Wind, ...


Vorlesefunktion  iustitia antwortete am 26.11.04 (10:40):

Danke noch - zurück an die Beispiele; auch für den frech-schönen Wedekind.

Gioconda Belli:
Halluzination

Heute erwachte ich
ganz still als Poetin
und stellte mir vor ich könnte
mich einfach hinfließen lassen zur Liebe
wie ein träges Segelschiff
spielerisch dem Winde folgt.
Ich könnte plötzlich da sein,
eine Erscheinung,
das Klappern der Schreibmaschinen
vergessen
das Telefon
die Zeit
und dich anschaun
als ob nichts auf der Welt wichtiger sei.
Diese Vogelgefühle machen mir Angst
weiß ich doch nicht wie weit
die Stäbe des Käfigs sind
die ich manchmal in deiner Stimme spüre
wenn du mich zurückholst
in die Wirklichkeit.

Weißt du denn, ob ich nicht
an einem heimlichen
magischen Ort
wo ein freundlicher
gütiger Zauberer haust
den Kompaß finde
der mir den Weg weist
zu deinem Herzen
und mich nicht irren läßt in dem Wald
wo der Kobold der hinter deinen Augen lebt
sein Häuschen hat mit Teekannen,
Spiegeln und Zaubertiegeln?

Es gibt Tage, da füllen sich
meine Arme mit Blumen
und meine Haut riecht
nach duftenden Kräutern
und ich zerzause mein Haar,
ziehe meine Schuhe aus
und denke, diese ganze Verrücktheit
gefällt mir.
Du kannst dir nicht vorstellen
wie sehr mir gefällt
Eva zu sein und dir meine Welt
zu benennen
und zu beobachten wie du
mit diesem seltsamen Ausdruck
als ob du mich um den Schlüssel bätest
und gleich wieder zurückzucktest
in die Vernunft
mit komplizierten Fäden knüpfst
was uns kitzelt
damit wir Telefon und Schreibtisch
verlassen
die verschiedenen Planeten vergessen,
die wir
bewohnen
in freiem Flug aus dem Fenster schweben
- nackt wie übermütige Engel -
die Labyrinthe der Lebensrosen öffnen
die aberwitzigen Maschinen
des Todes stoppen
und zur Mitte der Sonne gelangen
zur Mitte des köstlichen Wahnsinns
wo ein Kuß
alle Weisheit
des unerforschlichen Universums
enthält.
*
ULR � mit einem Bilde...

Internet-Tipp: https://www.deutsche-liebeslyrik.de/die12/marz12.htm


Vorlesefunktion  hl antwortete am 26.11.04 (21:46):

Im November zu lesen


Gottlieder eines Gläubigen

Am Ufer deiner ewigen Unendlichkeit
wandle, irre ich und suche dich.
Es starrt der Blick zum Meere unverwandt,
es müht sich und versinkt der Fuß im Sand,
es hebt sich immer in den Wind die Hand.
Und wie das Meer herüber Well um Welle trägt,
und mir mein Herz das rote Blut bis an die Lippen schlägt,

Gott, Gott, ich suche dich.
Du bist das Meer, das Meer,
und ich bin eine Hand voll Sand,
verschäumt, verweht.
Ich bin am öden, weiten Strand
der schwarze Tang,
durch den der Wandrer strauchelnd geht.
Ich bin mein Leben lang
nur das zerschellte Wrack.
Und du das Meer, das über alles her
unendlich flutet Tag und Tag.

[Ernst Thrasolt 1878-1945]




Im Nebel

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

[Hermann Hesse)


Vorlesefunktion  aknediw antwortete am 26.11.04 (22:36):

Advent

Es treibt der Wind im Winterwalde
Die Flockenherde wie ein Hirt,
Und manche Tanne ahnt, wie balde
Sie fromm und lichterheilig wird;

Und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
Streckt sie die Zweige hin - bereit,
Und wehrt dem Wind und wächst entgegen
Der einen Nacht der Herrlichkeit.

Rainer Maria Rilke
Allen einen schönen 1. Advent. Adolf


Vorlesefunktion  hl antwortete am 27.11.04 (05:29):

Ich sehn mich so nach einem Land
der Ruhe und Geborgenheit.
Ich glaub, ich habs's einmal gekannt,
als ich den Sternenhimmel weit
und klar vor meinen Augen sah,
unendlich großes Weltenall.
Und etwas dann mit mir geschah:
Ich ahnte, ich spürte auf einmal,
das alles: Sterne, Berg und Tal,
ob ferne Länder, fremdes Volk,
sei es der Mond, sei's Sonnenstrahl,
daß Regen, Schnee und jede Wolk,
daß all das in mir drin ich find,
verkleinert, einmalig und schön.
Ich muß gar nicht zu jedem hin,
ich spür das Schwingen, spür die Tön'
ein's jeden Dinges, nah und fern,
wenn ich mich öffne und werd still
in Ehrfurcht vor dem großen Herrn,
der all dies schuf und halten will.
Ich glaube, das war der Moment,
den sicher jeder von euch kennt,
in dem der Mensch zur Lieb bereit:
Ich glaub, da ist Weihnachten nicht weit!

Hermann Hesse



Einen ruhigen besinnlichen 1. Advent wünsche ich


Vorlesefunktion  iustitia antwortete am 27.11.04 (08:36):

Nicht nur für Schmetterlingsfans, auch für die Sehnsucht haben nach Metamorphosen:

Novalis:
Schmetterlinge

wer schmetterlinge lachen hört,
der weiß wie wolken schmecken.
der wird im mondschein,
ungestört von furcht,
die nacht entdecken. ...

der wird zur pflanze, wenn er will.
zum tier, zum narr, zum weisen.
und kann in einer stunde
durch das ganze weltall reisen. ...

der weiß, daß er nichts weiß,
wie alle anderen auch nichts wissen.
nur weiß er, was die anderen,
und auch er noch lernen müssen. ...

wer in sich fremde ufer spürt
und mut hat sich zu recken;
der wird allmählich, ungestört von furcht,
sich selbst entdecken.
abwärts zu den gipfeln seiner
selbst blickt er hinauf.
den kampf mit seiner unterwelt
nimmt er gelassen auf. ...

wer mit sich selbst in frieden lebt,
der wird genauso sterben:
und ist selbst dann lebendiger
als alle seine erben.

*
URL einer kühnen Schmetterlings-Frau:

Internet-Tipp: https://www.gomah.de/poems/pics/fb020_bv_fairy.jpg


Vorlesefunktion  Enigma antwortete am 27.11.04 (09:29):

Guten Morgen alle,
und die Grüsse zum 1. Advent erwidere ich ganz herzlich.

Ulrich Schaffer
Ich wage der Mensch zu sein...

Ich wage der Mensch zu sein, der ich bin;
unfertig, aber doch glücklich,
unsicher im Neuen und doch wissbegierig,
manchmal ängstlich in Entscheidungen,
verwirrt im Überangebot der Ideen,
doch auch begeistert von Kleinigkeiten.
Zweifelnd und zögernd,
dann wieder mutig und ernst,
verzaubert von Worten
oder schweigsam zurückgezogen.
Manchmal zerrissen und voller Widersprüche,
aber auch einseitig und naiv.
Und noch vieles mehr bin ich,
oft nicht genau zu beschreiben.
Ich wage es, mich selbst so anzusehen,
so zu lieben, wie ich bin,
und mich auch so zu zeigen,
ob ich nun dafür geliebt werde oder nicht.

Schaffer stammt ursprünglich aus Pommern, ist aber mit seiner Familie nach Kanada ausgewandert, wo er heute in British Columbia lebt. Er hat sich auch vor allem als Naturfotograf einen Namen gemacht. Im Moment versuche ich, einen Kalender von ihm in Deutschland aufzutreiben.
Näheres - wen es interessiert - bitte der URL entnehmen.

@iustitia
ein sehr schönes Gedicht über Schmetterlinge.
Aber die Schmetterlings-Frau gibt ihr Geheimnis, wie sie kühn wurde, nicht preis. Bei der URL kommt bei mir: "Forbidden" :-)

Internet-Tipp: https://www.ulrich-schaffer.com/index.htm


Vorlesefunktion  Sofia204 antwortete am 27.11.04 (14:42):

Im Baum kreist die Runde der Jahreszeit
wirft Ringe unter`s Rindenkleid
und metamorphorisiert
den Fluß der Zeit

kratz ;-)

*


von der Namensähnlichkeit des Dichter`s Ulrich Schaffer
in serpentinerart zum Dichter Albrecht Schaeffer
(1885-1950)

Wandlungen

Keiner wird, keiner wird,
Eh` er sich ins Nichts verirrt.

Süß und Hold, Süß und Hold,
hast dein Haupt in Staub gerollt.

Stark und Gut, Stark und Gut
Du verspritzest erst dein Blut.

Still und Rein, Still und Rein
Schluchz`st empor aus Nächte Pein.

Gottes Reich, Gottes Reich
Schaut sich nur durch Todes-Streich,

Der das schöne Fermament
der das Herz vom Herzen trennt.

Blum und Gras, Blum und Gras
Wissen davon auch etwas.

Busch und Baum, Busch und Baum
Sahn dich gehn aus ihrem Traum.

Busch warst du, und Baum warst du
Pilgre deiner Wandlung zu!

Steig in`s Leid, steig in`s Leid
In die Unverweslichkeit.


Vorlesefunktion  hl antwortete am 27.11.04 (16:45):

Nikolaus Lenau (1838)


Ein Herbstabend

Es weht der Wind so kühl, entlaubend rings die Äste,
Er ruft zum Wald hinein: Gut Nacht, ihr Erdengäste!

Am Hügel strahlt der Mond, die grauen Wolken jagen
Schnell übers Tal hinaus, wo alle Wälder klagen.

Das Bächlein schleicht hinab, von abgestorbnen Hainen
Trägt es die Blätter fort mit halbersticktem Weinen.

Nie hört ich einen Quell so leise traurig klingend,
Die Weid am Ufer steht, die weichen Äste ringend.

Und eines toten Freunds gedenkend lausch ich nieder
Zum Quell, er murmelt stets: wir sehen uns nicht wieder!

Horch! plötzlich in der Luft ein schnatterndes Geplauder:
Wildgänse auf der Flucht vor winterlichem Schauder.

Sie jagen hinter sich den Herbst mit raschen Flügeln,
Sie lassen scheu zurück das Sterben auf den Hügeln.

Wo sind sie? ha! wie schnell sie dort vorüberstreichen
Am hellen Mond und jetzt unsichtbar schon entweichen;

Ihr ahnungsvoller Laut läßt sich noch immer hören,
Dem Wandrer in der Brust die Wehmut aufzustören.

Südwärts die Vögel ziehn mit eiligem Geschwätze;
Doch auch den Süden deckt der Tod mit seinem Netze.

Natur das Ewge schaut in unruhvollen Träumen,
Fährt auf und will entfliehn den todverfallnen Räumen.

Der abgerißne Ruf, womit Zugvögel schweben,
Ist Aufschrei wirren Traums von einem ewgen Leben.

Ich höre sie nicht mehr, schon sind sie weit von hinnen;
Die Zweifel in der Brust den Nachtgesang beginnen:

Ists Erdenleben Schein? � ist es die umgekehrte
Fata Morgana nur, des Ewgen Spiegelfährte?

Warum denn aber wird dem Erdenleben bange,
Wenn es ein Schein nur ist, vor seinem Untergange?


Vorlesefunktion  hl antwortete am 28.11.04 (05:15):



Sich ausstrecken
nach dem
neuen Tag

fallen lassen
was alt
was beschwert

frei sein
atmen -
mit weit
geöffneten Händen
neues beginnen

C.Kerting


Vorlesefunktion  Enigma antwortete am 28.11.04 (08:00):

...oh, da ist ja jemand noch früher als ich :-)

Michael Snunit
Der Seelenvogel

Tief, tief in uns wohnt die Seele. Noch niemand hat sie gesehen, aber jeder weiß, daß es sie gibt. Und jeder weiß auch, was in ihr ist.

In der Seele, in ihrer Mitte, steht ein Vogel auf einem Bein. Der Seelenvogel. Und er fühlt alles, was wir fühlen.

Wenn uns jemand verletzt, tobt der Seelenvogel in uns herum, hin und her, nach allen Seiten, und alles tut ihm weh.

Wenn uns jemand lieb hat, macht der Seelenvogel fröhliche Sprünge, kleine, lustige, vorwärts und rückwärts, hin und her.

Wenn jemand unseren Namen ruft, horcht der Seelenvogel auf die Stimme, weil er wissen will, ob sie lieb oder böse klingt.

Wenn jemand böse auf uns ist, macht sich der Seelenvogel ganz klein und ist still und traurig.

Und wenn uns jemand in den Arm nimmt, wird der Seelenvogel in uns größer und größer, bis er uns fast ganz ausfüllt. So gut geht es ihm dann.

Ganz tief in uns ist die Seele. Noch niemand hat sie gesehen, aber jeder weiß, daß es sie gibt. Und noch nie, noch kein einziges mal, wurde ein Mensch ohne Seele geboren. Denn die Seele schlüpft in uns, wenn wir geboren werden, und sie verläßt uns nie, keine Sekunde, solange wir leben. So, wir wir auch nicht aufhören zu atmen von unserer Geburt bis zum Tode.

Sicher willst du wissen, woraus der Seelenvogel besteht. Das ist ganz einfach. Er besteht aus Schubladen. Diese Schubladen können wir nicht einfach aufmachen, denn jede einzelne ist abgeschlossen und hat ihren eigenen Schlüssel. Und der Seelenvogel ist der einzige, der die Schubladen öffnen kann. Wie? Auch das ist ganz einfach: mit seinem Fuß.

Der Seelenvogel steht auf einem Bein. Das zweite hat er, wenn er ruhig ist, an den Bauch gezogen. Mit dem Fuß dreht er den Schlüssel zu der Schublade um, die er öffnen will, zieht am Griff, und alles, was darin ist, kommt zum Vorschein.

Und weil alles, was wir fühlen, eine Schublade hat, hat der Seelenvogel viele Schubladen. Es gibt eine Schublade für die Eifersucht und eine für die Hoffnung. Es gibt eine Schublade für Enttäuschung und eine für Verzweiflung. Es gibt eine Schublade für Geduld und eine für Ungeduld. Auch für Haß und Wut und Versöhnung. Eine Schublade für Faulheit
und Leere und eine Schublade für die geheimsten Geheimnisse. Diese Schublade wird fast nie geöffnet. Es gibt auch noch andere Schubladen. Du kannst selbst wählen, was drin sein soll.

Manchmal sind wir eifersüchtig, ohne daß wir es wollen. Und manchmal machen wir etwas kaputt, wenn wir eigentlich helfen wollen. Der Seelenvogel gehorcht uns nicht immer und bringt uns manchmal in Schwierigkeiten.

Man kann schon verstehen, daß die Menschen verschieden sind, weil sie verschiedene Seelenvögel haben. Es gibt Vögel, die jeden Morgen die Schublade "Freude" aufmachen. Dann sind die Menschen froh.

Wenn der Vogel die Schublade "Wut" aufmacht, ist der Mensch wütend. Und wenn der Vogel die Schublade nicht mehr zuschließt, hört der Mensch nicht auf, wütend zu sein.

Manchmal geht es dem Vogel nicht gut. Dann macht er böse Schubladen auf.

Geht es dem Vogel gut, macht er Schubladen auf, die uns gut tun.

Manche Leute hören den Seelenvogel oft, manche hören ihn selten. Und manche hören ihn nur einmal in ihrem Leben. Deshalb ist es gut, wenn wir auf den Seelenvogel horchen, der tief, tief in uns ist. Vielleicht spät abends, wenn alles still ist....

Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.


Vorlesefunktion  pilli antwortete am 28.11.04 (18:33):

Mit der Zeit lernst du,
dass eine Hand halten
nicht dasselbe ist
wie eine Seele fesseln.
Und dass die Liebe
nicht anlehnen bedeutet
und Begleitung nicht Sicherheit.
Du lernst allmählich,
dass Küsse keine Verträge sind
und Geschenke keine Versprechen.
Und du beginnst,
deine Niederlage erhobenen Hauptes
und offenen Auges hinzunehmen
und mit der Würde des Erwachsenen,
nicht maulend wie ein Kind.
Und du lernst, all deine
Straßen auf dem Heute zu bauen.
(Kelly Priest)

entdeckt bei einem besuch bei "Ti Amo"

eine der seiten im netz, die es wert ist, immer mal wieder dort zu verweilen.

Internet-Tipp: https://www.ti-amo.at/inhalt.htm


Vorlesefunktion  hl antwortete am 28.11.04 (18:59):

Nachtrag

und mit der Zeit lernst du,
dass du niemanden
wirklich vertrauen kannst
dass Menschen lügen
und betrügen
und du lernst,
dich zu verschliessen
wie du es als Kind
bereits gelernt
und als Erwachsene vergessen hast.
Du übst deine Kindheitsstrategien,
nach innen reden,
nach aussen schweigen;
und mit der Zeit
heilen die Wunden
und du vergisst
und öffnest dich erneut
und lernst mit der Zeit
deine Lektion
immer wieder neu
.. immer wieder gleich

hl


Vorlesefunktion  hl antwortete am 29.11.04 (20:55):

Erinnerung

Joseph von Eichendorff

1

Lindes Rauschen in den Wipfeln,
Vöglein, die ihr fernab fliegt,
Bronnen von den stillen Gipfeln,
Sagt, wo meine Heimat liegt?

Heut im Traum sah ich sie wieder,
Und von allen Bergen ging
Solches Grüßen zu mir nieder,
Daß ich an zu weinen fing.

Ach, hier auf den fremden Gipfeln:
Menschen, Quellen, Fels und Baum,
Wirres Rauschen in den Wipfeln, -
Alles ist mir wie ein Traum.

2

Die fernen Heimathöhen,
Das stille, hohe Haus,
Der Berg, von dem ich gesehen
Jeden Frühling ins Land hinaus,
Mutter, Freunde und Brüder,
An die ich so oft gedacht,
Es grüßt mich alles wieder
In stiller Mondesnacht.


Vorlesefunktion  hl antwortete am 30.11.04 (16:02):

Herbstentschluss

Trübe Wolken, Herbstesluft,
Einsam wandl' ich meine Straßen,
Welkes Laub, kein Vogel ruft
Ach, wie stille! wie verlassen!

Todeskühl der Winter naht;
Wo sind, Wälder, eure Wonnen?
Fluren, eurer vollen Saat
Goldne Wellen sind verronnen!

Es ist worden kühl und spät,
Nebel auf der Wiese weidet,
Durch die öden Haine weht
Heimweh; - alles flieht und scheidet.

Herz, vernimmst du diesen Klang
Von den felsentstürzten Bächen?
Zeit gewesen wär' es lang,
Dass wir ernsthaft uns besprächen!

Herz, du hast dir selber oft
Weh getan und hast es andern,
Weil du hast geliebt, gehofft;
Nun ist's aus, wir müssen wandern!

Auf die Reise will ich fest
Ein dich schließen und verwahren,
Draußen mag ein linder West
Oder Sturm vorüberfahren;

Dass wir unsern letzten Gang
Schweigsam wandeln und alleine,
Dass auf unserm Grabeshang
Niemand als der Regen weine!

Nikolaus Lenau
(1802 - 1850)


 Enigma antwortete am 01.12.04 (10:20):

Clara Müller
Herbstliche Liebe

Meine Seele spinnt dich ein;
schimmernde Marienfäden
sollen ihre Häscher sein.

Ihre Schlingen fühlst du kaum.
Eine rote Märtyrkrone
brech ich dir vom Eschenbaum.

Deine Stirne küß ich bleich -
und so führ ich dich gefangen
mitten durch mein Schattenreich.

Du wirst ganz mein eigen sein,
wirst verbluten und verblühen -
meine Seele spinnt dich ein.

Internet-Tipp: https://www.litlinks.it/m/mueller_clara.htm


 hl antwortete am 04.12.04 (10:34):

Allmählich wird es Winter.


Gustav Falke

Winter

Ein weißes Feld, ein stilles Feld.
Aus veilchenblauer Wolkenwand
hob hinten, fern am Horizont,
sich sacht des Mondes roter Rand.

Und hob sich ganz heraus und stand
bald eine runde Scheibe da,
In düstrer Glut. Und durch das Feld
klang einer Krähe heisres Krah.

Gespenstisch durch die Winternacht
der große dunkle Vogel glitt,
und unten huschte durch den Schnee
sein schwarzer Schatten lautlos mit.


 Enigma antwortete am 05.12.04 (09:11):

Du gehst mir aus dem Sinn

Wir gelten als ein Paar, das man beneidet.
Man sagt uns nach, uns bringt nichts aus dem Gleis.
Und wenn es heisst: "bis dass der Tod euch scheidet" -
dann sind wir zwei womöglich der Beweis.
Oft war`s nicht leicht. Doch jede unsrer Krisen
war immer eine Chance und ein Gewinn.
Wie nur erkläre ich mir dann,
was ich mir nicht erklären kann:
Du gehst mir aus dem Sinn.


Ich liebe deine Gesten, die mir sagen,
dass du noch immer jeden Tag genießt,
dein Lachen und die kluge Art zu fragen
und wie du meine Schwächen übersiehst.
Wir teilen schon beinah ein halbes Leben.
Das wirft man nicht aus einer Laune hin.
Dir zu vertraun, war niemals schwer.
Nun hab ich keine Worte mehr.
Du gehst mir aus dem Sinn.


Wir sind so weit gekommen in den Jahren.
Ich hab mir nie was andres vorgestellt.
Was immer auch geschah - wir beide waren
gemeinsam eine Insel in der Welt.
Nun reise ich in schweigenden Gedanken
allein zu meiner eignen Insel hin,
wo niemand mich beim Namen nennt
und wo den deinen keiner kennt,
wo nichts mehr kalt ist oder heiß
und die Erinnerung schwarz-weiß,
wo man sein Herz nicht schlagen hört
und wo kein Traum die Nächte stört
und wo du nicht mehr fragst,
warum ich traurig bin.

Text: Edith Jeske
Komponist: Rainer Bilefeldt

Frau Jeske hat mir - sehr freundlich und herzlich übrigens -erlaubt, das Lied zu posten.

Internet-Tipp: https://www.musenlust.de


 marie2 antwortete am 05.12.04 (10:31):

Vier Kerzen

Eine Kerze für den Frieden,
weil der Streit nicht wirklich ruht.
Für den Tag voll Traurigkeiten
Eine Kerze für den Mut.

Eine Kerze für die Hoffnung
gegen Angst und Herzensnot,
wenn Verzagt sein unseren Glauben
heimlich zu erschüttern droht.

Eine Kerze, die noch bliebe,
als die wichtigste der Welt;
Eine Kerze für die Liebe,
weil nur diese wirklich zählt.

Rainer Maria Rilke


Das Gedicht fand ich im Internet. Weiß jemand von Euch, ob es wirklich von Rilke ist? Für mich passt es irgendwie nicht zu den Gedichten, die ich von ihm kenne.
Marie


 pilli antwortete am 06.12.04 (00:46):

marie2,

ich habe das gedicht nicht auf der u.a. webseite gefunden, obwohl die auswahl der angebotenen gedichte groß ist.

aber ich entdeckte:

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.

Internet-Tipp: https://www.rilke.de/


 Enigma antwortete am 06.12.04 (10:03):

Guten Morgen,
besonders Marie2 und Pilli,

"Vier Kerzen" habe ich vielfach im Netz gefunden, immer mit der Angabe, dass es von Rilke ist.

Komm Erde

Komm Erde,
daß ich an dein Herz mich lege
nach all den lauten Reisen
und der Pflicht!
Es singt das Gras!
Die Welle plätschert träge,
und der Zenit
lodert von Sonnenlicht!
Jenseits der Meere
voll Muwilligkeiten
war ich oft ungeduldig,
du mein Land, -
und nach dem großen Wunder
unserer Weiten
hab ich manch andres Wunder
noch erkannt.
Und dennoch war ich
all in dem Gewimmel
sehnsüchtig
deiner Stille noch ergeben,
und ich bin glücklich,
daß an deinem Himmel
die Wolken wie Gedanken
zíehn und schweben.

aus dem Russischen übersetzt von Günther Deicke

Internet-Tipp: https://www.kulturportal-russland.de/neuerscheinungen_detail.jsp?rid=128


 marie2 antwortete am 06.12.04 (17:51):

@ pilli und Enigma
Danke für Eure Bemühungen. Ich habe das Rilkegedicht nicht in dem Band gesammelte Werke gefunden. Es war mir auch in den Vorjahren nie aufgefallen, wenn ich im Netz ein Adventsgedicht suchte. Dass es auf vielen Seiten jetzt erscheint, ist ja letztendlich auch kein Beweis, dass es von Rilke ist. Hier wird so viel kopiert und weitergegeben. Es wird allerdings hier auch in vielen Predigten angeführt. Ich hoffe, die Prediger haben sorgfältig die Quellen gesucht.
Danke Pilli für die für mich neue Adresse mit Rilke-Adventskalender.

Ich liebe vergessene Flurmadonnen,
die ratlos warten auf irgendwen,
und Mädchen, die an einame Bronnen,
Blumen im Blondhaar, träumen gehn.

Und Kinder, die in die Sonne singen
und staunend groß zu den Sternen sehn,
und die Tage, wenn sie mir Lieder bringen,
und die Nächte, wenn sie in Blüten stehen.

Rainer Maria Rilke


 Enigma antwortete am 07.12.04 (10:04):

Guten Morgen,

ja Marie2, da hast Du Recht.
Mir ist auch schon öfter aufgefallen, dass eine ungenaue oder falsche Angabe sich wie ein sich selbst vervielfältigender Schneeball durchs Internet zieht.

Kommt Gott als Mensch

Kommt Gott als Mensch in Dorf und Stadt,
hat er nicht viel zu lachen.
Das Christenvolk ist lau und matt,
verstrickt in eigne Sachen.
Doch er zieht ein für jedermann,
denkt nicht nur an die Frommen.
Er will für alle kommen.

Drum sind die Kirchen viel zu klein,
wo die Choräle klingen:
Lässt Gott sich mit den Menschen ein,
kann auch die Strasse singen.
Hosianna kommt vom Straßenrand
und von den Kirchenbänken,
doch er weiß, was wir denken.

Kommt Gott als Mensch in Dorf und Stadt,
hat er nicht viel zu lachen:
Wir setzen ihn am Kreuze matt,
um weiter Krieg zu machen.
Auch Schweigen wird uns zum Gericht
in Kirchen und in Straßen.
Gott lässt nicht mit sich spassen!

Drum sind die Kirchen viel zu klein,
wo die Choräle klingen:
Die ganze Welt muss Schauplatz sein,
wenn wir von Neuem singen.
Es fängt mit dem Erschrecken an,
dass wir so lieblos leben.
Der Richter hat vergeben.

Kommt Gott als Mensch in Dorf und Stadt,
kann der wieder lachen,
der nicht mehr weiter lau und matt
das eigne Spiel will machen.
Wer Gottes Anspiel weiterspielt,
wird dies auch sehen lassen
in Kirchen und in Strassen.

Dieter Trautwein

Internet-Tipp: https://www.kath.de/bistum/limburg/presse/2002/id02359.htm


 marie2 antwortete am 09.12.04 (22:56):

Weihnachten am Alexanderplatz

Ein zwei drei Punks kommen
mir auf der Rolltreppe entgegen
der größte ein schlaksiger
Typ mit blonden Zotteln
und Nasenring sieht mich
für einen Moment aus hellen
rotgeäderten Augen an
Ich liebe dich johlt er plötzlich
Ich dich auch rufe ich so
leichthin über die Schulter
Echt? vernehme ich noch
dann bin ich in der S-Bahn
und er unten verschwunden

Tanja Dückers


 Enigma antwortete am 10.12.04 (07:45):

Heinz Kahlau
Zuneigung

Ich kann dich
riechen,
schmecken,
hören,
fühlen,
ansehn.

Ich mag dich
munter,
müde,
aufgeregt
und still.

Auch was mir nicht
an dir
gefällt,
kann ich
verstehn.

Weshalb ich gerne
bei dir
mit dir
älter werden
will.


 hl antwortete am 12.12.04 (21:56):


Zu viele Worte noch

Noch nichts ausgeschwiegen
Noch nichts ausgelitten
Noch nichts gestillt

Unsere Wörter werden wir tauschen
Liebster
unter dem Hundstern
und vergraben am Fusse des Hügels
dort wo das Kreuz
gen Norden steht

Und gesenkten Hauptes
werden wir ziehen
ein jeder in seine Fremde
vermummt und stumm

Und am Fenster sitzend
mit grossen Augen
werden wir warten
dass der Schnee fällt
lauschend dem Kommenden



Ingrid Haushofer in "Zeit der dunklen Frühe" Edition L
Czernik-Verlag, Hockenheim 2004


 Enigma antwortete am 13.12.04 (09:56):

Friedrich Gottlob Wetzel:
Bittersüßes Schwanenlied

Wie so geistig zum Zerblasen
ist doch meine Poesie!
Nacht und Nebel! Ein paar Phrasen!
Mondschein und Melancholie!
Grau in Grau macht wenig Mühe,
drum sind Nachtstück`meine Lust.
Freilich, Abende zu schildern
komm`ich nicht so wohlfeil los.
Silber, Gold, zu allen Bildern,
wenn auch Katzensilber bloß!
Doch bei allem, was ich dichte,
denk`ich an die Sterblichkeit.
Und, beseh`ich`s mir bei Lichte,
scheint mir`s wirklich hohe Zeit.
Ach was, Rom und Belvedere!
So ein Kirchhof macht mehr Not.
Und ich zieh`mir draus die Lehre:
wer gestorben, der ist tot!
Mausetot, die Jung und Alten!
Wie herzbrechend mal`ich das!
Wer kann da das Wasser halten,
mach`ich doch mich selber naß!
Aber auch Ruinen rühren!
Und gewiß, wär`am Ruin
noch etwas zu ruinieren,
täten`s meine Elegien!
Denk`ich nun: so geht`s uns allen,
müssen all`ins Loch hinein.
A propos, darüber fallen
mir die Kinderjahre ein.
Ach die hübschen Kinderspielchen,
wer spielt sie mit mir noch, wer?
Und wer setzt mich noch auf`s Stühlchen,
kömmt mir`s an von ungefähr?
Ball und Oper, all den Plunder
gäb`ich für solch Stühlchen hin!
Damals! Damals und jetztunder!
Miserabel wie ich bin!
Was half mir die Alpenreise?
Ach, die Mus`erfror im Schnee.
Sie erstarrt im ew`gen Eise
und ersoff im Genfer See!
Ich selbst war fast umgekommen.
Ja, das bißchen Spiritus,
was ich etwa mitgenommen,
fror und kam mir aus dem Fluß.
Ach, ich armer Tropf, was helfen
all die Ur`n und Gräber mir?
Alle Geister, Gnomen, Elfen?
Ganze Fuder Mondschein hier?
Tränenweiden und Zypressen?
Alles Jammerholz der Welt?
Leider bin ich schon vergessen,
eh`das Totenglöckchen schellt.
Mag ich tuschen, mag ich färben,
heißt`s ein ewig Einerlei.
Auch, daß alle Menschen sterben,
scheint nur wenigen mehr neu.
Ja mein ewig Lamentieren,
stets die alte Melodie.
Die Ruinen ruinieren
vollends alle Poesie!
Nun so weiß ich, was ich mache:
Fort, fort, nach Elysium!
Schwimmt doch schon in Lethes Bache
all mein ganzes bißchen Ruhm!
O wie gut, wer nichts zu denken
und nichts zu vergessen hat.
Er darf sich in Lethe senken.
Und verliert nichts bei dem Bad!

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/autoren/Druckversion_wetzel.htm


 Enigma antwortete am 20.12.04 (08:58):

May Ayim
grenzenlos und unverschämt
ein gedicht gegen die deutsche sch-einheit

ich werde trotzdem
afrikanisch
sein
auch wenn ihr
mich gerne
deutsch
haben wollt
und werde trotzdem
deutsch sein
auch wenn euch
meine schwärze
nicht paßt
ich werde
noch einen schritt weitergehen
bis an den äußersten rand
wo meine schwestern sind
wo meine brüder stehen
wo
unsere
FREIHEIT
beginnt
ich werde
noch einen schritt weitergehen und
noch einen schritt
weiter
und wiederkehren
wann
ich will
wenn
ich will
grenzenlos und unverschämt
bleiben

Internet-Tipp: https://www.marc-pendzich.de/NG/Links.htm


 iustitia antwortete am 20.12.04 (15:28):

Danke, enigma!
Aus einem anderen Forum, ein Stückchen Gegenwart, deutsch,hoihoi - unrecht-geschreibt - als Ergänzung zu enigmas schönem Gedicht:
*

jodoca:
inlander

gefunten
dunkelfarbengehaut
kopf-stein!pflaster?
getreht zusicht
unwerd!
dunkelfarbengehaut

Internet-Tipp: https://www1.unicum.de/forum/upload/printthread.php?t=4897


 Enigma antwortete am 21.12.04 (08:25):

...danke iustitia...

Alberto Caeiro
(eines der Heteronyme von Fernando Pessoa)
Der Hüter der Herden

Mein Blick ist strahlend wie eine Sonnenblume...
Ich habe die Angewohnheit, über die Straßen zu wandern
und dabei nach rechts und links zu schauen
und manchmal auch rückwärts...
und was ich in jedem Augenblick sehe,
habe ich nie zuvor gesehen
und weiß sehr wohl darauf achtzugeben...
Ich kenne den Wesensschauder,
den Kinder spüren würden, wenn sie bei der Geburt begriffen,
daß sie wirklich das Licht der Welt erblickten...
Ich fühle mich alle Augenblicke
für die ewige Neuheit der Welt geboren...
Ich glaub`an die Welt wie an ein Tausendschönchen,
weil ich sie sehe. Aber ich denke nicht über sie nach,
denn denken heißt nicht-verstehen.
Die Welt ward nicht geschaffen, damit wir über sie nachdenken sollten
(denken heißt augenkrank sein),
sondern damit wir sie anschaun und mit ihr einig sind.
Ich habe keine Philosophie, ich habe Sinne....
Rede ich von der Natur, so nicht, weil ich weiß, was sie ist,
sondern weil ich sie liebe, und deshalb liebe ich sie;
denn niemals weiß der Liebende, was er liebt,
noch auch, warum er liebt oder was Lieben ist...
Lieben ist ewige Unschuld
und die einzige Unschuld ist nicht zu denken...

Internet-Tipp: https://www.gabi-buchner.de/pessoa/content.htm


 Enigma antwortete am 22.12.04 (09:59):

Gülbahar Kültür
Leben

Was heißt das, Leben?
Eine Gefangenschaft
oder ein bestimmter Zeitvertreib?

Das Leben ist kein Gedicht,
das man bei Nichtgefallen zerreißen kann
und ist kein Glas,
das man versehentlich kaputt macht.
Es ist kein Traum,
den man vergessen kann.

Ist das Leben ein Füller,
der eines Tages
vom Schreiben leer ist,
eine Kerze, die ausgeht
oder ein Weg von drei Sprüngen?

Kann das Leben eine Cassette sein,
die wir nicht mehr hören mögen,
vielleicht
eine Blume, die eines Tages verwelkt.

Vielleicht auch
Regentropfen,
die herunterrieseln,
eine Uhr, die stehenbleibt,
wenn man sie nicht aufzieht.

Es könnte auch
ein Buch bestehend aus Lügen sein,
das wir satt habenzu lesen.

Internet-Tipp: https://www.gkultur.de


 Enigma antwortete am 24.12.04 (09:48):

Stephen Crane
In The Desert

In the desert
I saw a creature, naked, bestial,
who, squatting upon the ground,
held his heart in his hands,
and ate of it.

I said:"Is it good, friend?"
"It is bitter-bitter", he answered,
"But I like it
because it is bitter,
and because it is my heart."

Kennt jemand "Maggie das Strassenkind? Das wollten wir mal in der Schule im Englischunterricht lesen, aber irgendwie kam es nicht mehr dazu.
Lohnt es sich, die Übersetzung zu kaufen??


 pilli antwortete am 25.12.04 (08:34):

nein Enigma,

aber ich werde morgen, Johanna, eine freundin von mir, die den Englisch-Kreis im altentreff betreut, fragen, ob sie dir weiterhelfen kann. :-)

...

Philosophie der ringenden
Menschlichkeit


Gehe gelassen in der Hetze,
denn selten erwartet dich mehr als Lärm.
Meide laute und aufdringliche Menschen,
denn sie sind eine Qual in dein Innerstes�

Denke daran,
welcher Frieden im Schweigen wohnt.

Höre anderen zu,
sogar dem Törichten und Unwissenden,
wenn er in Not ist;
denn an ihm offenbart sich
die Tragik und das Geheimnis
auch deines Lebens.
Versuche soweit wie möglich
die Menschen zu verstehen
und mit denen, die es verdienen,
ohne Preisgabe deines Ich
gut zu sein.

Obwohl niemand in der Wahrheit ruht
und in ihrem Namen verurteilen darf,
triffst du sie doch als Wahrhaftigkeit
in der aufrichtigen Begegnung
mit dir und dem anderen.
Deshalb stehe zu ihr
entschlossen und tapfer,
vor allem, wenn sie auf dem Spiele steht.

Wenn du dich mit anderen vergleichst,
betrüge nicht -
denn es wird immer Bedeutendere,
aber auch Geringere geben als dich.
Freue dich,
wenn von dir errungenes Maß
in dein Leben wirkt.

Erfülle dich in deiner Aufgabe,
da sie im Leben außer Freundschaft
der einzige Besitz ist.

Bleib dir treu; heuchle niemals Zuneigung.
Sprich nie gering über die Liebe,
denn sie zählt zu dem Wenigen,
was dem Leben
unvergessliche Erinnerung schenkt�

Lass jede Lebensanschauung,
jede einzelne Meinung gelten,
sofern sie der andere lebt,
und niemand durch sie Schaden nimmt.

Alle Ängste entstehen im Selbstzweifel,
in der Erschöpfung
und in der Einsamkeit;
darum gönne deinem Geist und Körper
auch Ruhe und Entspannung.
Erhole dich auf einsamen Spaziergängen
und kehre zurück in deiner Seele�

Du bist ein Geschöpf des Universums,
nicht weniger und nicht mehr
als die Bäume und die Sterne am Himmel;
versuche dich als Geschenk - zu leben.
und sei vornehm im Umgang mit dir selbst�

Mache gerade durch das Wissen
um die Einsamkeit eines jeden
ein Wesen der Mitmenschlichkeit aus dir.
Dies ist die einzige Hoffnung,
wenigstens für einen Augenblick
in einem anderen
dem Alleinsein zu entrinnen.

Jeder wird nur durch deine gelebte Größe
an seine erinnert -
voller Anerkennung oder Beschämung�

Hans-Christoph Neuert

Internet-Tipp: https://www.traumspuren.de


 Enigma antwortete am 27.12.04 (08:29):

Ursula Krechel
Umsturz

Von heut an stell ich meine alten Schuhe
nicht mehr ordentlich neben die Fußnoten
häng den Kopf beim Denken
nicht mehr an den Haken
freß keine Kreide. Hier die Fußstapfen
im Schnee von gestern, vergeßt sie
ich hust nicht mehr mit Schalldämpfer
hab keinen Bock
meine Tinte mit Magermilch zu verwässern
ich hock nicht mehr im Nest, versteck
die Flatterflügel, damit ihr glauben könnt
ihr habt sie mir gestutzt. Den leeren Käfig
stellt mal ins historische Museum
Abteilung Mensch weiblich.

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/krechel.htm


 Enigma antwortete am 29.12.04 (08:36):

Henning Venske: Guter Rat

Halte Dich raus, sei zufrieden mit dem,
was man Dir gibt - sei bescheiden zudem.
Habe Ehrfurcht vor`m Geld, erkenn`Deine Grenzen,
versuche niemals, nah der Sonne zu glänzen.

Dann bist Du normal, hast nie Schwierigkeiten,
alles andere ist egal, das lernst Du beizeiten.

Leiste Dir kein Gefühl, gehorche der Macht,
eine eigene Meinung hat noch nie was gebracht.
Widersprich keinesfall, auch wenn Du`s besser weißt,
geh mit der Mode, bis Du schließlich vergreist.

Dann bist Du normal, hast nie Schwierigkeiten,
alles andere ist egal, das lernst Du beizeiten.

Hab`keine Flausen im Kopf, alles Neue ist schlecht,
guck`schläfrig ins Fernseh`n, das hat immer recht.
Lern`mit Geduld, was man Dich freiwillig lehrt,
nur unauffällig bleibst Du unversehrt.

Dann bist Du normal, hast nie Schwierigkeiten,
alles andere ist egal, das lernst Du bezeiten.

Tu, was andere tun, tu, was man Dir sagt,
antworte nur, wenn man Dich etwas fragt.
Sage nicht, was Du denkst. Denken gilt als beschränkt!
Sage immer nur das, was die Bild-Zeitung denkt!

Dann bist Du normal, hast nie Schwierigkeiten,
alles andere ist normal, das lernst Du beizeiten!

Internet-Tipp: https://www.venske.de/henning1.html


 iustitia antwortete am 29.12.04 (13:01):

Danke für den Venske, den ich bewundere. Gedichte von ihm kannte ich bisher nicht.
Viele satirische Texte gibt es von ihm, s. URL:

Internet-Tipp: https://www.aliaflanko.de/bogi/venske/indexs.html


 Enigma antwortete am 29.12.04 (17:19):

..ja, ich mag den Venske auch sehr gerne. Danke für den Link, den ich meinen "Favoriten" zugefügt habe. Da kann ich mich mit den Texten so nach und nach "durcharbeiten".

Lothar Zenetti
Begegnungen

"Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt?"
Matthäus 16.26

Ich traf einen jungen Mann,
kerngesund, modisch gekleidet, Sportwagen,
und fragte beiläufig, wie er sich fühle:
Was `ne Frage, sagte er, beschissen!

Ich fragte, ein wenig verlegen,
eine schwerbehinderte ältere Frau
in ihrem Rollstuhl, wie es ihr gehe:
Gut, sagte sie, es geht mir gut.

Da sieht man wieder, dachte ich
bei mir, immer hat man
mit den falschen Leuten Mitleid.


 marie2 antwortete am 03.01.05 (22:18):

Erster Januar

Nur ein Kalender spricht morgens vom neuen Jahre,
die Wände wissen, daß nichts Neues beginnt.
Draussen die Wolken flattern wie immer so leicht wie Haare,
und an die Fenster greift mit denselben Händen der Wind.

März und April wird kommen, und später
füllt dich ein Tag mit ewigen Stunden aus,
fällt mit Himmel und mit geblähter
Wolke in deine Hände und in dein Haus.

Manchmal erblickst du dich nachts in einem Spiegel,
das Gesicht undeutlich von Altern erfüllt,
wie ein verblichener Brief mit nie geöffnetem Siegel,
der immer die gleiche Schrift verhüllt.

Alle Tage sind neu und sind Jubiläen,
aber der Schmerz ist fern,
und du hast von den ewigen Trophäen
nur noch den Abendstern.

Günter Eich


 Enigma antwortete am 05.01.05 (17:08):

Leontine von Winterfeld-Platen
Die Zeder

Ich wachse langsam, meine Zeit
ist eine lange Geduldigkeit.
Ich wachs an allem, was mir ward,
kein Sturm zu zäh, kein Frost zu hart.

Ich wachs am Dunkel,
daraus ich stieg,
ich wachs am Licht,
darin ich mich wieg.
Ich wachs am Wurm,
der an mir nagt,
ich wachs am Sturm,
der durch mich jagt.

Verwandelnd zwing ich jede Kraft
hinaufzudehnen meinen Schaft.
Ich dulde Blitz und Glut und Guss
und weiß nur, daß ich wachsen muß.

Und kommt die Stunde
die mich fällt
und scheid ich einst
aus dieser Welt,
schmück Tempel ich
und Paradies
des Gottes,
der mich wachsen ließ.


 Enigma antwortete am 05.01.05 (17:47):

Ina Seidel
Der Ahorn

Ich werde den Ahorn wiederfinden.
Einmal am Ende der Tage
wird es sein, daß ich zu ihm sage:
"Ahorn, wo warst du so lang?"
Er ist alt und selig geworden,
er nimmt mich in seine Äste,
er wiegt mich im herbstlichen Neste:
"Kind, wo warst du so lang?"


 Enigma antwortete am 07.01.05 (17:43):

Gottfried Keller
Nachtfalter

Ermattet von des Tages Not und Pein,
die nur auf Wiedersehen von mir schied,
saß ich und schrieb bei einer Kerze Schein,
und schrieb ein wild und gottverleugnend Lied.
Doch draußen lag die klare Sommernacht,
mild grüßt mein armes Licht der Mondenstrahl,
und aller Sterne volle, goldne Pracht
schaut hoch herab auf mich vom blauen Saal.
Am offnen Fenster blühen dunkle Nelken,
vielleicht die letzte Nacht vor ihrem Welken.
Und wie ich schreib`an meinem Höllenpsalter,
die süße Nacht im Zorne von mir weisend,
da schwebt herein zu mir ein grauer Falter,
mit blinder Hast der Kerze Docht umkreisend;
Wohl wie sein Schicksal flackerte das Licht,
dann züngelt`seine Flamme still empor
und zog wie mit magnetischem Gewicht
den leichten Vogel in sein Todesthor.
Ich schaute lang und in beklommner Ruh,
mit wunderlich neugierigen Gedanken
des Falters unheilvollem Treiben zu.
Doch als zu nah der Flamme schon fast sanken
die Flügel, faßt`ich ihn mit schneller Hand,
zu seiner Rettung innerlich gezwungen,
und trug ihn weg. Hinaus ins dunkle Land
hat er auf raschem Fittig sich geschwungen.
Ich aber hemmte meines Liedes Lauf
und hob den Anfang bis auf Weitres auf.


 hl antwortete am 08.01.05 (09:37):

Gedicht aus einem einzigen Stein
(Poemul dintr-o singurá piatrá)

Ja, er kommt nicht mehr, er verspätet sich.
So wie denn alles aufgeschoben wird,
versäumt auch er es, zu erscheinen.
Er will nicht vergehen; weiß, was es heißt, bis ans Ende
zu gehen.
Lieber tritt er durch die Tür einer Schenke ein,
trinkt schweigend, ißt, schläft ein, die Stirn auf dem Tisch.
Über die Maßen traurig hat er sich angewöhnt zu fragen: "Wo ist
das Haus
der sanftesten Frau?" So fragt er auch jetzt
und schläft im Sprechen ein
zwischen der ausgetrunkenen Flasche Wein
und dem Korb Brotes. Du erwartest ihn nicht mehr.

Für ihn hättest du gewollt es zu erschaffen,
ein Gedicht aus einem einzigen Stein,
dichtem und jungem Stein.
Du tust es nicht - legst es auf ein Regal, heiligen Staubfällen
überlassen und gehst aus dem Zimmer. Draußen
empfangen dich heranstürmende Wolken, Wolken wie Vogelschwärme
scheuchen dich in eine Schenke.
Du trinkst dort ebenfalls, ißt auch,
kaufst von geborgtem Geld zottige Chrysanthemen,
große zottige Chrysanthemen,
während du einschläfst, und die Fensterläden
rasselnd fallen zwischen dich
und die alten Wolken da draußen.

Mircea Ciobanu


 BodoBox antwortete am 08.01.05 (17:14):

Hallo, Ihr Lieben !
Hörte heute im Fernsehen eine Zeile aus einem Brentano-Gedicht. Es handelte von der Einsamkeit: Aus Ihr könne man wie aus einem Bronnen schöpfen ... (Jawohl, Bronnen mit "o" !)

Habe schon lange im Internet gesucht, aben nichts dazu gefunden. Bin aber dadurch auf diese Seiten gestoßen, wofür ich wiederum sehr dankbar bin !

Ich wäre froh, wenn man mir das gesamte Gedicht übermitteln würde !
Herzliche Grüße von Bodo H. Schröter


 Karl antwortete am 08.01.05 (17:24):

Hallo bodoBox,

wie wär es hiermit.

Clemens Maria Wenzeslaus von Brentano (1778-1842)

Einsamkeit, du stummer Bronnen,
Heil'ge Mutter tiefer Quellen,
Zauberspiegel innrer Sonnen,
Die in Tönen überschwellen:
Seit ich durft' in deine Wonnen
Das betörte Leben stellen.
Seit du ganz mich überronnen
Mit den dunklen Wunderwellen.
Hab' zu funkeln ich begonnen.
Und nun klingen all die hellen
Sternensphären meiner Seele,
Deren Takt ein Gott mir zähle.
Alle Sonnen meines Herzens,
Die Planeten meiner Lust,
Die Kometen meines Schmerzens
Tönen laut in meiner Brust.
In dem Monde meiner Wehmut,
Alles Glanzes unbewußt,
Muß ich singen und in Demut
Vor den Schätzen meines Innern,
Vor der Armut meines Lebens,
Vor den Gipfeln meines Strebens,
Ew'ger Gott! mich dein errinnern.
Alles andre ist vergebens.


 BodoBox antwortete am 08.01.05 (18:43):

Hallo Karl !
Vielen Dank ! Daß es so schnell gehen kann, hätte ich nicht gedacht ! Werde dieses Forum natürlich an meinen Bekanntenkreis "weiterreichen" ! Einfach toll !

Tschüß ! Bodo H. Schröter


 Enigma antwortete am 09.01.05 (10:04):

...immer ran, möglichst auch mit den schreibenden (nicht nur lesenden) Bekannten. :-)

Hexe
von Gertrud Kolmar

Die Monde gehen auf, die Monde gehen nieder;
Mein Tag ist immer noch der gleiche Tag.
Du liebes Angesicht. Dich kränzen bunte Lieder,
der Meise blaues Läuten, schwarzer Amselschlag.

So sammetschwarzer Amselschlag, du Helle,
so silberweißer Flötenjubel, dunkles Bild,
Waldmädchen du. Die Moose hüten deine Schwelle.
Zu deinem Brunnen bückt das Wild

die braunen Häupter mit den sprießenden Geweihen.
Und deine Nächte sind
ganz angefüllt mit seltnen pfauenfarbnen Schreien
und ginstergelbem Flüsterwind.

Smaragdeidechse. Kleine goldenbraune Schleiche,
um die noch Glanz des Laubes schwärt,
das sommermüd verfällt in Elsenspiegel, Teiche
und mit Schweigen abwärts fährt.

Mein einziger Besitz. Dich kann ich immer wandeln,
verzaubern dich. Ich kann dir Hexe sein.
So werd in meinem Park ein Strauch mit süßen Mandeln,
auf meinem Tische Glas mit bernsteinklarem Wein.

Durchsichtig reife Erde. Komm, ich will dich trinken,
dich Kraft. Und eine Mauer sehn,
die schwere bronzene Löwenklau der Pforte klinken
und wieder unterm Baum des Paradieses stehn.

Internet-Tipp: https://www.litlinks.it/k/kolmar.htm


 iustitia antwortete am 09.01.05 (10:45):

Ja, ein lyrisch-historisches Gedenken an Gertud Kolmar - nicht nur wegen der heutigen Erinnerung an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht:

Gertrud Kolmar (1894 � 1943, nach Deportation in einem KZ getötet):

A n n o D o m i n i 1933

Er hielt an einer Straßenecke.
Bald wuchs um ihn die Menschenhecke.

Sein Bart war schwarz, sein Haar war schlicht.
Ein großes östliches Gesicht,

Doch schwer und wie erschöpft von Leid.
Ein härenes verschollnes Kleid.

Er sprach und rührte mit der Hand
Sein Kind, das arm und frostig stand:

�Ihr macht es krank, ihr schafft es blaß;
Wie Aussatz schmückt es euer Haß,

Ihr lehrt es stammeln euren Fluch,
Ihr schnürt sein Haupt ins Fahnentuch,

Zerfreßt sein Herz mit eurer Pest,
Daß es den kleinen Himmel läßt -�

Da griff ins Wort die nackte Faust:
�Schluck selbst den Unflat, den du braust!

Du putzt dich auf als Jesus Christ
Und bist ein Jud und Kommunist.

Du krumme Nase, Levi, Saul,
Hier, nimm den Blutzins und halt's Maul! �

Ihn warf der Stoß, ihn brach der Hieb.
Die Leute zogen mit. Er blieb.

Gen Abend trat im Krankenhaus
Der Arzt ans Bett. Es war schon aus. -

Ein Galgenkreuz, ein Dornenkranz
Im fernen Staub des Morgenlands.

Ein Stiefeltritt, ein Knüppelstreich
Im dritten, christlich-deutschen Reich.
*
(Aus Gertrud Kolmar: Gedichte. München 1980. Dtv 10779. S. 748f.; vom 16. Okt. 1933; Erstdruck 1972)
*
In der letzten, abschließenden Zeile ist, vordergründig, von einem der gegebenen faschistischen Anlässe her die Gleichschaltung der evangelischen Kirche durch die Berufung Ludwig von Müllers zum Reichsbischof Ende Sept. 1933 zu erkennen; generell aber geht Kolmars berechtigter, faktisch bewiesener Vorwurf weiter - gegen das grundsätzlich christliche Einverständnis mit den antijüdischen Maßnahmen - den Absichtserklärungen und Verfolgungsmaßnahmen der Nazis.- Was später, im Nachkriegsdeutschland als prophetische Dimension im Werk Gertrud Kolmars angesehen wurde, war hier, 1933, aktuelle Chronik, Wissen um Unrecht und Verbrechen und seine religiösen Bedingungen im Deutschen Reich.)


 Enigma antwortete am 10.01.05 (10:18):

Ferdinand von Saar
Alter

Das aber ist des Alters Schöne,
daß es die Saiten reiner stimmt,
daß es der Lust die grellen Töne,
dem Schmerz den herbsten Stachel nimmt.

Ermessen läßt sich und verstehen
die eigne mit der fremden Schuld,
und wie auch rings die Dinge gehen,
du lernst dich fassen in Geduld.

Die Ruhe kommt erfüllten Strebens,
es schwindet des Verfehlten Pein -
und also wird der Rest des Lebens
ein sanftes Rückerinnern sein.

Das klingt aber schon sehr abgeklärt. Aber der Lebenslauf des Dichters weniger...?!

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/autoren/saar.htm


 hl antwortete am 13.01.05 (20:47):

Gertrud Kolmar, eine wortgewaltige Frau :-)

Sehnsucht

Ich denke dein,
Immer denke ich dein.
Menschen sprachen zu mir, doch ich achtet es nicht.
Ich sah in des Abendhimmels tiefes Chinesenblau,
daran der Mond als runde gelbe Laterne hin,
Und sann einem anderen Monde, dem deinen, nach,
Der dir glänzender Schild eines ionischen Helden
vielleicht oder sanfter goldener Diskus eines
erhabenen Werfers wurde.
Im Winkel der Stube saß ich dann ohne Lampenlicht,
tagmüde, verhüllt, ganz dem Dunkel gegeben,
Die Hände lagen im Schoß, Augen fielen mir zu.
doch auf die innere Wand der Lider war klein und
unscharf dein Bild gemalt.
Unter Gestirnen schritt ich an stilleren Gärten, den
Schattenrissen der Kiefern, flacher, verstummter
Häuser, steiler Giebel vorbei
Unter weichem düsteren Mantel, den nur zuweilen
Radknirschen griff, Eulenschrei zerrte,
Und redete schweigend von dir, Geliebter, dem
lautlosen, dem weißen, mandeläugigen Hunde,
den ich geleitete.

Verschlungene, in ewigen Meeren ertrunkene Nächte!
Da meine Hand in den Flaum deiner Brust sich bettete
zum Schlummer,
Da unsere Atemzüge sich mischten zu köstlichem
Wein, den wir in Rosenquarzschale darboten
unserer Herrin, der Liebe,
Da in Gebirgen der Finsternis die Druse uns wuchs
und reifte, Hohlfrucht aus Bergkristallen und
fliedernen Amethysten,
Da die Zärtlichkeit unserer Arme Feuertulpen und
porzellanblaue Hyazinthen aus welligen, weiten,
ins Morgengrauen reichenden Schollen rief,
Da, auf gewundenenm Stengel spielend, die halb-
erschlossene Knospe des Mohns wie Natter
blutrot über uns züngelte,
Des Ostens Balsam- und Zimmetbäume mit
zitterndem Laube um unser Lager sich hoben
Und purpurne Weberfinken unserer Munde Hauch in
schwebende Nester verflochten. -
Wann wieder werden wir in des Geheimnisses Wälder
fliehn, die, undurchdringlich, Hinde und Hirsch
vor dem Verfolger schützen?
Wann wieder wird mein Leib deinen hungrig
bittenden Händen weißes duftendes Brot, wird
meines Mundes gespaltene Frucht deinen
dürstenden Lippen süß sein?
Wann wieder werden wir uns begegnen?
Innige Worte gleich Samen von Würzkraut und
Sommerblumen verstreun
Und beglückter verstummen, um nur die singenden
Quellen unseres Blutes zu hören?
(Fühlst du, Geliebter, mein kleines horchendes Ohr, ruhend an deinem Herzen?)
Wann wieder werden im Nachen wir gleiten unter
zitronfarbnem Segel,
Von silbrig beschäumter, tanzender Woge selig
gewiegt,
Vorüber an Palmen, die grüner turban schmückt wie
den Sproß des Propheten, -
Den Saumriffen ferner Inseln entgegen,
Korallenbänken, an denen du scheitern willst?
Wann wieder, Geliebter ... wann wieder ...?...

Nun sintert mein Weg
Durch Ödnis. Dorn ritzt den Fuß.
Bäche, frische, erquickende Wasser, murmeln; aber ich
finde sie nicht.
Datteln schwellen, die ich nicht koste.
Meine verschmachtende Seele
Flüstert ein Wort nur, dies einzige:
"Komm ..."
O komm...

Gertrud Kolmar


 Enigma antwortete am 14.01.05 (07:55):

Gabriele Wohmann
Manchmal glaube ich nicht an den Fortschritt

Manchmal glaube ich nicht
an den Fortschritt.
Mein Lieblingsbild ist gemalt.
Die schönsten Gedichte
habe ich um mich versammelt.
Mehr Musik brauche ich nicht.
Das beste Gewitter
ist schon erfunden.
Der schönste Schnee fällt in meinem Kopf.
Ich habe die wichtigsten Gipfel gesehen
und das tiefste Tal ist besichtigt.
Das Meer ist immer als eine Vorstellung
am bemerkenswertesten.
Wären denn abrufbare Fahrtgeschwindigkeiten
noch zu übertreffen
die Niederschläge und Psalmen
und einfach Gegenden, einfach Sätze
einfaches Auskommen?
Manchmal meine ich
ich hätte von allem genug.
Da hat mich, mitten in seiner verriegelten Strenge
das bis jetzt unauffällige Kind
vorsichtig angelacht
und ich bekam Lust
zu einer Kutschfahrt durch den Englischen Garten.

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/wohmann.htm


 hl antwortete am 16.01.05 (15:24):

Erich Fried

Große Bereinigung

Die Ursachen
kämpfen jetzt
gegen ihre Folgen

daß sie keiner mehr
für die Folgen
verantwortlich machen darf

denn auch
das Verantwortlichmachen
gehört zu den Folgen

und Folgen werden verboten
und verfolgt
von den Ursachen selbst

Die wollen
von solchen Folgen
nichts mehr wissen

Wer sieht
wie eifrig sie
hinter den Folgen her sind

und immer noch sagt
sie stehen
in enger Verbindung mit ihnen

der wird nur sich selbst
die Folgen
zuschreiben müssen


 Enigma antwortete am 17.01.05 (08:51):

Sankichi Toge
Grabmal

So sehr habt ihr gerufen, so sehr habt ihr geschrien. Nicht Vater,
nicht Mutter sind gekommen. und auch der fremde Mann, an
den ihr euch geklammert, riß eure kleinen Hände von sich ab
und lief davon.

Mit Steinen zugeschüttet euer Schrei. Heiß, glühendheiß
umweht von einem Wind, und finster, erdenfinster, und keine
Luft zum Atmen.
Aus euren weichen Händen, dünnen Hälsen lief das Blut. Ihr, unter Steinen,
Eisen, Staub und Schutt und Balken,
wie leicht müßt ihr erschlagen worden sein.


Da, hinter dem Hijiyama-Hügel hockten, in sich gekauert,
angstvoll eure Freunde in Gruppen, mit blind gebrannten Augen.
Ihr rieft zum Knirschen der Soldatenstiefel, zum Hastgeklapper
ihrer Maskenbüchsen: Helft uns Soldaten! Aber keiner half.

Und in den Schatten großer Wasserkübel habt ihr gebeten: Bitte,
nehmt uns mit! Die kleinen Hände zeigten noch nach Westen.
Doch keiner hat euch bei der Hand genommen. So ahmtet ihr die
Großen nach und tauchtet euch allein in Wasserkübel. Ihr habt
euch Feigenblätter aufs Gesicht gelegt und seid - ihr Kinder von
Hiroshima - ohne zu begreifen -, dann gestorben.

Aus: Die Kinder von Hiroshima -
Japanische Kinder über den 6. August 1945


 yankee antwortete am 26.01.05 (11:27):

Damit es endlich auch hier mal weitergeht, oder seit ihr der Dichtkunst überdrüssig geworden ?

Der Schmetterling ist in die Rose verliebt

Der Schmetterling ist in die Rose verliebt,
Umflattert sie tausendmal,
Ihn selber aber, goldig zart,
Umflattert der liebende Sonnenstrahl.

Jedoch, in wen ist die Rose verliebt?
Das wüßt ich gar zu gern.
Ist es die singende Nachtigall?
Ist es der schweigende Abendstern?

Ich weiß nicht, in wen die Rose verliebt;
Ich aber lieb euch all:
Rose, Schmetterling, Sonnenstrahl,
Abendstern und Nachtigall.

Heinrich Heine


 yankee antwortete am 26.01.05 (11:40):

Oder wie wär�s hiermit :-)

Ein schlechter Schüler

Als ich noch zur Schule gehte,
zählte ich bald zu den Schlauen,
doch ein Zeitwort recht zu biegen,
bringte immer Furcht und Grauen.

Wenn der Lehrer mich ansehte,
sprechte ich gleich falsche Sachen,
für die andern Kinder alle
gebte das meist was zum Lachen.

Ob die Sonne fröhlich scheinte
oder ob der Regen rinnte:
wenn der Unterricht beginnte,
sitzt' ich immer in der Tinte.

Ob ich schreibte oder leste,
Unsinn machtete ich immer,
und statt eifrig mich zu bessern,
werdete es nur noch schlimmer.

Als nun ganz und gar nichts helfte,
prophezieh mir unser Lehrer:
wenn die Schule ich verlaßte,
wörde ich ein Straßenkehrer.

Da ich das nicht werden willte,
kommte ich bald auf den Trichter,
stak die Nase in die Bücher,
und so werdete ich Dichter.

Bruno Horst Bull


 iustitia antwortete am 26.01.05 (13:52):

Wegen des Schulgedichts von yankee; danke! Das nächste, von der Droste, stammt noch aus einer Zeit, als Schüler nicht die falschen (schwachen) Tempusformen in der Umgangssprache vorgesagt kriegten. (Damals galt das Niederdeutsche im Umgang miteinander, im Westfälischen. Hochdeutsch lernte man in der Schule.)
Aber an dem Text von Bull kann man ja die alten Imperfekt-Formen üben.

*
Annette von Droste-Hülshoff:
Die Schulen

Kennst du den Saal? - ich schleiche sacht vorbei
�Der alte Teufel tot, die Götter neu� -
Und was man Großes sonst, darin mag hören.
Wie üppig wogend drängt der Jugend Schwarm!
Wie reich und glänzend! - aber ich bin arm,
Da will ich lieber eure Lust nicht stören.

Dann das Gewölb' - mir wird darin nicht wohl,
Wo man der Gruft den modernden Obol
Entschaufelt und sich drüber legt zum Streite;
Ergaute Häupter nicken rings herum,
Wie weis' und gründlich! - aber ich bin dumm,
Da schleich' ich lieber ungesehn bei Seite.

Doch die Katheder im Gebirge nah
Der Meister unsichtbar, doch laut Hurrah
Ihm Wälder, Strom und Sturmesflügel rauschen,
Matrikel ist des Herzens frischer Schlag,
Da will zeitlebens ich, bei Nacht und Tag,
Demüt'ger Schüler, seinen Worten lauschen.
*
URL - auch diese Briefmarke hat schon das Zeitliche gesegnet.

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/4B6w8gF5T


 Enigma antwortete am 28.01.05 (08:43):

Czeslaw Milosz
Campo de`Fiori
Warschau, Ostern 1943

In Rom, auf dem Campo de` Fiori Oliven, Zitronen in Körben,
das Pflaster gesprenkelt mit Wein und abgebrochenen Blumen.
Hellrose Früchte des Meeres, von Händlern auf den Tisch geschüttet.
Und eine Fülle dunkler Trauben fällt aus Armen auf Pfirsichflaum.

Hier, auf genau diesem Platze, wurde Giordano Bruno verbrannt.
Der Scheiterhaufen, vom Henker entzündet, war umringt von Schaulustigen.
Doch kaum war die Flamme erloschen, waren erneut die Tavernen gefüllt,
trugen die Händler auf ihren Köpfen Oliven, Zitronen in Körben.

Ich sah den Campo de`Fiori vor mir, in Warschau, beim Karussell.
An einem heiteren Frühlingsabend, beim Klang von beschwingter Musik.
Die lustige Melodie übertönte die Salven hinter der Ghettomauer.
Und Paare flogen hoch in die Luft, hinein in den heiteren Himmel.

Der Wind trug von brennenden Häusern mitunter schwarze Drachen herüber,
vom Karussell aus haschten die Menschen nach den Fetzen in der Luft.
Die Röcke der Frauen bauschten sich im Wind von brennenden Häusern.
Und die fröhliche Menge jubelte an dem schönen Warschauer Sonntag.

Vielleicht wird einer hieraus ersehen, daß Menschen in Warschau und in Rom, an brennenden Märtyrern vorübergehend, sich amüsieren und handeln und lieben.
Ein anderer zieht daraus die Lehre, daß Menschliches vergänglich ist,
und daß Vergessen größer wird, bevor noch die Flamme erloschen ist.

Ich jedoch dachte damals schon an das Alleinsein der Sterbenden.
Daran, daß es in dem Moment, als Giordano das Gerüst erklomm, in der menschlichen Sprache kein einziges Wort gab, um der Menschheit Lebwohl zu sagen -
der Menschheit, die übrig bleibt.

Schon liefen sie fort, im Wein zu zechen, um weiße Seesterne zu verkaufen.
Mit fröhlichem Lärmen trugen sie Oliven, Zitronen in Körben.
Und er war bereits in weiter Ferne.
Als wären Jahrhunderte vergangen,
und als hätten sie nur einen Moment auf seinen Abflug im Feuer gewartet.

Diesen Sterbenden, Einsamen, von der Welt schon Vergessenen
ist unsere Sprache fremd geworden.
Wie die Sprache eines vergangenen Planeten.
So lang, bis all dies Legende sein wird.
Und dann, nach vielen Jahren, auf dem neuen Campo de`Fiori
ein Wort des Dichters Protest entfacht.

Aus dem Polnischen von Doreen Daume,
Entnommen dem Band "Das und andere Gedichte" Hanser 2004

Internet-Tipp: https://www.lyrikwelt.de/autoren/milosz.htm


 yankee antwortete am 28.01.05 (11:43):

An alle Kölner Mädchen und Frauen !


Georg Bötticher
Geboren am 20.5.1849 in Jena; gestorben am 15.1.1918 in Leipzig.
(War der Vater von Joachim Ringelnatz)

Säkscher Stosseifzer
Gennse Geln? � Ä wunderscheenes Städtchen!
(Geln am Rheine meen ich, mit'n �Ga�)
Un das scheenste drinne sein de Mädchen,
(Un de Fraun nadierlich) � herrnse ja!
Unter uns gesagt, das sein Sie Wäsen,
Andersch wie bei uns, von Fleesch und Been!
(Weiter sag' ich nischt. D'r heeme läsen
Se das Buch nadierlich � Sie verstehn!!)

Awer eens gann ich nich unterdricken:
's Härze schlägt m'r noch ämal so schnell,
Läßt sich änne Gelnerin nur blicken!
(Heeßt das: �Gelnerin� mit eenen �l�.)


 yankee antwortete am 28.01.05 (14:32):

Passend zum letzten hier noch einen Beitrag von seinem Sohn
Joachim Ringelnatz

An meinen Zigarettenrauch
Gleite ins Weite und in die Höh!
Adieu, du zartes Bleu
Meines Zigarettenrauches,
Der du so sanft entfliehst.

Wenn du ein zierliches Nasenloch siehst,
Küß dem die Haare als Gruß meines Hauches.

Ob dich ein Höhendruck
Zur Erde zurückschlägt,
Eine Strömung, eines Windes Ruck
Dich zu Himmelsglück trägt, �
Finde das, was du erwartetest.

In dem hold gewürzten Augenblick,
Da du aus mir startetest,
Spielte Ziehharmonikamusik
Ein Lieblingslied von mir: La paloma,
Und auf Schwingen dieser Volksweise
Steigst du auf. Glückliche Reise!
Aus Nikotin ins ewige Aroma.


 Enigma antwortete am 29.01.05 (14:20):

Fred Endrikat
Erotisches Wechselspiel

Sie lagen hinterm Gartenzaun
und waren lieblich anzuschaun.
Fürwahr, ein Pärchen wundervoll,
die Gurke Knill und Kürbis Knoll.
Er schielte schon seit langer Zeit
verliebt hin zu der Gurkenmaid
und brachte ihr ein Ständchen still:
"Dein ist mein Herz, geliebte Knill."
Sie aber sagt mit stolzem Blick:
"Nee, nee, Sie sind mir viel zu dick.
Verehrter Herr, Sie sind wohl toll.
Das Fett muß weg, mein lieber Knoll!"
Er grämte sich und härmte sich
und schwärmte innig-minniglich.
Er schwoll und schwoll noch Zoll um Zoll.
Schwermütig weinte Kürbis Knoll.
Doch nach und nach und mit der Zeit
war aus der schlanken Gurkenmaid
ein ganz verschrobenes Idyll,
und Runzeln kriegte Fräulein Knill.
So kam denn auch im Lauf der Zeit
der Ausgleich der Gerechtigkeit.
Sie wölbte sich und wurde krumm,
und Wärzlein wuchsen ringsherum.
Die Warzen wuchsen schnell heran
und an den Warzen Borsten dran.
Auch Falten kamen ebenso
vorn an der Nase und am Po.
In einer lauen Sommernacht
ihr Hochmut ward zu Fall gebracht.
Sie seufzt: Wenn du noch willst - ich will."
Da grinste Knoll, es schmollte Knill.
Der dicke Kürbis neckte sie:
"Schön siehste aus, du Borstenvieh.
Das kommt davon, siehst du, mein Gold:
Warum hast du nicht längst gewollt?"
Sie schlug verschämt die Augen zu
und lispelte:"Ach, du Loser, du."
Bald färbt der Herbst die Blätter braun,
und es wird still am Gartenzaun.
Der Gärtner pflückt die Körbe voll,
er pflückte Knill, und auch den Knoll.
Nun schwelgen beide, Kopf an Kopf,
vereint im großen Einmachtopf,
in Zucker, Essig, Öl und Dill,
sowohl der Knoll als auch die Knill.
So geht es auch im Leben oft:
Was man erwünscht und was man hofft,
das kommt so - wie es kommen soll,
genau wie hier bei Knill und Knoll
Die Schönheit schwindet mit der Zeit.
Die Liebe währt in Ewigkeit
bei Gurken und bei Damen.
Amen

Internet-Tipp: https://www.wanne-eickel.info/Gute_und_Bose/Endrikat/body_endrikat.html


 pilli antwortete am 30.01.05 (09:04):

mit *beitragsleeren* händen steh ich heute morgen vor euch und mir bleibt nur euch zu herzlich zu grüssen :-)

ich lese zur zeit oft nachts und danke für nachdenkliche oder ein schmunzeln hervor zaubernde beiträge. heute nacht z.bsp. wußte ich nicht, ob ich mich nun mehr vater oder sohn Ringelnatz verbunden fühle.

"Awer eens gann ich nich unterdricken:
's Härze schlägt m'r noch ämal so schnell,
Läßt sich änne Gelnerin nur blicken!"

da bleibt mir nur euch mit dem leicht textlich veränderten und übersetzten refrain aus dem liedtext einer kölner gesangsgruppe zu antworten:

"schön, dass ihr da seid, dass ihr gerade jetzt da seid.
ich setz mich einfach mal zu euch hin"

und schaue meinem zigarettenrauch nach, auf den ich gestern mehr als acht stunden verzichtet habe :-)


 marie2 antwortete am 30.01.05 (10:40):

Februar

Schneeflöckchen flattern in der Luft,
Schneeglöckchen dir am Busen,
Mein Herz durchquillt ein Weiheduft,
Die Quintessenz der Musen;
Mit Sang, Geschrei und Schellenklang
Zieht Mummenschanz die Stadt entlang,
Heut lärmt das rohe Volk wie toll
Und wirft sich morgen reuevoll
Im Beichtstuhl auf die Kniee!

Uns strahlt ein höh'res Geisteslicht,
Wir brauchen nicht bereuen,
Wir wollen uns mit Asche nicht
Die freie Stirn bestreuen;
Uns stört die Reue nicht die Lust,
Wir sind uns keiner Schuld bewußt,
Wir hassen und wir lieben frei,
Wir kennen keine Heuchelei
Und kennen keine Sünde!

Die Maske fort, das Antlitz bloß,
Die Lippen frei zum Küssen!
All unsre Lust kann schleierlos
Die ganze Menschheit wissen.
Solang dein Herz für mich noch warm,
Umschlingt dich fest mein starker Arm,
Du wirst mein ehlich Treugemahl,
Trotz Priesterfluch und Kirchbannstrahl,
Zum Hohn der großen Lüge!

Hermann Löns LyrikM
(1866-1914)


 eika antwortete am 31.01.05 (10:23):

Krähen

Wie weißer Pelz liegt Schnee auf der Scholle,
warm zugedeckt schlummern die Wiesen,
nur Krähen trippeln umher,
kopfnickend als wüßten sie alles.

Über mir der Wildgänse Flug.
Sie können entkommen der Enge des Winters.
Hoch über unserer Wirklichkeit ist alles grenzenlos.

Wie weißer Pelz liegt Schnee auf der Scholle,
warm zugedeckt schlummern die Wiesen.
Ich kann ihre Träume lesen aus den Zeichen der Krähen.

Gabriele Lins


 yankee antwortete am 31.01.05 (10:56):

Zum Tod des jetzt verstorbenen Ephraim Kishon weiche ich etwas ab zum Nachdenklichen.

Nikolaus Lenau (1802-1850)
geschrieben 1827

Vergänglichkeit

Vom Berge schaut hinaus ins tiefe Schweigen
Der mondbeseelten schönen Sommernacht
Die Burgruine; und in Tannenzweigen
Hinseufzt ein Lüftchen, das allein bewacht
Die trümmervolle Einsamkeit,
Den bangen Laut: �Vergänglichkeit!�
�Vergänglichkeit!� mahnt mich im stillen Tale
Die ernste Schar bekreuzter Hügel dort,
Wo dauernder der Schmerz in Totenmale
Als in verlaßne Herzen sich gebohrt;
Bei Sterbetages Wiederkehr
Befeuchtet sich kein Auge mehr.

Der wechselnden Gefühle Traumgestalten
Durchrauschen äffend unser Herz; es sucht
Vergebens seinen Himmel festzuhalten,
Und fortgerissen in die rasche Flucht
Wird auch der Jammer; und der Hauch
Der sanften Wehmut schwindet auch.

Horch ich hinab in meines Busens Tiefen,
�Vergänglichkeit!� klagts hier auch meinem Ohr,
Wo längst der Kindheit Freudenkläng entschliefen,
Der Liebe Zauberlied sich still verlor;
Wo bald in jenen Seufzer bang
Hinstirbt der letzte frohe Klang.


 yankee antwortete am 31.01.05 (16:54):

@pilli
Extra für dich und deine beitragsleeren Hände :-)

Mit leeren Händen kam ich,
mit leeren Händen muß ich geh'n,
was ich dazwischen erlebte,
war fast zu viel, war wunderschön.

Annegret Kronenberg


 pilli antwortete am 01.02.05 (02:46):

Die abgelaufene Zeit

Der Tod schleicht um das Haus.
Schon seit Tagen rappelt er ans Tor,
so daß die Hunde verwirrt aufjaulen.
Ab und an späht er durch den
offenen Fensterspalt und läßt
seinen kalten Atem durch den Raum wehen.
Will er der Hoffnungslosigkeit,
dem unsagbaren Leid zuschauen
oder noch Zeit schenken
zum Abschiednehmen?
Er kam nicht unvorbereitet,
wurde eigentlich schon erwartet,
doch sein Schleichen, seine Kälte,
sein Schweigen, die Angst vor
seinem Zugriff machen alles
so schrecklich, so unerträglich.
Es wird gebetet,
um Erlösung gebetet,
und dabei alle Kraft gebündelt,
um dem Tod das Leben noch einmal
zu entreißen,
trotz der Gewißheit,
daß er am Ende doch immer
als Sieger von dannen zieht.

Annegret Kronenberg


 Enigma antwortete am 01.02.05 (09:41):

...und jetzt wieder was aus dem "prallen Leben"...

Heinrich von Mühler
Grad aus dem Wirtshaus

Grad aus dem Wirtshaus komm`ich heraus;
Straße, wie wunderlich siehst du mir aus!
Rechter Hand, linker Hand, beides vertauscht;
Straße, ich merke wohl, du bist berauscht.
Was für ein schief Gesicht, Mond, machst denn du?
Ein Auge hat er auf, eins hat er zu;
du wirst betrunken sein, das seh`ich hell;
schäme dich, schäme dich, alter Gesell!
Und die Laternen erst - was muß ich sehn! -
die können alle nicht grade mehr stehn;
wackeln und fackeln die Kreuz und die Quer;
scheinen betrunken mir allesamt schwer.
Alles im Sturme rings, großes und klein;
wag`ich darunter mich nüchtern allein?
Ds scheint bedenklich mir, ein Wagestück;
da geh`ich lieber ins Wirtshaus zurück.

Internet-Tipp: https://www.bautz.de/bbkl/m/muehler_h.shtml


 yankee antwortete am 01.02.05 (10:04):

Guten Morgen Enigma

Aus dem vollen Leben habe ich auch noch was gefunden :-)

Alfred Henschke
(Klabund)

Hamburger Hurenlied

Wir Hamburger Mädchen haben's fein,
Wir brauchen nicht auf dem Striche sein.
Wir wohnen in schönen Häusern
Wohl bei der Nacht,
Ahoi!
Weil es uns Freude macht.

Es kommen Kavaliere, Neger und Matros,
Die werden bei uns ihre Pfundstücke los,
Sie liegen uns am Busen
Wohl bei der Nacht,
Ahoi!
Weil es uns Freude macht.

Madam kocht schlechtes Essen, Sami spielt Klavier,
Mit den Kavalieren tanzen wir,
Fließt ein Taler drüber,
Wird er Madam gebracht,
Ahoi!
Weil es uns Freude macht.

Eines Tages holt die Sitte uns hinaus,
Und sie sperrt uns in das graue Krankenhaus.
Dann sind wir tot und sterben
Wohl bei der Nacht,
Ahoi!
Weil es uns Freude macht.


 Enigma antwortete am 01.02.05 (10:44):

..und nochwas aus dem Leben...

Alfred Lichtenstein
Nächtliches Abenteuer

Ging da neulich über den Potsdamer Platz
um 1 Uhr nachts ein allerliebster Fratz.
Ich sprach die Kleine an mit frecher Stimme:
"3 Mark mein Schatz?"
Sagte, sie sei emport
und finde so etwas unerhört.
Und sagte, sie sei keine Dirne
und es sei ihr etwas wert, ihr Name,
und sie sei eine anständige Dame
und sie gäbe sich nicht für 3 Mark her
und sie nähme mehr.

Internet-Tipp: https://gutenberg.spiegel.de/autoren/lichtens.htm


 yankee antwortete am 01.02.05 (10:47):

Und wenn wir grad dabei sind (Wirtshaus-Strichmeile) darf ein ordentliches Trinklied auch nicht fehlen :-)

Friedrich Theodor Vischer

Trinklied.

Laßt mich trinken, laßt mich trinken,
Laßt von diesem Feuerwein
Immer neue Fluten sinken
Mir in' s durst'ge Herz hinein!

Jedes Ende sei vergessen!
Wie's im Innern drängt und schafft!
Sagt, wer will mir jetzo messen
Grenz' und Schranke meiner Kraft!

Stellt mir schwere, weite, blanke
Becher ohne Ende her,
Füllet sie mit diesem Tranke,
Und ich trink' euch alle leer!

Bringt mir Mädchen, schöne, wilde,
Noch so spröd und noch so stolz,
Schickt die schreckliche Brunhilde,
Alle trifft der Liebesbolz!

Stellet mir die schwersten Fragen!
Wo das ew'ge Räthsel ruht?
Feuerhell und aufgeschlagen
Schwimmt es hier im rothen Blut!

Gebt mir Staaten zu regieren!
Kinderspiel soll mir es sein!
Gebt mir Heere anzuführen,
Und die ganze Welt ist mein!

Burgen möcht' ich jauchzend stürmen,
Ihre Fahnen zittern schon,
Felsen, Felsen möcht' ich thürmen
Und erobern Gottes Thron!


 Enigma antwortete am 01.02.05 (12:34):

uii, der ist beim Trinken aber schwer in Fahrt gekommen...

Aber ich will jetzt mal von den Damen und von den Trinkliedern etwas weg, sonst habe ich am Ende meinen Ruf total ruiniert.....:-)))

Stattdessen das folgende:

Johann Christian Günther
Abschied von seiner ungetreuen Liebsten

Wie gedacht,
vor geliebt, jetzt ausgelacht.
Gestern in den Schoß gerissen,
heue von der Brust geschmissen,
morgen in die Gruft gebracht.
Wie gedacht,
vor geliebt, jetzt ausgelacht.

Dieses ist,
aller Jungfern Hinterlist:
Viel versprechen, wenig halten;
sie endzünden und erkalten
öfters, eh ein Tag verfließt.
Dieses ist
aller Jungfern Hinterlist.
Dein Betrug,
falsche Seele, macht mich klug;
keine soll mich mehr umfassen,
keine soll mich mehr verlassen,
einmal ist fürwahr genug.
Dein Betrug,
falsche Seele, macht mich klug.
Denke nur,
ungetreue Kreatur,
denke, sag ich, nur zurücke
und betrachte deine Tücke
und erwäge deinen Schwur.
Denke nur,
ungetreue Kreatur!
Hast du nicht
ein Gewissen, das dich sticht,
wenn die Treue meines Herzens,
wenn die Größe meines Schmerzens
deinem Wechsel widerspricht?
Hast du nicht
ein Gewissen, das dich sticht?
Bringt mein Kuß
dir so eilends Überdruß,
ei so geh und küsse diesen,
welcher dir sein Geld gewiesen,
das dich wahrlich blenden muß,
bringt mein Kuß
dir so eilends Überdruß?
Bin ich arm,
dieses macht mir wenig Harm;
Tugend steckt nicht in dem Beutel,
Gold und Schmuck macht nur die Scheitel,
aber nicht die Liebe warm.
Bin ich arm,
dieses macht mir wenig Harm.
Und wie bald
mißt die Schönheit die Gestalt!
Rühmst du gleich von deiner Farbe
daß sie ihresgleichen darbe,
auch die Rosen werden alt
und wie bald
mißt die Schönheit die Gestalt!
Weg mit dir,
falsches Herze, weg von mir!
Ich zerreiße deine Kette,
denn die kluge Henriette
stellet mir was Bessers für.
Weg mit dir,
falsches Herze, weg von mir!

Unser Zecher wollte ja schwere Fragen haben, "wo das ew`ge Räthsel ruht."....
Ja, die Frage (an alle Leser) lautet: Was gehört zu dem vorstehenden Gedicht (ist wirklich nicht schwer....) :-)))


 Enigma antwortete am 01.02.05 (13:53):

...Sorry, in Zeile 11 muss es natürlich "entzünden" heissen...


 yankee antwortete am 01.02.05 (14:03):

@Enigma
Ich möchte aber höflichst darauf hinweisen, daß du zuerst mit dem Wirtshaus gekommen bist!! lol
Da hat pilli bestimmt wieder ihre Freude dran heut nacht :-)
Aber jetzt werde ich wieder ganz nüchtern.

Lisa Baumfeld
(1877-1897)

Ich brauche Menschen ...

Ich brauche Menschen! Ja - in hellen Zimmern,
Erfüllt von Düften, Lächeln, Fächeln, Flimmern,
Wo schlank geformt - leichtwiegende Gedanken
Von Mund zu Mund sich lachend, blühend ranken!

Ich brauche Menschen ... seid'ner Schleifen Rauschen
Und Blicke, die sich sorglos spielend tauschen,
Und Worte, die ob tausend Kelchen schweifen
Und manchmal scheue, süße Beeren streifen -
Und Töne, die wie flücht'ge Küsse drängen
Und sich an lauschend bange Ohren hängen
Und bunte Wolken in die Blicke stäuben
Und blenden, schmeicheln, lügen und betäuben
Und all das Leere, Schwere überhallen ...

- - Stöhnst du, mein Herz, daß wir so tief gefallen?


 yankee antwortete am 01.02.05 (14:31):

@Enigma
Das ewige Rätsel war mir ehrlich gesagt "wurscht". Den Vers vorher fand ich dagegen besonders gelungen :-)


 Enigma antwortete am 01.02.05 (14:44):

@Yankee

Ja, ich hab`mit dem Wirtshaus angefangen und mich ja auch selbst zur Ordnung gerufen. :-))

Wenn Dir die "vorherige" Zeile so gut gefällt, schicke ich Dir die "schreckliche Brunhilde". Du wist schon sehen, was das heisst....!!

Und das Rätsel betrifft nur den "Abschied von seiner ungetreuen Liebsten", ist sehr nett..... Es gehört was dazu, sozusagen eine Antwort auf den "Abschied".

Tschüss
Enigma


 yankee antwortete am 01.02.05 (14:59):

Wenn Abschied das Stichwort ist, dann ende ich mit diesem Gedicht von Ada Christen. Ich würde es unter der Rubrik "dumm gelaufen" einordnen.


Ada Christen
(1839-1901)


Abschied

Und als ich fortgezogen,
Hab' ich in der letzten Nacht
Der Straße, wo er wohnte,
Eine Abschiedsvisite gemacht.

Hab' angesehen die Steine,
Die oft sein Fuß betritt,
Und dachte, wär' ich reich,
Ich nähme sie alle mit.

Ich kam zu seinem Hause
Und wußte selbst nicht wie,
Und hin bis an das Thor -
Dort sank ich in die Knie'.

Und sah empor zum Fenster
Und hab' es schmerzlich gegrüßt;
Ich habe mit heißer Lippe
Die Stufen am Thore geküßt.

Ja selbst die kalte Mauer
Berührte mein brennender Mund;
Doch hielt ich zitternd inne,
Denn an mich hinan sprang sein Hund.

Und er stand hinter mir;
Ich sah ihn schweigend an.
Da fragte er mich lächelnd,
Was ich denn hier gethan?

Dies Lächeln war vernichtend,
Ich rang nach einem Wort;
Dann sagte ich kaum hörbar:
�Herr, morgen geh' ich fort.�

Und abermals dies Lächeln,
Das mich so elend gemacht:
�Ich wünsche glückliche Reise -
Und mithin gute Nacht.�


 pilli antwortete am 02.02.05 (08:08):

na ihr lieben :-),

das könnte euch so passen...

pralles leben, kaschemmen-atmosphäre, lockere lasies und dumm-gelaufenes; unkommentiert von mir? :-)

wohl nicht; dazu muss zeit sein!

:-)


 pilli antwortete am 02.02.05 (08:16):

BRECHT: BALLADE VON DER HANNA CASH

Mit dem Rock von Kattun und dem gelben Tuch
Und den Augen der schwarzen Seen
Ohne Geld und Talent und doch mit genug
Vom Schwarzhaar, das sie offen trug
Bis zu den schwärzeren Zeh'n:
Das war die Hanna Cash, mein Kind
Die die "Gentlemen" eingeseift
Die kam mit dem Wind und ging mit dem Wind
Der in die Savannen läuft.

2
Die hatte keine Schuhe und die hatte auch kein Hemd
Und die konnte auch keine Choräle!
Und sie war wie eine Katze in die große Stadt geschwemmt
Eine kleine graue Katze zwischen Hölzer eingeklemmt
Zwischen Leichen in die schwarzen Kanäle.
Sie wusch die Gläser vom Absinth
Doch nie sich selber rein
Und doch muß die Hanna Cash, mein Kind
Auch rein gewesen sein.

3
Und sie kam eines Nachts in die Seemannsbar
Mit den Augen der schwarzen Seen
Und traf J. Kent mit dem Maulwurfshaar
Den Messerjack aus der Seemannsbar
Und der ließ sie mit sich gehn!
Und wenn der wüste Kent den Grind
Sich kratzte und blinzelte
Dann spürt die Hanna Cash, mein Kind
Den Blick bis in die Zeh.

4
Sie "kamen sich näher" zwischen Wild und Fisch
Und "gingen vereint durchs Leben"
Sie hatten kein Bett und sie hatten keinen Tisch
Und sie hatten selber nicht Wild noch Fisch
Und keinen Namen für die Kinder.
Doch ob Schneewind pfeift, ob Regen rinnt
Ersöff auch die Savann
Es bleibt die Hanna Cash, mein Kind
Bei ihrem lieben Mann.

5
Der Sheriff sagt, daß er ein Schurke sei
Und die Milchfrau sagt: er geht krumm.
Sie aber sagt: Was ist dabei?
Es ist mein Mann. Und sie war so frei
Und blieb bei ihm. Darum.
Und wenn er hinkt und wenn er spinnt
Und wenn er ihr Schläge gibt:
Es fragt die Hanna Cash, mein Kind
Doch nur: ob sie ihn liebt.

6
Kein Dach war da, wo die Wiege war
Und die Schläge schlugen die Eltern.
Die gingen zusammen Jahr für Jahr
Aus der Asphaltstadt in die Wälder gar
Und in die Savann aus den Wäldern.
Solang man geht in Schnee und Wind
Bis daß man nicht mehr kann
So lang ging die Hanna Cash, mein Kind
Nun mal mit ihrem Mann.

7
Kein Kleid war arm, wie das ihre war
Und es gab keinen Sonntag für sie
Keinen Ausflug zu dritt in die Kirschtortenbar
Und keinen Weizenfladen im Kar
Und keine Mundharmonie.
Und war jeder Tag, wie alle sind
Und gab's kein Sonnenlicht:
Es hatte die Hanna Cash, mein Kind
Die Sonn stets im Gesicht.

8
Er stahl wohl die Fische, und Salz stahl sie.
So war's. Das Leben ist schwer.
Und wenn sie die Fische kochte, sieh:
So sagten die Kinder auf seinem Knie
Den Katechismus her.
Durch fünfzig Jahr in Nacht und Wind
Sie schliefen in einem Bett.
Das war die Hanna Cash, mein Kind
Gott mach's ihr einmal wett.

(Die Hauspostille, 1927)


 pilli antwortete am 02.02.05 (08:19):

Pst!

Es gibt ja leider Sachen und Geschichten,
Die reizend und pikant,
Nur werden sie von Tanten und von Nichten
Niemals genannt.

Verehrter Freund, so sei denn nicht vermessen,
Sei zart und schweig auch du.
Bedenk: Man liebt den Käse wohl, indessen
Man deckt ihn zu.

Wilhelm Busch


 pilli antwortete am 02.02.05 (08:22):

Einer nur und Einer dienen
Das ermüdet meine Seele.
Rosen nur und immer Rosen -
Andere Blumen blühen noch bunter;
Wie die Bienen will ich schwärmen
Mich in Trauben Gluth berauschen,
In der Lilie Weiß mich kühlen,
Ruhen in der Nacht der Büsche.

Wehe, wer mit engem Sinne
Einem, nur sich Einem weihet:
Schmachvoll rächt sich an dem Armen
Alles was er streng verschmähet!
Nicht zur Heimath wird die Weite,
Ungestaltet in die Ferne,
Aufgelöst in leeres Sehnen
Wird der Inhalt so des Lebens
Schön ist was sich grenzt und g'nüget,
Treu um eines sich beweget
An dem Einen sich erneuet,
Wie des Pulses rege Schläge
Stets sich um das Herz bewegen,
Stets zum Herzen wiederkehren
Stets am Herzen sich erneuen
Sich an seiner Gluth entzünden.

Karoline von Günderode


 pilli antwortete am 02.02.05 (08:28):

Da sprach der Landrat unter Stöhnen:
"Könnten Sie sich an meinen Körper gewöhnen?"
Und es sagte ihm Frau Kaludrigkeit:
"Vielleicht. Vielleicht.
Mit der Zeit...mit der Zeit..."
Und der Landrat begann allnächtlich im Schlafe
Laut zu sprechen und wurde ihr Schklafe.
Und er war ihr hörig und sah alle Zeit
Frau Kaludrigkeit - Frau Kaludrigkeit!

Und obgleich der Landrat zum Zentrum gehörte,
wars eine Schande, wie daß er röhrte;
er schlich der Kaludrigkeit ums Haus...
Die hieß so - und sah ganz anders aus:
Ihre Mutter hatte es einst in Brasilien
Mit einem Herrn der bessern Familien.
Sie war ein Halbblut, ein Viertelblut:
Nußbraun, kreolisch; es stand ihr sehr gut.
Und der Landrat balzte: Wann ist es soweit?
Frau Kaludrigkeit - Frau Kaludrigkeit!

Und eines Abends im Monat September
War das Halbblut müde von seinem Gebember
Und zog sich aus. Und sagte: "Ich bin..."
Und legte sich herrlich nußbraun hin.
Der Landrat dachte, ihn träfe der Schlag!
Unvorbereitet fand ihn der Tag.
Nie hätt er gehofft, es noch zu erreichen.
Und er ging hin und tat desgleichen.

Sie lag auf den Armen und atmete kaum.
Ihr Pyjama flammte, ein bunter Traum.
Er glaubte, ihren Herzschlag zu spüren.
Er wagte sie nicht mehr zu berühren...
Er sann, der Landrat. Was war das, soeben?
Sie hatte ihm alles und nichts gegeben.
Und obgleich der Landrat vom Zentrum war,
wurde ihm eines plötzlich klar:
Er war nicht der Mann für dieses Wesen.
Sie war ein Buch. Er konnt es nicht lesen.
Was dann zwischen Liebenden vor sich geht,
ist eine leere Formalität.

Und so lernte der Mann in Minutenfrist,
daß nicht jede Erfüllung Erfüllung ist.
Und belästigte nie mehr seit dieser Zeit
Die schöne Frau Inez Kaludrigkeit

(Kurt Tucholsky 1890-1935)


 yankee antwortete am 02.02.05 (09:06):

Peter Altenberg
österreichischer Schriftsteller (1859 - 1919)

Die geschickteste Art, einen Konkurrenten zu besiegen, ist, ihn in dem zu bewundern, worin er besser ist.

Gott denkt in den Genies, träumt in den Dichtern und schläft in den übrigen Menschen.

Hüte dich vor dem Imposanten! Aus der Länge des Stiels kann man nicht auf die Schönheit der Blüte schließen.

Es ist traurig, eine Ausnahme zu sein. Aber noch viel trauriger ist es, keine zu sein.

Die Mode ist ein ästhetisches Verbrechen. Sie will nicht das Endgültig-Gute, das Endgültig-Schöne. Sie will immer nur etwas Neues.

Überall gibt es Zuschauer - Menschen, die an etwas interessiert sind, das sie gar nicht interessiert


 Enigma antwortete am 02.02.05 (09:07):

:)))... toll......

Aber wie irritierend, Pilli,
jetzt hatte ich dich schon angedichtet, in Gedanken, nämlich so:

Wenn Pilli lacht,
in tiefster Nacht,
wenn keiner mehr wacht,
dann ist`s vollbracht,dann
freu`ich mich morgens schon um halb acht...

Und was passiert: Pilli kommt gegen halb acht....*lach*

Ludwig Thoma
Karneval

Väter, hört mich,
Mütter, hört die
Mahnung,
jetzt kommt wieder
jene Zeit - versteht -,
wo so manche Tugend
ohne Ahnung
der Besitzerin
abhanden geht.

Beutesuchend schleicht
umher das Laster;
Wer ist sicher, daß ihm
nichts geschieht,
wenn man jetzt der
Busen Alabaster
und beim Hofball auch
die Nabel sieht?

Von den Blicken
kommt es zur
Berührung,
igendwo zu einem
Druck der Hand,
und so manches Mittel
der Verführung
sei aus Scham hier
lieber nicht genannt!

Wenn an hochgewölbte
Männerbrüste
sich das zarte Fleisch
der Mädchen drängt,
regen sich von selbst
die bösen Lüste
und was sonst
damit zusammenhängt.

Darum Eltern,
wenn die Geigen klingen
und die Klarinette
schrillend pfeift,
hütet Eure Tochter
vor den Dingen,
die sie hoffentlich
noch nicht begreift. :-)


 yankee antwortete am 02.02.05 (09:24):

Guten Morgen Feen der Phoesie.
Vor lauter Zauber habe ich mich, wie ihr sicher bemerkt habt, im Forum vertan. Zum glück habe ich das Gedicht jetzt noch nicht zu den Zitaten gestellt.

@pilli
ich dachte mir schon, daß unsere poetischen Ausschweifungen gestern, dich nicht unberührt lassen. So wie du loslegst, geht es dir (hoffentlich) wieder gut.
@Enigma
danke nochmals für die gestrige Excursion ins phoetische Millieu. Hat mir sehr viel Spaß gemacht.

Georg Heym

Fröhlichkeit

Es rauscht und saust von großen Karussellen
Wie Sonnen flammend in den Nachmittagen.
Und tausend Leute sehen mit Behagen,
Wie sich Kamele drehn und Rosse schnellen,
Die weißen Schwäne und die Elefanzen,
Und einer hebt vor Freude schon das Bein
Und grunzt im schwarzen Bauche wie ein Schwein,
Und alle Tiere fangen an zu tanzen.

Doch nebenan, im Himmelslicht, dem hellen,
Gehen die Maurer rund, wie Läuse klein,
Hoch ums Gerüst, ein feuriger Verein,
Und schlagen Takt mit ihren Mauerkellen.



 Joan antwortete am 02.02.05 (23:11):

Hallo Pilli,Yankee,Enigma,man muss Euch einfach lieben für letztens entdeckte Vielseitigeit!! !!! JOAN

OPTIMIST
Sieh dort,so sprach der OPTIMIST,in goldner Frühlingssonne blitzen
auf einem Haufen Pferdemist in Eintracht sieben Spätzchen sitzen---
Wie reich ist doch der Schöpfungsplan und muss doch wohl Bedeutung haben:
DENN WAS EIN GROSSER ABGETAN,KANN HIER NOCH SIEBEN KLEINE LABEN.
,
PESSIMIST
Sieh dort,so sprach der PESSIMIST,und fass dies Bild dir in Gedanken
wie sich um dreck`gen Pferdemist die sieben rupp`gen Vögel zanken.
Das ist des Lebens grosser Zug vom einen bis zum andern Ende:
NICHTS IST BEI UND GEMEIN GENUG,DAS NICHT NOCH SIEBEN FRESSER FÄNDE.
Rudolf Presber


 marie2 antwortete am 03.02.05 (00:10):

Trinklied
Parodie auf Richard Dehmel

Näher und näher die Nacht schon stapft:
Trinkt, bis der Seher sich selbst verzapft -
Stürzt das Fass!
Schaut, wie im Blute die Sonn� ersauft,
Weil sich die Gute nun wärmer tauft -
Hoch das Glas!
Singt mir vom rötlichen, tödlichen Leben -
Dagloni maro ni lazzaroni sasa,
Gleiala kling klang gloria ...
So trinkt doch, Donner und Doria!
Knickeknackreben, süß triefende Wunden,
Singt mir das Lied von droben und drunten,
Wallalalei juchuh!

Der Mond hängt seine rote Zung�
Über den Berg - gute Nacht, min Jung�!
Sonne, hist hott!
Feuert den Pott,
Krach! in die Ecke zum Gott -
Hui!

Näher und näher schon schlurft die Nacht.
Im Gurgelstrom ein Gegack�, ein Gezuck� -
Noch einen Schluck!
Hört ihr, wie�s kracht?
Fürchtet ihr den schwarzen Mann?
Da kommt er schon an,
Der Morian,
Hopp, hopp, im Galopp,
Und der Kopp so salopp -
Hup utui!
Singt mir vom rötlichen, tödlichen Leben!
Maroni mahagoni -
Klirrlala, g�schirrlala,
Klingelingkling klimbim gloribusvallera ...
Hussa! wir streben und kleben und schweben
Immer darüber und immer daneben -
Juch!
Hanns von Gumppenberg


 pilli antwortete am 03.02.05 (01:13):

von Joan ein füllhorn voll liebe :-) und yankee schenkt den vergleich mit elfen, dazu angedichtet werden von Enigma :-)

da hatte es grosse freude!

ja, :-) ich wollte euch überraschen und hatte schon seit 05.00 uhr gegoogelt, gewählt und wieder verworfen; die traum-gedichte waren es, die nicht leicht zu finden sind. vielleicht mag Joan mit "eigenem" auch das thema "Träume" bereichern?

:-)

...

Karneval

Auch uns, in Ehren sei's gesagt,
Hat einst der Karneval behagt,
Besonders und zu allermeist
In einer Stadt, die München heißt.
Wie reizend fand man dazumal
Ein menschenwarmes Festlokal,
Wie fleißig wurde über Nacht
Das Glas gefüllt und leer gemacht,

Und gingen wir im Schnee nach Haus,
War grad die frühe Messe aus,
Dann können gleich die frömmsten Frau'n
Sich negativ an uns erbau'n.

Die Zeit verging, das Alter kam,
Wir wurden sittsam, wurden zahm.
Nun sehn wir zwar noch ziemlich gern
Die Sach' uns an, doch nur von fern
(Ein Auge zu, Mundwinkel schief)
Durchs umgekehrte Perspektiv.
(Wilhelm Busch)


 pilli antwortete am 03.02.05 (01:15):

Eins zwei drei,
Münsterhex� sei frei,
vier und fünf,
gelb-rote Strümpf
sechs, sieben, acht,
Krach wird gmacht,
neun und zehne
glei kasch�s sehne,
heule, kitzle, schtrample, schreie,
d�Leut i d�Luft umenander keie,
mit de Leiter as Fenschder go,
Knoblauchfurze krache lo,
s�Münschterbergle suber kehre
Pfarrers Gnadenbrot verzehre,
Glocke nachts zum Läute bringe
und am Hexefeuer schpringe.
Ho Narro!

(Verfasser unbekannt)


 pilli antwortete am 03.02.05 (01:16):

O wär im Februar doch auch,
Wie`s ander Orten ist der Brauch
Bei uns die Narrheit zünftig!
Denn wer, so lang das Jahr sich mißt,
Nicht einmal herzlich närrisch ist,
Wie wäre der zu andrer Frist
Wohl jemals ganz vernünftig.

(Theodor Storm)


 pilli antwortete am 03.02.05 (01:40):

für meine mum :-) ein echtes "marjellchen" mit immer viel verständnis für datt *rheinische wesen*, drucke ich gleich anschliessend das folgende gedicht aus und werde es ihr morgen mitnehmen in das mit luftschlangen geschmückte krankenhaus und vielleicht glingt es uns beiden ein bissi zu schmunzeln über:

Die Maskerade

Gromballs Marieche war mit Franz Magul verlobt
Und hatte ihm auch ew'ge Treu' gelobt! -
Doch mit dem Mund bloß - denn sie war nich spröde -
Und Franz, ihr Schmisser, bißche blöde.
Doch bärenstark, die Ruhe in Person,
War Schmied und Schmiedemeisters Sohn.
Der hatte Pranken, wie so'n Deckel vonnem Faß,
Und wo er hinhaud, wuchs kein Halmche Gras.

Nu gab es einmal so der Fall,
Daß inne Nachbarschaft war Maskenball.
Marieche, von 'ner Freundin stark bestürmt,
War auch klammheimlich hingetürmt.
Obwohl sie eine Maske vor der Nase,
Wurd' sie erkannt von Franzens Base.
Die rennd zum Telefong und schlug Alarm
Und macht den Franz gehörig warm:
"Franz, deine Braut is hier bei uns im Saal
Und ihr Kostüm allein is schon Skandal!
Die hat ja beinah nuscht nich an
Und hängt am Arm vom fremden Mann!
Sie drückt sich mit ihm inne Ecken
Und läßt sich butschen - ohne zu erschrecken.
Nu sag mal, Franz, is das Benehmen?
Sie missd als deine Braut sich schämen !
Die beiden sind die reinsten Kälber !
Glaubst nich?... Na, komm rieber, ieberführ dich selber !"

Franz knalld vor Wut den Hörer hin
Und schnurstracks kam in seinem Sinn,
Daß aufe Lucht e Ritterrüstung stand,
Die kam ihm grad so recht zur Hand. -
Fohrts runter mit dem Panzer, blank poliert,
Die Glieder frisch geölt und gleich probiert.-
So zog der Franz - die Galle war ihm bitter -
Wie einst zum Kampf die alten Ritter. -
Er brausd mit dem Motorrad auf Schossee
Wie'n losgelaßner Bull mank frischen Klee. -
Franz ganz geschient von Kopf bis Fuß,
Schritt in den Saal, ganz ohne Gruß! -
Das Helmvisier deckt vollends sein Gesicht. -
Er schlarrte schwer - die Rüstung hat Gewicht.-
So schob er sich wie'n Schlachtschiff mittenmank,
Wie Lohengrin erstrahld er blitzeblank.

Beim wilden Scherbeln und dem Drängen
Blieb ausgerechnet an der Rüstung hängen
Marieche mit den leichten Plossen,
Die kreesten ab bis auf die Flossen.
Ihr Partner rempelt drauf nu an den Franz,
Weil die Marieche zerpliesert ganz.-
Franz, all erbost und auch nich faul,
Haud mit der Eisenfaust dem Gnos aufs Maul.-
Der kippte um und seine Zahnprothesen,
die waren reif für'n Reinmachbesen.
Marieche, abgerebbelt und zerrissen,
Krakeeld: "Herr, Ihren Namen will ich wissen!"
Da schrie ein Spötter: "Marjell, hör auf zu singen!
Das is doch Götz von Berlichingen!
Kennst nich den alten Gruß und Brauch?"
Sie wußd Bescheid: "Und du mich Ihnen auch!"
Marie karäsig, macht ein Mordsgeschrei,
Droht mit Gericht und Polizei:
"Da kommt ein hergelaufener Banause
Und stört die Stimmung hier im Hause!
Ist niemand von den Kavalieren,
Um dieses Monstrum zu halbieren?" -

fortsetzung


 pilli antwortete am 03.02.05 (01:41):

Nuscht rührt sich - "Ah, die Helden haben Schiß !
Wär' ich ein Mann, dies Scheusal ich zerriß !"
Vier Gnaschels fiehlten sich drauf stark,
Im Glauben auf ihr Knochenmark. -
Die drangen ein auf Franz mit Wucht,
Doch der schlug alle inne Flucht. -
Zwei krichten unter ihre Kiemen,
Daß sie fohrts gleich beschwiemen.
Der dritte, kracht auf seinen Schnurgel,
Den vierten packt der Franz beim Gurgel. -
Drauf wollten noch so'n Halbdutz hilfreich sein,
Doch alle haud er kurz und klein.

Und wie aufs Stichwort ging im ganzen Haus
Die große Festbeleuchtung kurzum aus.
Die Panik wuchs; denn jeder wollte raus,
So rasch wie möglich bloß nach Haus. -
Aber in der Enge beim Gedränge
Gabs Keilerei in rauher Menge.
Der Krugwirt voller Wut und Zorn,
Bließ angstbewegt ins Feuerhorn. -
Nu wurd es noch viel kunterbunter
Kopfieber gings und drauf und drunter.

In diesem Wirrwarr setzte Franz
Sich ganz behutsam ab mit Eleganz.-
Fuhr unerkannt als Siegesritter
Aus diesem kleinen Ungewitter.
Als wieder Licht wurd in den Runden,
Bekickt sich mancher seine Wunden.
Es war viel Bruch im Haus und Splitter -
Wo aber blieb der fremde Ritter?

Am andern Tag erhielt Marie Gromball
Per Post die Quittung von dem Fall:
"Von der verflossnen Nacht
Is mir nu alles hinterbracht -
Und Schimpf und Schande nehm ich nich in Kauf,
Drum heb' ich die Verlobung auf !"
Als die Marie den Brief gelesen,
Wußd sie, daß sie die Braut gewesen. -
Sie plinst und granst und lamentiert,
Daß ausgerechnet ihr so was passiert. -
Der Vater stiepf: "Joa, Knall on Fall,
Watt kröppst du ook opp Maskeball !"

:-)


 Enigma antwortete am 03.02.05 (10:03):

Guten Morgen alle,

Pilli, die nächtliche Plackerei hat sich ja mal wieder sehr gelohnt. Vielen, vielen Dank. :-))

Als Dank was "an die Kölner" , die heute ja schon einen ihrer Haupttage der "fünften Jahreszeit" haben:

Johann Wolfgang von Goethe
Der Kölner Mummenschanz

Fastnacht 1825
Da das Alter, wie wir wissen,
nicht für Torheit helfen kann,
wär es ein gefundner Bissen
einem heitern alten Mann,

daß am Rhein, dem vielbeschwommnen,
Mummenschaar sich zum Gefecht
rüstet gegen angekommnen
Feind, zu sichern altes Recht.

Auch dem Weisen fügt behäglich
sich die Torheit wohl zur Hand,
und so ist es gar verträglich,
wenn man sich mit euch verband.

Selbst Erasmus ging den Spuren
der Moria scherzend nach,
Ulrich Hutten mit Obskuren
derbe Lanzenkiele brach.

Löblich wird ein tolles Streben,
wenn es kurz ist und mit Sinn,
Heiterkeit zum Erdeleben
sei dem flüchtgen Rausch Gewinn.

Häufet nur an diesem Tage
kluger Torheit Vollgewicht,
daß mit uns die Nachwelt sage:
Jahre sind der Lieb und Pflicht.

Ich bin zwar keine überzeugte Karnevalistin, aber während meiner "Düsseldorfer Jahre" konnte ich doch feststellen, dass auch der richtige Ort dazugehört, um die Stimmung voll erfassen zu könne.

Bewundert habe ich immer die Karnevalsaktivitäten von Heinrich Lützeler, über den ich heute schon etwas finden konnte - she. URL! -

Internet-Tipp: https://biene.bonn.de/innensta/verschi/person/lutzeler.htm


 marie2 antwortete am 03.02.05 (11:24):

Hirtenbrief an die Kölner

Das Carnaval kommt.
Wozu es euch frommt,
Ihr Tausendsassas?
Zum plattesten Spaß,
Zum Fressen und Saufen,
Nach Huren zu laufen. -
Ihr knickrigen Kerle!
Gebt Geld für den Dom:
Der ist ja Kölns Perle.
Sonst schreib� ich nach Rom,
Ich müsse hier streuen
Die Perlen den Säuen.

August Wilhelm von Schlegel


 yankee antwortete am 03.02.05 (14:46):

@ So ihr Lieben, da bin ich wieder um mitzumachen.

Wie ich heute so die Beiträge durchlas und pillis 5 Uhr Aktion bewunderte und genossen habe, dachte ich mir so, daß der nun folgende Dichter wohl nicht mehr Frauen in seinem Leben kennen gelernt hat, als seine Mama :-)

Julius Sophus Felix Dahn

Die Frauen sind oft fromm und still

Die Frauen sind oft fromm und still,
wo wir ungebärdig toben,
und wenn sich eine Stärken will,
dann blickt sie stumm nach oben.
Ihr' Kraft und Stärke ist gering,
ein Lüftchen kann sie knicken,
doch ist's ein eignes, starkes Ding,
wenn sie gen Himmel blicken.


Oft hab' ich selbst mit Aufgesehn,
sah die Mutter so nach oben,
ich sah nur graue Wolken gehn
und blaue Luft da droben,
sie aber, wenn sie niedersah,
war voller Kraft und Hoffen,
mir ist, die Frauen hie und da
sehn noch den Himmel offen.


 pilli antwortete am 03.02.05 (15:27):

überraschung! :-)

helles tageslicht und früher abgelöst vom "händchenhalten" bei der mum, meine eintrittskarten für karnevalistische vergnügungen wild unters willige weibervolk geworfen und schon ist sie da die antwort auf allzu brave frauenfiguren.

erstaunlich watt so ein Karolinchen von Günderode schon 1780-1806) gewagt hat zu schreiben :-)

"Einstens lebt ich süßes Leben" (wo is sie hin die schöne zeit?)

...

Einstens lebt ich süßes Leben,
denn mir war, als sei ich plötzlich
nur ein duftiges Gewölke.
Über mir war nichts zu schauen
als ein tiefes blaues Meer
und ich schiffte auf den Wogen
dieses Meeres leicht umher.
Lustig in des Himmels Lüften
gaukelt ich den ganzen Tag,
lagerte dann froh und gaukelnd
hin mich um den Rand der Erde,
als sie sich der Sonne Armen
dampfend und voll Glut entriß,
sich zu baden in nächtlicher Kühle,
sich zu erlaben im Abendwind.
Da umarmte mich die Sonne,
von des Scheidens Weh ergriffen,
und die schönen hellen Strahlen
liebten all und küßten mich.
Farbige Lichter
stiegen hernieder,
hüpfend und spielend,
wiegend auf Lüften
duftige Glieder.
Ihre Gewande
Purpur und Golden
und wie des Feuers
tiefere Gluten.
Aber sie wurden
blässer und blässer,
bleicher die Wangen,
sterbend die Augen.
Plötzlich verschwanden
mir die Gespielen,
und als ich trauernd
nach ihnen blickte,
sah ich den großen
eilenden Schatten,
der sie verfolgte,
sie zu erhaschen.
Tief noch im Westen
sah ich den goldnen
Saum der Gewänder.
Da erhub ich kleine Schwingen,
flatterte bald hie bald dort hin,
freute mich des leichten Lebens,
ruhend in dem klaren Äther.
Sah jetzt in dem heilig tiefen
unnennbaren Raum der Himmel
wunderseltsame Gebilde
und Gestalten sich bewegen.
Ewige Götter
saßen auf Thronen
glänzender Sterne,
schauten einander
selig und lächelnd.
Tönende Schilde,
klingende Speere
huben gewaltige,
streitende Helden;
Vor ihnen flohen
gewaltige Tiere,
andre umwanden
in breiten Ringen
Erde und Himmel,
selbst sich verfolgend
ewig im Kreise.
Blühend voll Anmut
unter den Rohen
stand eine Jungfrau,
Alle beherrschend.
Liebliche Kinder
spielten inmitten
giftiger Schlangen. -
Hin zu den Kindern
wollt ich nun flattern,
mit ihnen spielen
und auch der Jungfrau
Sohle dann küssen.
Und es hielt ein tiefes Sehnen
in mir selber mich gefangen.
Und mir war, als hab ich einstens
mich von einem süßen Leibe
losgerissen, und nun blute
erst die Wunde alter Schmerzen.
Und ich wandte mich zur Erde,
wie sie süß im trunknen Schlafe
sich im Arm des Himmels wiegte.
Leis erklungen nun die Sterne,
nicht die schöne Braut zu wecken,
und des Himmels Lüfte spielten
leise um die zarte Brust.
Da ward mir, als sei ich entsprungen
dem innersten Leben der Mutter,
und habe getaumelt
in den Räumen des Äthers,
ein irrendes Kind.
Ich mußte weinen,
rinnend in Tränen
sank ich hinab zu dem
Schoße der Mutter.
Farbige Kelche
duftender Blumen
faßten die Tränen,
und ich durchdrang sie,
alle die Kelche,
rieselte abwärts
hin durch die Blumen,
tiefer und tiefer,
bis zu dem Schoße
hin, der verhüllten
Quelle des Lebens.

:-)


 yankee antwortete am 03.02.05 (15:30):

Huch !
Hab wohl vor Aufregung zittrige Hände gehabt. Dat det dat jiebt :-)

Hier nochmal wat nettes zum allseits beliebten Thema :-)

Erich Weinert

Das pasteurisierte Freudenhaus (1.Teil)

Auch die sexuelle Frage
Trat im neuen Staat zutage.
Ganz besonders für Betriebe
Öffentlicher Nächstenliebe
Gab's noch keine feste Norm;
Und sie schrien nach Reform.
Schon vonseiten deutscher Frauen
Scholl der Ruf, sie abzubauen.
Doch auf männlichen Kongressen
Fand für ihre Interessen
Nirgends sich das nötige Drittel.
Und so blieb kein andres Mittel,
Als besagte Lasterhöhlen
Völkisch-christlich zu durchseelen.
Auch erwog man, und ganz richtig
(Dies erschien besonders wichtig):
Schon zu Zeiten unsrer Kaiser
Gab es solche Freudenhäuser.
Doch bei Schaffung höhrer Ebne
Stieß man auf naturgegebne
Hindernissen und Gefahren,
Die nicht zu umgehen waren.
Da, in einer Stadt im Norden,
War sie bald gefunden worden,
Und von einer Dame zwar,
Welche aus der Branche war.
Dieses war die Mutter Klippschen,
Die Besitzer eines hübschen
Kleinen Freudenhauses war,
Wo die zarte Kinderschar,
Die sie zwar nicht selbst gebar,
Teils aus Lust, teils aus Prinzip,
Ihre muntren Späße trieb.
Eines Nachts, im Glorienschein,
Trat ein Geist zu ihr hinein,
Der sie freundlich interviewt;
Und das ganze Institut
War von Sphärenklang durchläutet.
Sie verstand, was das bedeutet,
Und erwog, vom Geist durchdrungen,
Wesentliche Änderungen.
Sie besuchte Pastor Quandte,
Den sie schon von früher kannte,
Dem sie ihre neuerbaute
Mädchenseele anvertraute.
Pastor Quandte, sanft geölt,
Sprach: Das ist es, was uns fehlt!
Ein für sittenreine Freude
Eingerichtetes Gebäude,
Das in jeder Hinsicht frei
Von gemeiner Wollust sei.
Man verpöne das Obszöne,
Damit auch der angesehne
Ältre Herr sich hingewöhne!
Denn man weiß ja aus Erfahrung,
Daß die eheliche Paarung
Einmal nicht mehr den Effekt hat.
Variatio delectat.


 yankee antwortete am 03.02.05 (15:32):

Erich Weinert

Das pasteurisierte Freudenhaus (2.Teil)


Worauf er, für den Bedarf,
Einen schlichten Plan entwarf,
Wo die schwüle Atmosphäre
Gründlich zu bereinigen wäre:
Schlichte Kleidung, hochgeschlossen,
Alkohol wird nicht genossen,
Keine Akte, dafür schmucke
Sonnige Dreifarbendrucke.
Kurz, man fühle sich inmitten
Guter bürgerlicher Sitten.
Mutter Klippschen, so beschieden,
Wandelte, im Herzen Frieden,
Heimwärts in ihr Freudenhäuschen
Und eröffnete den Mäuschen
Bürgerliche Perspektiven
Bei ermäßigten Tarifen.
Feierlich im nächsten Lenz,
Unter Quandtes Assistenz,
Ward in aller Heimlichkeit
Die Geschichte eingeweiht.
Alle prominenten Geister
Bis hinauf zum Bürgermeister,
Meistens schon gewohnte Gäste,
Kamen zum Eröffnungsfeste.
Pastor Quandte, stante pede,
Schlug ans Glas und hielt die Rede.
Hierauf folgte Rektor Müller;
Dieser brachte was von Schiller:
Freude, schöner Götterfunken!
Und dann wurde Wein getrunken.
Später sang man frohe Lieder:
"Deutsche Mädchen, keusches Mieder-
Steh allein auf weiter Flur-
Gaudeamus igitur."
Darauf las Herr Pastor Quandte
Noch was von der Waterkante.
Und zum Schluß der Kommissar,
Der schon ungeduldig war,
Brachte auf die polygamen,
Venusdienstbeflißnen Damen
Einen sehr galanten Toast.
Und dann wurde ausgelost.
Und so wandelten die Zecher
In die stillen Schlafgemächer.
Und, von allen Lastern frei,
Schlief man dort den Damen bei.
Bald trug Minna auf der Taille
Freudig die Verdienstmedaille,
Und ihr Venusschwesternorden
War zur Sensation geworden.
Hier roch nichts mehr nach Verführung;
Und in strenger Rationierung
Wurde, je nach Interessen,
Freie Liebe zugemessen.
Auch die sonst fast monogamen
Bessersituierten Damen
Sah man, frei von Vorurteilen,
Hier in Andacht still verweilen.
Abends wurde temperenzelt,
Nachmittags gekaffeekränzelt.
Und so blühte still in wahren
Deutschen Geist der neue Harem.


 pilli antwortete am 03.02.05 (16:06):

yep yankee :-),

da werden sich wohl die forenblitze so gekreuzt haben, dass gleich dein zeitgleich geschriebener beitrag davon getroffen wurde?

foren-kaffeekränzelnd und dem thema mit höchster aufmerksamkeit zugeneigt, glaube ich aber nicht, dass es uns zu "Nöckergreisen" macht. :-)

...

Der Nöckergreis

Ich ging zum Wein und ließ mich nieder
Am langen Stammtisch der Nöckerbrüder.
Da bin ich bei einem zu sitzen gekommen,
Der hatte bereits das Wort genommen.

"Kurzum" - so sprach er -, "ich sage bloß,
Wenn man den alten Erdenkloß,
Der, täglich teilweis aufgewärmt,
Langweilig präzis um die Sonne schwärmt,
Genau besieht und wohl betrachtet
Und, was darauf passiert, beachtet,
So findet man, und zwar mit Recht,
Daß nichts so ist, wie man wohl möcht.

Da ist zuerst die Hauptgeschicht:
Ein Bauer traut dem andern nicht.
Ein jeder sucht sich einen Knittel,
Ein jeder polstert seinen Kittel,
Um bei dem nächsten Tanzvergnügen
Gewappnet zu sein und obzusiegen,
Anstatt bei Geigen- und Flötenton,
Ein jeder mit seiner geliebten Person,
Fein sittsam im Kreise herumzuschweben.


Aber nein! Es muß halt Keile geben.
Und außerdem und anderweitig:
Liebt man sich etwa gegenseitig?
Warum ist niemand weit und breit
Im vollen Besitz der Behaglichkeit?
Das kommt davon, es ist hienieden
Zu vieles viel zu viel verschieden.


Der eine fährt Mist, der andre spazieren;
Das kann ja zu nichts Gutem führen,
Das führt, wie man sich sagen muß,
Vielmehr zu mehr und mehr Verdruß.
Und selbst, wer es auch redlich meint,
Erwirbt sich selten einen Freund.

Wer liebt, zum Beispiel, auf dieser Erde,
Ich will mal sagen, die Steuerbehörde?
Sagt sie, besteuern wir das Bier,
So macht's den Christen kein Pläsier.
Erwägt sie dagegen die Steuerkraft
Der Börse, so trauert die Judenschaft.

Und alle beide, so Jud wie Christ,
Sind grämlich, daß diese Welt so ist. -
Es war mal 'ne alte, runde Madam,
Deren Zustand wurde verwundersam.

Bald saß sie grad, bald lag sie krumm,
Heut war sie lustig und morgen frumm;
Oft aß sie langsam, oft aber so flink
Wie Heinzmann, eh er zum Galgen ging.
Oft hat sie sogar ein bissel tief
Ins Gläschen geschaut, und dann ging's schief.

Sodann zerschlug sie mit großem Geklirr
Glassachen und alles Porzellangeschirr.
Da sah denn jeder mit Schrecken ein,
Es muß wo was nicht in Ordnung sein.

Und als sich versammelt die Herren Doktoren,
Da kratzten dieselben sich hinter den Ohren.
Der erste sprach: ich befürchte sehr,
Es fehlt der innere Durchgangsverkehr;

Die Gnädige hat sich übernommen;
Man muß ihr purgänzlich zu Hilfe kommen.'
Der zweite sprach: O nein, mitnichten!
Es handelt sich hier um Nervengeschichten.'
,Das ist's' - sprach der dritte - was ich auch ahne;
Man liest zu viele schlechte Romane.'

fortsetzung :-)


 pilli antwortete am 03.02.05 (16:06):


,Oder' - sprach der vierte - sagen wir lieber,
Man hat das Schulden- und Wechselfieber.'
,ja' - meinte der fünfte - das ist es eben;
Das kommt vom vielen Lieben und Leben.'
,O weh!' - rief der sechste - der Fall ist kurios;
Am End ist die oberste Schraube los.'

,Hah!' - schrie der letzte - das alte Weib
Hat unbedingt den Teufel im Leib;
Man hole sogleich den Pater her,
Sonst kriegen wir noch Malör mit der.'

Der Pater kam mit eiligen Schritten;
Er tät den Teufel nicht lange bitten;
Er spricht zu ihm ein kräftiges Wort:
,Raus, raus und hebe dich fort,
Du Lügengeist,
Der frech und dreist
Sich hier in diesen Leib gewagt!'
,I mag net!' - hat der Teufel gesagt.

Hierauf - -
Doch lassen wir die Späß,
Denn so was ist nicht sachgemäß.
Ich sage bloß, die Welt ist böse.
Was soll, zum Beispiel, das Getöse,
Was jetzt so manche Menschen machen
Mit Knallbonbons und solchen Sachen?

Man wird ja schließlich ganz vertattert,
Wenn's immer überall so knattert.
Das sollte man wirklich solchen Leuten
Mal ernstlich verbieten, und zwar beizeiten,
Sonst sprengen uns diese Schwerenöter
Noch kurz und klein bis hoch in den Äther,
Und so als Pulver herumzufliegen,
Das ist grad auch kein Sonntagsvergnügen.

Wie oft schon sagt ich: Man hüte sich.
Was hilft's? Man hört ja nicht auf mich.
Ein jeder Narr tut, was er will.
Na, meinetwegen! Ich schweige still!"

So räsonierte der Nöckergreis.
Uns aber macht er so leicht nichts weis;
Und ging's auch drüber oder drunter,
Wir bleiben unverzagt und munter.

Es ist ja richtig: Heut pfeift der Spatz
Und morgen vielleicht schon holt ihn die Katz;
Der Floh, der abends krabbelt und prickt,
Wird morgens, wenn's möglich, schon totgeknickt;

Und dennoch lebt und webt das alles
Recht gern auf der Kruste des Erdenballes. -
Froh hupft der Floh. -
Vermutlich bleibt es noch lange so.

(Wilhelm Busch)


 Enigma antwortete am 03.02.05 (18:19):

...da komme ich ganz harmlos nach Hause. Und was finde ich vor? Dass ein wahrer Schaffensrausch über den ST gebraust ist...:-)
Pilli, ist die Mum schon wieder im Krankenhaus?
Ich hoffe, dass sie nicht ernsthaft erkrankt ist.

Paul Heyse
Novelle

Sie kannten sich beide von Angesicht.
Sie sprachen sich nie und liebten sich nicht.
Er nahm ein Weib, das die Mutter ihm wählte,
als sie sich mit einem Vetter vermählte.
Er war zufrieden mit seinem Los;
Sie wähnte sich recht in des Glückes Schoß.
Nur manchmal, zur Zeit der Fliederblüte,
was wollte da knospen in ihrem Gemüte?
Und einst nach Jahren am dritten Ort,
da sagten sie sich das erste Wort.
Am selben Tische zum ersten Male-
der Flieder duftet herein zum Saale.
Was er sie gefragt, was sie ihm gesagt,
es war nicht neu und war nicht gewagt.
Doch plötzlich, mitten im Plaudern und Scherzen,
erschracken sie beide im tiefsten Herzen.
Sie hatten mit tödlichem Staunen erkannt,
wie seltsam eins das andre verstand.
Auch das, was beiden im stillen Gemüte
erwachte zur Zeit der Fliederblüte.
Sie sahen sich an einen Augenblick
und sahn einen Abgrund von Mißgeschick.
Dann blickten sie weg, und beide verstummten,
so munter rings die Gespräche summten.
Drauf ging sie nach Haus mit dem eigenen Mann,
er führte sein Weib, so schieden sie dann.
Und sagten, sie würden sich glücklich schätzen,
die werte Bekanntschaft fortzusetzen.
Doch wie er am andern Morgen erwacht,
was hat ihn so bitter lachen gemacht?
Und wie sie auffuhr von ihrem Kissen,
was hat sie so heimlich weinen müssen?
Sie haben sich niemals wiedergesehn.
Sie wußten sich klug aus dem Weg zu gehn.
Nur immer zur Zeit der Fliederblüte
wie Spätfrost schauert`s durch ihr Gemüte.


 yankee antwortete am 04.02.05 (09:11):

An meine Rose

Frohlocke, schöne junge Rose,
Dein Bild wird nicht verschwinden,
Wenn auch die Glut, die dauerlose,
Verweht in Abendwinden.

So süßer Duft, so helle Flamme
Kann nicht für irdisch gelten;
Du prangst am stolzen Rosenstamme,
Verpflanzt aus andern Welten;

Aus Büschen, wo die Götter gerne
Sich in die Schatten senken,
Wenn sie in heilig stiller Ferne
Der Menschen Glück bedenken.

Darum mich ein Hinübersehnen
Stets inniger umschmieget,
Je länger sich in meinen Tränen
Dein holdes Antlitz wieget.

O weilten wir in jenen Lüften,
Wo keine Schranke wehrte,
Daß ich mit deinen Zauberdüften
Die Ewigkeiten nährte! �

Hier nahn die Augenblicke, � schwinden
An dir vorüber immer,
Ein jeder eilt, dich noch zu finden
In deinem Jugendschimmer;

Und ich, wie sie, muß immer eilen
Mit allem meinem Lieben
An dir vorbei, darf nie verweilen,
Von Stürmen fortgetrieben.

Doch hat, du holde Wunderblume,
Mein Herz voll süßen Bebens
Dich mir gemalt zum Eigentume
Ins Tiefste meines Lebens,

Wohin der Tod, der Ruhebringer,
Sich scheuen wird zu greifen,
Wenn endlich seine sanften Finger
Mein Welkes niederstreifen.


 Enigma antwortete am 04.02.05 (11:55):

Mascha Kaléko
Das berühmte Gefühl

Als ich zum ersten Male starb -
ich weiß noch, wie es war.
Ich starb so ganz für mich und still,
das war zu Hamburg, im April,
und ich war achtzehn Jahr.

Und als ich starb zum zweiten Mal,
das Sterben tat so weh.
Gar wenig hinterließ ich dir:
Mein klopfend Herz vor deiner Tür,
die Fußspur rot im Schnee.

Doch als ich starb zum dritten Mal,
da schmerzte es nicht sehr.
So altvertraut wie Bett und Brot
und Kleid und Schuh war mit der Tod.
Nun sterbe ich nicht mehr.


 yankee antwortete am 04.02.05 (13:54):

Theodor Körner

Worte der Liebe.

Worte der Liebe, ihr flüstert so süß
Wie Zephirswehen im Paradies;
Ihr klingt mir im Herzen nah und fern;
Worte der Liebe, ich trau' euch so gern.
Streng mag die Zeit, die feindliche, walten,
Darf ich an euch nur den Glauben behalten.

Wohl gibt es im Leben kein größeres Glück
Als der Liebe Geständnis in Liebchens Blick;
Wohl gibt es im Leben nicht höhere Lust
Als Freuden der Liebe an liebender Brust.
Dem hat nie das Leben freundlich begegnet,
Den nicht die Weihe der Liebe gesegnet.

Doch der Liebe Glück, so himmlisch, so schön,
Kann nie ohne Glauben an Tugend bestehn.
Der Frauen Gemüt ist rein und zart;
Sie haben den Glauben auch treu bewahrt.
Drum traue der Liebe! Sie wird nicht lügen;
Denn das Schöne muß immer, das Wahre muß siegen!

Und flieht auch der Frühling am Leben vorbei,
So bewahrt den Glauben doch still und treu!
Er lebt, wenn hier alles vergeht und zerfällt,
Wie ein Strahl des Lichts aus der bessern Welt;
Und tritt auch die Schöpfung aus ihren Schranken,
Der Glaube an Liebe soll nimmer wanken.

Drum flüstert ihr Worte der Liebe so süß
Wie Zephirswehen im Paradies!
Drum klingt im Herzen noch nah und fern!
Drum, Worte der Liebe, drum trau' ich euch gern.
Und wenn im Leben nichts Heiliges bliebe,
Ich will nicht verzagen, ich glaube an Liebe.


 Enigma antwortete am 06.02.05 (19:54):

Michael Augustin
Über Gedichte

Gedichte
werden nicht geschrieben,
Gedichte
ereignen sich.

Gedichte
gab es schon
bevor es Dichter gab.

Gedichte
sind zerkratzte
Fensterscheiben.

Gedichte
sind kompostierbar
und sollten daher
auf gar keinen Fall
verbrannt werden.

Gedichte
sind rund um die Uhr
geöffnet
(selbst die hermetischen).

Gedichte
aus dem Ausland
benötigen keine
Aufenthaltsgenehmigung.
Ein guter Übersetzer
reicht.

Niemand darf
gezwungen werden,
ein Gedicht zu lesen
oder gar eines zu schreiben.

Gedichte
haften nicht
für ihren Verfasser.

Gedichte
lesen keine Gedichte

Gedichte
können jederzeit
gegen andere Gedichte
eingetauscht werden.

Internet-Tipp: https://www.zeit.de/archiv/2001/28/200128_ka-gedicht-.xml


 marie2 antwortete am 06.02.05 (21:57):

Enigma, Dein letztes Gedicht ließ mich in meiner Sammlung blättern. Hier der erste Fund.

gedicht von gedichten

ein gedicht
das nicht zu begreifen ist
möchte vielleicht betastet sein

ein gedicht
das nicht zu betasten ist
möchte vielleicht betreten sein

ein gedicht
das nicht zu betreten ist
möchte vielleicht betrachtet sein

ein gedicht
das nicht zu betrachten ist
möchte vielleicht begriffen sein

-Kurt Marti-


 Enigma antwortete am 07.02.05 (15:05):

Das ist auch sehr schön, Marie...

Aber jetzt wieder etwas ganz anderes:

Johannes Trojan
Das verzeifelte Flaschenkind

Da lieg`ich nun und schrei mich matt,
keine Menschenseel` erwacht.
Wie ist das Leben so schal und leer!
Ich hab`es mir anders gedacht.
Man hat mich getauft, ich weiß nicht wie,
man hat mich geimpft sogar,
obgleich ich gegen das Taufen sowohl
wie gegen das Impfen war.

Drei silberne Löffel, die sind mein,
all mein Vermögen bis jetzt,
wer weiß aber, wo die heut`schon sind -
sie sind gewiß schon versetzt!
Nur Milch bekomm`ich, und nichts als Milch,
ich mag sie schon gar nicht mehr.
Keine Abwechslung im Ernährungsgang,
niemals der kleinste Likör!

Nur Milch, nur Milch und nichts als Milch,
niemals ein and`res Getränk!
Und die Masern steh`n mir auch noch bevor,
mich schaudert, wenn ich dran denk`!
Und dieselbe Umgebung, blöd`und stumpf,
glotzt Tag für Tag mich an.
Davonlaufen möcht`ich! Wehe mir,
daß ich noch nicht laufen kann!
Das Leben ist, ich merk`es schon,
ein ewiges Einerlei:
Man wird naß und wieder trocken gelegt -
O wär`erst alles vorbei!


 yankee antwortete am 08.02.05 (15:42):

Marianne Willemer

Was bedeutet die Bewegung

Was bedeutet die Bewegung
Bringt der Ostwind frohe Kunde?
Seiner Schwingen frische Regung
Kühlt des Herzens tiefe Wunde.

Kosend spielt er mit dem Staube,
Jagt ihn auf in leichten Wölkchen,
Treibt zur sichern Rebenlaube
Der Insekten frohes Völkchen.

Lindert sanft der Sonne Glühen,
Kühlt auch mir die heißen Wangen,
Küßt die Reben noch im Fliehen
Die auf Feld und Hügel prangen.

Und mich soll sein leises Flüstern
Von dem Freunde lieblich grüßen,
Eh noch diese Hügel düstern
Sitz ich still zu seinen Füßen.

Und du magst nun weiter ziehen,
Diene Frohen und Betrübten,
Dort wo hohe Mauern glühen
Finde ich den Vielgeliebten.

Ach, die wahre Herzenskunde,
Liebeshauch, erfrischtes Leben
Wird mir nur aus seinem Munde,
Kann mir nur sein Athem geben.


 Enigma antwortete am 09.02.05 (10:06):

Fastenzeit

Wer Sorgen hat mit dem Gewicht,
der sollte öfter fasten,
um seinen Korpus durch Verzicht
mal sinnvoll zu entlasten.
Erfolg wird hierbei nur erreicht
durch den Entzug von Nahrung.
Die Prozedur ist denkbar leicht,
das weiß ich aus Erfahrung.
Bei Fastenkuren darf man nie
das Wichtigste vergessen:
Zum Hungern braucht man Energie.
Und diese kommt - vom Essen!
(Hanns vom Rhein)


Es gibt nur einen Weg, schlank zu bleiben:
Essen Sie soviel Sie wollen von allem,
was Sie nicht mögen!
Sir Alec Guiness


 DorisW antwortete am 09.02.05 (15:44):

@Enigma antwortete am 01.02.05 (12:34):
"Ja, die Frage (an alle Leser) lautet: Was gehört zu dem vorstehenden Gedicht (ist wirklich nicht schwer....) :-)))"


Leonorens Antwort

Daß man im Lieben nicht auf Reichtum, sondern auf die Vergnügung sehen müsse


Ich liebe nur, was mich vergnügt,
Nicht was mit Golde kirrt;
Mein freies Herz wird nicht besiegt,
Wenn gleich der Beutel schwirrt.
Kein goldner Strick fängt meinen Fuß, kein heller Klang mein Ohr;
Die Redlichkeit
Geht allezeit
Bei mir dem Nutzen vor.

Was hilft es, wenn das Silber blitzt
Und doch der Bräut'gam schielt?
Ein Mann, der stets beim Kasten sitzt
Und in dem Sacke wühlt,
Teilt mit dem Mammon seine Gunst, die bloß der Frau gehört;
Sein Zeitvertreib
Macht, daß das Weib
Oft fremde Götter ehrt.

Kein Reichtum überwiegt das Weh,
Kein Taler hilft der Braut,
Wenn ihr die Zwietracht in der Eh
Zuletzt ein Zuchthaus baut.
Das Ungewitter ist nicht weit, wo gelbe Raben schrein;
Wer wollte nun
So töricht tun
Und ihm zum Schaden frein?

Betörter Mund, ach spare doch
Der Worte frechen Stolz!
Dein Umgang ist mir stets ein Joch,
Du selbst ein Marterholz.
Dies Wörtchen bringt mir deinen Haß, der ficht mich wenig an;
Wie bald stößt mir
Was Bessers für,
Das mich vergnügen kann!

Du aber, den des Himmels Schluß
Dereinst für mich bestimmt,
Magst glauben, daß mein reiner Kuß
Von keiner Geldsucht glimmt.
Nimm also meinen ganzen Schatz, die reine Hand voll Blut!
Ein treues Herz
Ist sonder Scherz
Das beste Heiratsgut.

(Johann Christian Günther)


 Enigma antwortete am 10.02.05 (11:38):

Ja, DorisW, das war es natürlich, Leonoren`s Antwort auf die Vorhaltungen, dass sie berechnend sei.
Da hast Du aber aufmerksam gelesen. Danke!

Franz Grillparzer
Der Minister des Äußern

Der Minister des Äußern
kann sich nicht äußern;
der Minister des Innern
kann sich nicht erinnern;
der Minister des Krieges
ist nicht der des Sieges;
nach dem Minister der Finanzen
muß alles tanzen.

:-))) Ist doch hochaktuell, oder??


 DorisW antwortete am 10.02.05 (11:43):

O komm, meine Herzallerliebste,
Lass uns zum Bodensee fahren.

Lass uns aufbrechen Richtung Alpen,
Lass uns auf der A8 fahren gen Süden,
Auch wenn sie im Radio Staustufe Rot verkünden.
Lass uns durch das Land fahren,
In dem sie alles können außer Hochdeutsch,
Lass uns hinfahren zum Schwäbischen Meer,
Zum Bodensee.
Denn, meine Liebste, wenn es eines gibt,
An dem es uns mangelt,
Eines, das unsere Beziehung braucht,
So ist es doch Konstanz.

(Lars Weisbrod)

Internet-Tipp: https://www.nensch.de/story/2005/1/14/04927/7418


 DorisW antwortete am 10.02.05 (11:45):

Entschuldigung, bei dem eben zitierten Gedicht habe ich ja die - höchst wichtige - Überschrift unterschlagen:

"Ein Liebesgedicht (geschrieben im Geographieunterricht)"


 Enigma antwortete am 10.02.05 (12:02):

...das ist sehr nett...:-))

Jetzt aber mal was "tiefschwarzes" (sorry, für einmal....):

aus: Kabarett: So weit die scharfe Zunge reicht; Scherz-Verlag, 64
Arthur Pserhofer
Die Herzlose

Sie war bedacht mit allen Gaben,
mit Schönheit, Geist und Witz - allein,
wo andre ihre Herzen haben,
da saß bei ihr ein großer Stein.
Sie glaubte nicht an reine Neigung,
sie leugnete der Liebe Macht,
und über jede Gunstbezeugung
hat unbarmherzig sie gelacht.
"Nur der", so rief sie einst beim Plaudern,
"könnt`brechen meinen Widerstand,
der unverzüglich, ohne Zaudern,
mir opfern würde seine Hand."
Als tags darauf ein Jüngling, schaurig,
mit abgehau`ner Hand erscheint,
sagt lächelnd sie zu ihm: "Wie traurig"-
Ich hab die andere gemeint." :-(((


 DorisW antwortete am 10.02.05 (14:47):

Stark :-)


 Enigma antwortete am 11.02.05 (08:30):

Hallo DorisW,

für Dein schönes "Konstanz"-Gedicht ist der Ausdruck "nett" viel zu schwach. Eigentlich meinte ich, dass es ein witziges Wortspiel ist.

Friedrich von Logau
Die gute Diät

Charlotte hatte ihrem Arzt gesagt,
daß ihr das Liebeswerk des Morgens sehr behagt,
allein gesünder sei`s, des Abends es zu pflegen.
Nun will sie aber mit Bedacht
es täglich zweimal tun;
des Morgens, weil`s Vergnügen macht,
des Abends der Gesundheit wegen. :-)))


 Enigma antwortete am 13.02.05 (10:48):

Sorry, ich hoffe sehr, dass die Wortverstümmelungen dank dem Rat von Karl nun vorbei sind.
Ich pobiere nochmal, etwas zu posten:

Heidelinde Prüger
Affenliebe

wir sind beide
voller viren,
wir sind beide
voller bugs
wir leben
ohne überspannungsschutz
und back-ups,
benutzerfeindlich,
full of bites
wir sind
die risse in der firewall,
durch die das licht fällt
wenn man uns anclickt,
poassiert vielleicht nichts
manchmal
vergessen wir
unser eigenes passwort
und träumen von F1
in sechzig monaten
kosten wir vielleicht
nur noch die hälfte
nichts
als die auflösung
ist perfekt
aber:
deine Hardware
ohne meine software?
deine software
ohne meine hardware?
ich sage dir:
auch wenn wir
der schwere
ausnahmefehler sind,
im sektor mensch,
wir haben noch immer,
zum ewigen neustart,
den affengriff
der liebe

Internet-Tipp: https://www.brindin.com/pgpruaff.htm


 pilli antwortete am 20.02.05 (00:05):

worte

wenn meinen worten die silben ausfallen vor müdigkeit
und dann die dummen fehler beginnen
wenn ich einschlafen will
und nicht mehr wach sein zur täglichen trauer
um das was geschieht in der welt
und was ich nicht verhindern kann
beginnt da und dort ein wort sich zu putzen und leise zu summen
und ein halber gedanke kämmt sich und sucht einen andern
der vielleicht eben noch an etwas gewürgt hat
was er nicht schlucken konnte
doch jetzt sich umsieht
und den halben gedanken an der hand nimmt und sagt zu ihm:

komm

und dann fliegen einige von den müden worten
und einige schreibfehler die über sich selber lachen
mit oder ohne die halben und ganzen gedanken
aus dem ganzen elend über fluß und häuser und straßen
immer wieder hinüber zur selben stelle
und morgens wenn du die stufen hinuntergehst zur tür
und stehenbleibst und aufmerksam wirst und hinsiehst
kannst du sie sitzen sehen oder auch flattern hören ein wenig
verfroren und vielleicht noch ein wenig verloren
und immer ganz dumm vor glück daß sie wirklich bei dir sind

(Erich Fried)


 marie2 antwortete am 20.02.05 (00:13):

Logos

Das Wort ist mein Schwert
und das Wort beschwert mich

Das Wort ist mein Schild
und das Wort schilt mich

Das Wort ist fest
und das Wort ist lose

Das Wort ist mein Fest
und das Wort ist mein Los

Erich Fried:


 Enigma antwortete am 20.02.05 (08:58):

Elisabeth Borchers
Vom Morgen zum Abend

Am Morgen
lerne ichzunächst
das Kapitel vom Hören und Sehen,
dann das Kapitel vom Nehmen und Geben,
und schließlich das Kapitel
vom Lesen und Schreiben.

Ich kontrolliere den Stand der Wörter,
notiere Verlust und Gewinn,
Überfluß und Bedürfnis.
Ich bin in Erwartung.
Erwarte NieDaGewesenes,
(Erst gestern entdeckte ich
in einem Gedicht <<ein Fugzeug
aus Mann und Frau>>.)

Am Abend rekapituliere ich
das Abnehmen der Kräfte
und die Lektion der alten Meister,
nicht oft genug könne die Sonne aufgehen,
und purpurn sei sie zu nennen.
Königlicher Mantel
aus Arm und Reich.

Internet-Tipp: https://www.aphoristik.de/dichter/Borchers_Elisabeth.htm


 marie2 antwortete am 21.02.05 (19:25):

Ein Gedicht
für dich?
So einfach ist das
nicht. Jetzt
wo du wirklich da bist.
Kein Mann: mein Wort
Mein Mann: kein Wort
Gingest du fort so
fort gäb es wieder ein Wort
für Wort und eines
das andere.
Bleib!
Ich versprech dir
dich nie zu zer
reib
en
zwischen den Zei
len
in
ein Gedicht
für dich
sind sie alle.


Ulla Hahn
Aus: So offen die Welt


 Enigma antwortete am 22.02.05 (10:39):

Johannes Kühn
Nun mit den Raben

Nun mit den Raben am Tisch des Lands und klagend,
sie nach Brot,
ich nach Freundschaft.

Gestorben ist die Zeit,
wo wir uns fanden,
ein Schönes anzuloben,
Tag oder Fest,
ein Mädchen,
ein neues Lied,
das in Siegsfahrt
durchs Land zog.

Es hat sich der Winter eingenistet
in Aug und Mund.
Er knechtet den Garten,
in dem wir sonst saßen,
und wo der Abendstern
gut in unsere Mitte kam.

Wissend,
daß das Alter uns weiter ändert ins Unglück,
wissend,
daß der heißeste Atem wegstirbt am rötesten Mund,
bettle ich,
stumm geworden, an keinem Himmel.

Internet-Tipp: https://www.tholey.de/johannes-kuehn/gedichte_1.php?id=7


 Enigma antwortete am 03.03.05 (09:16):


Thekla Lingen
(1866-1931)



An die Männer

Ich will nicht eure Hose
Und will nicht euren Hut,
Ich trage meine Schleppe,
Sie kleidet mich auch gut.

Ich will nicht eure Ämter
Und will nicht eure Kraft,
Nicht eure Titel und Würden
Noch eure Kriegerschaft.

Ich geb' euch meinen Herd nicht,
Ich wirke und schaffe gern,
Und geb' euch meinen Gott nicht,
Erhabene Schöpfungsherrn.

Auch geb' ich nicht mein Kindlein,
Das ich in Schmerz gebar,
Nicht all' die bangen Sorgen,
Bis gross und stark es war.

Doch gebt mir frei das Leben
Und lasst mich's nahe sehn,
Zwingt mich nicht, scheu und schämig
An ihm vorbeizugehn.

Und gebt mir frei zu wissen,
So viel ich will und kann,
Des Lernens Glück zu kosten
So gut gleich wie ein Mann.

Lasst mich nicht Mensch erst werden
Durch euren Ehering -
In seiner goldenen Fessel
Sich manch ein Leben fing ...


 pilli antwortete am 04.03.05 (13:14):

Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß wie Wolken schmecken.
Der wird im Mondschein,
ungestört von Furcht,
die Nacht entdecken.

Der wird zur Pflanze wenn er will,
zum Tier, zum Narr, zum Weisen.
Und kann in einer Stunde,
durchs ganze Weltall reisen.

Der weiß, dass er nichts weiß,
wie alle Anderen auch nichts wissen.
Nur weiß er, was die Anderen,
und er noch lernen müssen.

Wer in sich fremde Ufer spürt,
und Mut hat sich zu recken,
der wird im Mondschein,
ungestört von Furcht,
sich selbst entdecken.

Abwärts, zu den Gipfeln
seiner selbst blickt er hinauf.
Den Kampf mit seiner Unterwelt,
nimmt er gelassen auf.

Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß wie Wolken schmecken.
Der wird im Mondschein,
ungestört von Furcht,
die Nacht entdecken.

Wer mit sich selbst in Frieden lebt,
der wird genauso sterben,
und ist selbst dann lebendiger,
als alle seine Erben.

Novalis


 Enigma antwortete am 05.03.05 (08:30):

Miriam Frances
Du kannst mein Haus mit roter Farbe streichen...

Du kannst mein Haus mit roter Farbe streichen,
wenn dir danach zumute ist.
Du kannst in meinem Garten alle Wiesen bleichen
und Disteln pflanzen, wenn du traurig bist.
Du kannst mit meinen Händen Karten spielen
und meiner Küche in die Töpfe sehn.
Du kannst nach fremden Regenbogen schielen
und wie November auf die Nerven gehn
und "Miriam ist doof" auf alle Mauern schreiben
und Herzen ritzen in den Gartenzaun
und es so bunt wie Wundertüten treiben
und einen Tag aus dem Kalender klaun.
Und wenn du magst, im Juni Weihnachtslieder singen,
weil es im Winter jeder tut.
Und meinen Garten auf die Palme bringen
und überschnappen wie die größte Flut.
Du kannst aus Mücken Elefanten machen,
wenn wir an Elefanten liegt.
Und du kannst jedes Lachen lachen,
bei dem sich auch das Herz mit biegt
und lauter ungereimte Sachen sagen
und nur mit einem Bein fest auf der Erde stehn.
Und wenn du willst, drei rosa Brillen tragen.

Doch du kannst nicht an mir vorübergehn!