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THEMA:   Erzählen im Alter

 7 Antwort(en).

iustitia begann die Diskussion am 18.03.05 (09:38) :

Burkhard Müller: Erzählen

�Eloquentia Senilis� flüstert sie in die Runde,
alle hören es außer der alten Dame,
Die erzählt tatsächlich ohne Punkt und Komma aus ihrem Leben
Und scheint sich dabei sehr wohl zu fühlen.

Eloquentia senilis�, zu deutsch: Alters-Geschwätzigkeit.
Das klingt nach sachkundiger ärztlicher Diagnose, ist aber in Wirklichkeit peinlicher Spott einer arroganten Zicke, die von dieser alten Frau nun aber auch gar nichts versteht.

Die lebt in ihrer Wohnung allein.
Sie hat dort keinerlei �Ansprache�, wie man sagt.
Aber ihr relativ wacher Geist macht sich reichlich Gedanken.
Der Kopf ist prall voll davon.
Heute endlich kann es raus.
Kolleginnen aus der alten Firma sind zu ihrem 75 Geburtstag gekommen.
Dass die Gäste einfach da sind und ihr zuhören, ist das größte Geburtstagsgeschenk,
wichtiger als der vom Firmenchef bezahlte Blumenstrauß.

Ich habe als Pfarrer oft die Gelegenheit gehabt, alten Menschen zuzuhören, die ohne Punkt und Komma sprudelnd redeten. Ich hab das als Chance und besonderes Vorrecht meines Berufes erlebt.

Ganze Romane wurden mir erzählt
Ich bekam dadurch Anteil an ihrem Leben.
Das, was meine jüngeren Augen gesehen haben, wurde erweitert durch die Sicht von zwei weiteren Augen.
�Gedenket der vorigen Zeiten.� sagt die Bibel.
Und beauftragt an anderer Stelle die Älteren ausdrücklich, ihre Erfahrungen, besonders auch die des Glaubens, weiterzuerzählen �Wenn dich dein Kind fragt..�

Meine Eltern sind schon lange verstorben.
Ich habe sie nie ernsthaft befragt, wie es denn war, damals, im Krieg und nach dem Krieg.
Heute bedaure ich das sehr.
Aber nun ist es zu spät.
Ein japanisches Sprichwort sagt: �Wenn ein Mensch stirbt, verbrennt eine ganze Bibliothek�.

Allen, die noch Eltern oder Großeltern, Onkel oder Tanten haben,
möchte ich dringend raten: fragt sie, fragt sie aus.
Fragt nach schönen und schweren Erlebnissen,
danach, wie sie sich verliebt haben,
wie das erste Kind geboren wurde,
wie es war mit dem Krieg und der Flucht,
wie es war mit Adenauer, mit Willy Brandt, mit der Kubakrise.

Und was habt ihr in der Freizeit gemacht,
ohne Fernsehen und Computer?
Gab es damals auch schon so etwas wie midlife-krisis.
Überhaupt: Wie habt ihr eure Krisen gemeistert?
Vielleicht können wir bei euch lernen.

Und stimmt das: Not lehrt beten?
Erzähl von deiner Konfirmation oder Firmung!
Hast du früher geglaubt, hat sich dein Glauben gegenüber früher verändert und warum?
Gibt es einen Bibelspruch, der dir einmal sehr geholfen hat?

Unsere Kultur und unsere Religion sind eine große Schatztruhe,
gefüllt mit vielen kostbaren Geschichten und Erzählungen,
die Menschen im Verlauf vieler Jahrhunderte hineingelegt haben.
Und vielleicht wird auch das zu einem kostbaren Schatz, was Ältere den Jüngeren als ihre Lebenserfahrung erzählten..
Die Bibel hat Gutes mit uns im Sinn mit ihrem Wort:
�Gedenket der vorigen Zeiten!�
*
Ein Beitrag für "Kirche in WDR 5" (Sendedatum: 18.03.05) von Pfarrer Müller (Bonn)
*
URL - über Pfarrer Müller, der auch beim "Wort zu Sonntag" spricht.

Internet-Tipp: https://www.daserste.de/wort/50wortensteht.asp


 Marina antwortete am 18.03.05 (11:36):

Danke für diesen guten Text, eine Predigt gegen Altersrassismus. Scheint gut zu sein, dieser Pfarrer Müller. Passt auch zu der Frage von Felix in einem anderen thread über das Aufheben von Erinnerungen.


 Enigma antwortete am 18.03.05 (18:25):

Hallo iustitia,

kann es sein, dass der genannte Pfarrer Müller in dieser Woche die "Morgenandacht" im WDR2 gehalten hat? Zu dieser Zeit bin ich oft schon - gerade - wach und höre sie mir an. Aber in dieser Woche fand ich sie absolut ungewöhnlich, von Text und Rhetorik her, so dass ich sie schon morgens nach dem Erwachen fast erwartet habe. Von dem von Dir eingestellten Text her meine ich auch, sicher zu sein, dass es der genannte Pfarrer war.
Wenn ja, gehört er für mich zu den Menschen, die andere Menschen berühren und Wesentliches sagen können.
Wie sich aus dem von Dir eingestellten Text ergibt!
Danke
Enigma


 iustitia antwortete am 18.03.05 (23:44):

Der Text war ja von heute, dem 18.3.05...
Die Wortsendungen dieser Woche - von Müller - sind im wdr nachzulessen.

Internet-Tipp: https://www.kirchezumhoeren.de/


 Enigma antwortete am 19.03.05 (09:07):

Guten Morgen,

@iustitia
mich hatte nur die Angabe "WDR5" irritiert, weil ich meinte, den gleichen Beitrag auf WDR2 gehört zu haben.
Aber das ist ja auch möglich, wie aus Deinem Link ersichtlich ist. Nur mit dem Unterschied, dass "Kirche im WDR5" ca. 1 Stunde später kommt.
Aber durch deine URL habe ich dann auch den nachfolgenden Beitrag vom 15.3.2005 gefunden, den ich auch sehr gut fand:

Forever Young?


Kirche in WDR 2

Sendedatum: 15.03.05

Autor: Burkhard Müller

Titel: Forever Young?

�Warum nicht Jogging und Muskeltraining?
Warum sich nicht jugendfroh bunt kleiden, sich geschickt schminken und ein gutes Parfum gebrauchen?
Warum nicht?

Warum nicht Salben und Cremes zur Pflege der Haut,
und Gurkenmaske aufs Gesicht
und bunte Farbe ins Haar?

Warum nicht die Brust vergrößern,
das Lippenvolumen erhöhen,
Falten unterspritzen,
Fett absaugen?

Aber Achtung!
Schnell wird der Kampf um die Jugend und Schönheit zum Krampf.
Wie viel Angst steckt darin? Und wird man sie so wirklich los?
Wie viel verzweifeltes Bemühen um Anerkennung? Gewinnt man sie so wirklich?
Die gesellschaftlichen Leitsterne Schönheit und Jugend setzen viele schon sehr früh unter Druck.
Darum ist Altern kein Problem erst der alten Leute.
Mancher entdeckt schmerzhaft mit 30, mit 40 oder 50 Anzeichen des Alters, die ihn erschrecken.
Man muss was gegen das Alter tun, denkt man
und weiß doch, dass man diesen Kampf letzten Endes verlieren wird.

Von Kindesbeinen an begleitet uns die Vergänglichkeit des Lebens:
Der Kanarienvogel, der eines Morgens tot im Käfig liegt...
Der Schulfreund, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt...
Die Großeltern zuerst, und dann auch die Eltern, die sterben...:
Niemand geht unvorbereitet in Alter und Tod.

Ein Psalmvers lautet:
Gott, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen,
auf dass wir klug werden.
Aber was ist die Klugheit, die daraus folgt?

Ein Bodybildner gibt den Tipp:
�Legen Sie sich einen Muskelpanzer gegen das Alter an�.
Andere machen einen Panzer um die Seele, um das Alter nicht an sich herankommen zu lassen.

Viele kämpfen mit allen Mitteln gegen das Altern an.
Mit großen Hoffnungen beginnt man den Kampf.
Ein Bestseller-Titel verheißt Unmögliches:
Forever young

Aber das Alter kommt in jedem Fall, früher oder später.
Darum ist es gut, sich mit dem Gedanken ans Alter anzufreunden, dass man locker und relativ angstfrei darauf zugehen kann.
Ein dickes Stück Gelassenheit würde uns geschenkt, wenn wir das Gotteswort auf uns beziehne würden:
�Bis in euer Alter will ich euch tragen
und bis ihr grau werdet.�.

Kann man klug werden durch Todesbewusstsein?
Eine Krebskranke, nun geheilt, sagt:
Seitdem ich die Todesgefahr erlebt habe, lebe ich anders.
Ich kann das Leben ganz anders genießen.
Ich nehme jeden Tag als Geschenk,
ich bin dankbarer als vorher und glücklicher.

Vielleicht sollte man - wie diese Frau - die eigene Vergänglichkeit bewusst wahrnehmen.
Das könnte uns für die Tage, die uns jetzt geschenkt sind, dankbarer machen.
Das könnte uns aufmerksamer machen für die Welt um uns herum.
Daraus könnten Trainingszeiten im Glücklichsein werden.
Und mit diesem Training fürs Alter könnte man schon mit zwanzig anfangen.


 schorsch antwortete am 19.03.05 (09:23):

Als ich jung war, interessierte mich die Geschichte meiner Eltern wenig - und als sie mich interessierte, war es zu spät, zu fragen.....

....heute merke ich, dass mir die Wurzeln fehlen......


 Marina antwortete am 19.03.05 (10:38):

Auch dieser Text hier hat mir sehr gut getan, danke Enigma. Dieser Pfarrer hat eine sehr sensible, einfühlsame Art und versteht es, ohne zu missionieren und ohne Pathos seine Botschaft "rüberzubringen", das ist nicht so selbstverständlich. Und was mir bei beiden Texten wieder außerdem auffällt: dass es doch sehr viel Weisheit in der Bibel gibt, von der man einiges lernen kann, auch wenn man nicht fromm ist.
Ja Schorsch, die Geschichte mit den Wurzeln ist wichtig. Es gibt viele Leute, die da eine Lücke feststellen, die sie meistens nur unbewusst empfinden. Ich hatte das Glück, dass meine Eltern lange lebten und ich viele Erinnerungsstücke, sogar ein Heft meines Vaters mit aufgeschriebenen Erinnerungen,habe. Das weiß ich aber auch erst jetzt zu schätzen, nachdem sie einige Jahre tot sind, früher habe ich das kaum gewürdigt.


 hugo1 antwortete am 19.03.05 (10:45):

hallo schorsch, du schreibst: "Als ich jung war, interessierte mich die Geschichte meiner Eltern wenig..."
Da musst Du ja eine abwechselungsreiche, unterhaltsame Jugend gehabt haben.
Kurz nach dem Krieg, nach der Aus-, bzw. Umsiedelung hatten wir gemeinsam mit den Grosseltern, den Tanten der Mutter, der Schwester,,nur ein Wohnzimmer.Darin ein Herd ein Schrank ein Kanonenofen und ein Riesengroßer alter Tisch mit Korbgeflechtstühlen herum.
Die Tischbeine waren durch ein stabiles Balkenkreuz miteinender verbunden und versteift. Eine weit überreichende Tischdecke sorgte dafür, dass ich unter diesem Tisch stundenlang unbeobachtet sitzen und zuhören konnte, was sich die Erwachsenen zu erzählen hatten.
Besonders wach blieb ich, wenn mal wieder ein Nachbar oder alter Bekannter aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam und abends stundenlang von seiner Odyssee erzählte.
Wir hatten weder Zeitung, noch Radio noch Fernsehen und die erzählten Geschichte, Erlebnisse der Erwachsenen (Ein Urgroßvater war 1871 geboren und lebte bis 1958
Eine Ur-Großmutter war sogar schon 1862 geboren und lebte ebenfalls bis 1958) Ist doch klar das da von Dingen, Begebenheiten, Erfahrungen, Erlebnissen erzählt wurde die bis zu großen Hungersnöten z.B. dem Kohlrübenwinter 1916/17 ja sogar zum Deutsch Fanzösischem Krieg 1870/71 zurückreichen. Sowie von Begebenheiten die deren Großeltern erzählten die weitere 50 Jahre zurücklagen.
Etwas später begann ich Bücher zu lesen und damit erlosch leider fast schlagartig das Bedürfnis nach den Erzählungen meiner Vorfahren. Bücher waren eine neue Welt für mich eine total andere Erfahrung, mit all dem Wissenswertem, all den Träumen die sie entfachten und vom Gegenwärtigem ablenken. (zumindest war dies damals so und so sehe ich dies im Rückblick)