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THEMA:   Kurzprosa

 12 Antwort(en).

Enigma begann die Diskussion am 23.11.05 (07:44) :

�Ich sehe vor mich oder hinter mich;
Ich fühle den Tod alle Zeit um mich.
(Revaler Totentanz)

Zu diesem Tanze rufe ich insgemein
Die Kreaturen allzumal:
Arm, Reich, Groß und Klein,
Papst, Kaiser, König und Kardinal.
(Revaler Totentanz)



Abschied

Es ist spät geworden, und die Flasche ist leer. Groß steht die Nacht vor den Fenstern. Der Wind hat die letzten Blätter von den Zweigen gerissen. Die Kälte tropft silberfarben nieder durch die kahlen Äste. Der Wind ist still geworden, die Wolken hat er davongetrieben. Der Orion funkelt.
In der Stadt, von der ich dir erzählt habe, liegt wohl schon der Schnee. Die nadelscharfen Spitzen der schlanken Türme, die altväterischen Giebel und Dächer, die grauen Festungswerke sind weiß wie Salz. Die Ecken füllen sich aus, die Mauervorsprünge, die schroff abgesetzten Treppengiebel glätten sich, der dicke, weiße Schnee nimmt allen Konturen die Schärfe. Alles rundet sich, alles wird weich. Die Menschen holen ihre Pelze hervor, die Schlittenglocken klingen. Es ist, als dämpfe der Schnee alle Laute. Sind es denn Schlittenglocken? Ist es Totengeläut? Vielleicht klingen auch Gläser aneinander oder winzige Narrenschellen.
Es ist vieles anders geworden in Reval wie in dem ganzen Lande zwischen Narowa und dem Memelstrom. Uns aber, die wir keine Scheu haben, unser Herz an die vergangenen und unterlegenen Dinge zu hängen - da ja den gegenwärtigen und siegreichen ohnehin so viele Neigungen sich zuwenden -, uns ist es ein Trost, daß noch immer die alten Linden um St. Nikolai stehen und die alten Eichen um die Grabmäler von Ziegelskoppel, daß noch immer die Revaler Türme sich zu den Wolken heben und zu den unverletzten Gestirnen; daß die alten Grabstätten noch da sind, die Kreuze und die Obelisken, und immer noch unter ihnen die Gebeine der gleichen Toten liegen. Immer noch ist es das gleiche unzählbare Volk, und alle, alle, werden sich zu ihm gesellen: die Erben der alten Herrschaft, die hurtigen Neuerer und die nach ihnen kommen.; alle, alle werden sie in die Erde gelangen, wie du und ich.

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 23.11.05 (07:46):

Fortsetzung!


Der Tod ist ein großer Trost. Er macht, dass niemand sich zu fürchten braucht. Wir werden einmal unsern Tod sterben, ein jeder in seiner Art und zu seiner Stunde.; darum darf unser Herz nicht schwer sein. Wer in Reval war, der wird den Tod nicht mehr fürchten mögen. Und wir wollen den Tod lieb haben, gleichwie wir die Stadt lieb haben.
Und nun magst du mir einwenden, es habe alles, was ich zu Anfang von der Revaler Nachbarschaft des Lebens und des Todes sagte, seine Richtigkeit nicht, sondern es behaupte seinen Platz nur in den Dämmergespinsten eines Herzens, das ja allen wunderlichen Grillen sich offen halte.
Vielleicht hast du recht. Allein ich will ja lieber an solche Dämmergespinste glauben als an Gesetzesbücher und Tabellen, an Berechnungen und Proklamationen. Ich bin ein Narr,und du, der du mir hast zuhören und mit mir trinken mögen, du wirst meiner Narrheit einiges zugute halten, obzwar, fürchte ich, nicht übermäßig viel. Hierin verfahre, wie es dir gefällt. Ich will nicht trachten, dich zu überreden. Mir aber wirst du erlauben, bei dem Meinigen zu bleiben, selbst wenn ich keine andere Rechtfertigung haben sollte als diese, daß durch manche Jahrhunderte hin eine Reihe meiner Vorfahren in Revaler Kirchen und auf Revaler Friedhöfen die Ruhe erlangt hat.; vielleicht kann keine bündigere Rechtfertigung erdacht werden.
Und nun lasse mich die letzten Tropfen der Flasche hinaussprengen in die Nacht als ein Opfer für die noch Unruhigen, ein Gedächtnis für die, welche zu ihrer Ruhe gekommen sind.
Requiem aeternam dona eis, Domine. Et lux perpetua luceat eis.�


Aus:
Werner Bergengruen
Der Tod von Reval
Kuriose Geschichten aus einer alten Stadt
Fischer-Bücherei


 schorsch antwortete am 23.11.05 (10:51):

Draussen schneits

ich ziehe den Kopf ein

drin

mich frierts

mich schauderts


 seniorin antwortete am 23.11.05 (11:29):

"Der Tod von Reval"

Hat er sich vertan -
und meinte eigentlich 'Tod d u r c h Reval"?


 Enigma antwortete am 23.11.05 (13:27):

:-))

@seniorin
Meinst du, dass es die damals schon gab?
Aber Reemtsma ist ja auch schon ziemlich alt!

Es gibt noch eine nette und kurze Legende zu Reval/Tallin:

�Jeden Herbst kommt an einem dunklen Abend ein alter Mann vom nahen Ülemiste-See und fragt am Stadttor an, ob Tallinn denn nun fertig sei. Doch seit alters her besteht die Weisung, ihm zu antworten, das Stadtbild sei noch längst nicht vollendet; es müsse noch vieles gebaut werden und dürfte noch Jahre dauern, bis Tallinn komplett sei. Der Mann schüttelt dann den Kopf, murmelt Unverständliches und schlurft missgelaunt zu seinem See zurück. Das ist gut, denn andernfalls, so glaubt man zu wissen, würde der garstige Greis das Wasser des Sees ins Tal und über Tallinn jagen und alles und jeden darin ertränken.�

Aber Ertrinken wäre kein schöner Tod. Nicht so einer, wie Bergengruen ihn zu meinen scheint.


 kropka antwortete am 23.11.05 (21:11):

DAS LEERE BLATT

Das, was du jetzt in der Hand hältst, ist beinah weiß,
aber nicht ganz; etwas ganz Weißes gibt es nicht;
es ist glatt, hart, zäh, dünn, und für gewöhnlich
knistert es, fließt, knirscht, reißt, beinah geruchlos;
und so wie es ist, bleibt es nicht; es bedeckt sich
mit Lügen, saugt alle Schrecken auf, alle Widersprüche,
Träume, Ängste, Künste, Tränen, Begierden;
bis sie getrocknet sind, vergilbt, stockig, grau;
bis es aufweicht, im Regen, zerfällt, im Müll,
immer weniger wird; nur das beste vielleicht
- an dem vielleicht das, was keiner geschrieben hat,
das Beste ist: ein Fisch, ein Salzfaß, ein Stern,
ein Einhorn, ein Elefant oder ein Ochsenkopf,
Zeichen des Heiligen Lukas; das, was erscheint,
wenn du es gegen das Licht hältst � hält,
vielleicht, tausend Jahre, oder noch eine Minute.

Hans Magnus Enzensberger


 seniorin antwortete am 24.11.05 (05:41):

"Aber Ertrinken wäre kein schöner Tod."
Vielleicht doch manchmal, Enigma?
Lies:



* ertrunken *


Gleich unterhalb der Wasseroberfläche kann man noch denken, falls man nicht aus zu großer Höhe gesprungen ist. Und man stellt fest: wenn du untergehen sollst, hilft es dir auch nicht, schwimmen gelernt zu haben. Hat man bei allem noch Glück, entwickeln sich die wedelnden Arme zu zarten Flossen und die Beine zu einem rudernden Fischleib. Was du immer schon wolltest: dein Körper erinnert jetzt an einen Ritter mit silberner Rüstung, den man nicht mehr verletzen kann. Um dich herum blubbern gläserne Wasserbläschen und steigen nach oben, von wo du kommst. Hier herrscht noch Helligkeit. Ein rosa Wesen mit rundem Mäulchen und neugierigen Augen schlüpft an dir vorbei und verschwindet in Gräsern, die durch das windbewegte Wasser hin und her schwingen.

Das alles fand ich in Ordnung, erträglich und eigentlich fast interessant. Ich fragte mich, was die Haie wohl von mir hielten, wenn ich dann in südlichere Gewässer treiben würde -, und ob ich wie Jonas meine Reise in einem Walfisch-Bauch beenden müßte. Tiefer in diesem bekannt-unbekannten Element wurde es dunkler, mehr und mehr große Steine lagen im Weg, ein altes Holzboot war von Algen besetzt -, es trug die Aufschrift <Syrenna>. Mag sein, daß ich mich jetzt in der Adria befand. Ich tauchte auf in einen warmen Bereich des Wassers, in eine hellere Zone, sog oberhalb einige Kiemen voll Luft ein und sah mich dabei gegenüber einer jugoslawischen Stadt, die mir bekannt vorkam. Ich beschloß, in dieser Gegend zu bleiben, und schoß wieder in die Tiefe. Bunte Korallen winkten mir freundlich zu, und ganz unten wollte mir eine Muschel ihre Perle schenken. Sie habe sich verschwommen und brauche den Schmuck nicht mehr. Ich dankte ihr und erwiderte, daß irgendwo in meinem verlassenen Menschsein noch viele solcher Perlen herumliegen müßten, so sie sich nicht in Tränen verwandelt haben. Ach, meinte die Muschel, über Selbstmörder weint keiner. Dann wurde sie verdeckt von einem Schwarm vorwitziger Fischkinder, die die Perle zum Spielen mitnahmen.


---------------------------------------------------------
(hier eingesetzt
mit freundlicher Genehmigung des Verfassers,
der nicht genannt werden möchte)


 Enigma antwortete am 24.11.05 (11:33):

Ja, so einen Traum lasse ich mir gefallen. :-)

Aber jetzt noch mehr vom Wasser bzw. vom Wassermann:

Paula Dehmel
Vom Wassermann

Die Eltern und Onkel Joachim waren gestern in die Stadt gefahren, und ich war mit Line allein zu Haus.
Ich weiß, daß ich nicht rudern soll, wenn kein Großer dabei ist; aber die Luft war so schön warm, und ich wollte doch gern.
Dorkas lag noch an der Kette, obgleich es schon dunkel wurde; ich machte ihn los und ging mit ihm durch den Garten, ganz leise, damit Line es nicht merkte. Dorkas verstand das auch und war ganz artig.
Wir gingen den Weg zum See. Das Wasser war still, als ob es schliefe; die Bäume bewegten sich kein bißchen.
Ich sprach leise mit Dorkas, und wir kletterten beide still ins Boot. Bange war mir doch, als ich's vom Haken losmachte und die Ruder ins Wasser tauchte. Es war aber hübsch, wie silbrig die schwarzen Wellen dabei wurden.
Der Mond kam nun auch groß und rot hinter den Bäumen vor und guckte uns zornig an. Plötzlich mußte ich an den Wassermann denken, der vor vielen hundert Jahren hier im See verzaubert gewesen ist, lange, lange, weil er gegen den lieben Gott mit seiner Macht geprahlt hatte. Line hat mir neulich das Märchen erzählt, und nun fiel's mir wieder ein.
Der sündhafte Wassermann sollte so lange im Sumpf unten bleiben, bis ein junges schönes Mädchen ihn von selber küssen würde, hat Line gesagt. In der Vollmondnacht vor Ostern durfte er den häßlichen Kopf über das Wasser stecken. Er hatte viel Gold und Perlen im Grunde des Sees; das sollte das Mädchen alles haben, wenn es ihn küssen würde. Aber keine wollte es tun, denn er war häßlich mit seinem großen Froschgesicht; und viele hundert Jahre blieb er unerlöst.
Aber einmal war ein junges schönes Bauernmädchen unten im Dorf, das hatte einen Bräutigam, der war ebenso arm wie sie selber, da konnten sie sich nicht heiraten. Nun wollte das Mädchen ihren Hans mit den Perlen und dem Golde des Wassermannes überraschen und ruderte in der Ostermondnacht hinaus ans den See.

Fortsetzung!


 Enigma antwortete am 24.11.05 (11:37):

Fortsetzung!

Bald sah sie auch den Kopf des Unholds, wie er von unten heraufglotzte. Sie beugte sich über ihr Boot, machte die Augen fest zu und küßte ihn auf den häßlichen breiten Mund. Da fühlte sie einen eiskalten Strom durch ihr Herz � und sah kaum noch, wie der Wassermann als großer Vogel durch die Luft davonflog und Gold und Perlen in ihren Kahn warf.

Erst am Morgen kam sie mit ihren Schätzen ins Dorf zurück. Aber die Leute, die ihr begegneten, entsetzten sich und kannten sie nicht wieder; denn ihr Mund war zu einem breiten Froschmaul geworden.

Ihr Bräutigam ging zu Schiff nach Amerika, und sie hat ihn nie wieder gesehn.

Sie ließ sich ein großes steinernes Haus bauen, die Ruinen am Birkenhang sind noch davon her, und lebte da mit ein paar grauen Katzen bis an ihr Ende. Sie ging nie aus, weil sie sich vor den Menschen schämte; nur in der Vollmondnacht vor Ostern wanderte sie klagend um den See und weinte um ihre verlorene Schönheit und ihr verlorenes Glück. Und so soll sie heute noch wandern . . .

An das traurige Märchen mußte ich denken; und mir war plötzlich, als wenn das Froschgesicht von dem häßlichen Wassermann aus dem See hochsah, und ich hatte große Angst. Ich faßte Dorkas um den Hals und legte mein Gesicht auf sein weiches Fell; dann ruderte ich zurück ans Ufer. Wir gingen gleich nach Hause, und ich setzte mich still hin lesen . . .

Als ich Mutti nachher gute Nacht wünschte, sagte ich ihr ins Ohr, daß ich doch allein auf dem See gerudert hatte, aber daß ich es nie wieder tun wollte.

Von dem Wassermann hab ich ihr aber nichts erzählt.


 eleisa antwortete am 24.11.05 (20:37):

Allein sein.


Verfasser unbekannt

Mädchen im Wald,
heute schläfst du nicht mehr
in einem verwunschenen Schloß
wie einstmals Dornröschen im Märchen.

Du suchst dich selbst
Vor dem Spiegel,
und wie du auf Jungen wirkst,
willst du wissen.

Du schaust dein eigenes Bild an
Und kämmst dir dein Haar
Zum wievielten Mal.
Du kaufst dir hautenge Jeans
Und beklebst dein Zimmer
Mit dem neuesten Poster von ihm,
der in der Hitparade dein Star ist.

Dornröschen von heute,
du wünscht dir so früh schon Verehrer
und willst ,das sie dich mögen.
Aber du musst auch allein sein
Und brauchst deine Zeit
Hinter deiner Dornenhecke
Aus Kühle und Abwehr.
Du brauchst deine zeit
Bis zu dem künftigen Tag,
der dich aufweckt
für dich und für „ihn“.


 kropka antwortete am 30.11.05 (10:15):

Enigma begann die Diskussion am 23.11.05 (07:44) :

�Ich sehe vor mich oder hinter mich;
Ich fühle den Tod alle Zeit um mich.
(Revaler Totentanz)

Zu diesem Tanze rufe ich insgemein
Die Kreaturen allzumal:
Arm, Reich, Groß und Klein,
Papst, Kaiser, König und Kardinal.
(Revaler Totentanz)


und jetzt DANIIL CHARMS:

Fälle

Eines Tages aß
Orlow zuviel
Erbsenpüree und starb.

Und Krylow,
der davon hörte,
starb auch.

Und Spiridonow
starb von allein.

Und
Spiridonows
Frau fiel
vom Büfett und
starb auch.

Und Spiridonows
Kinder ertranken im Teich.

Und Spiridonows
Großmutter geriet
an die Flasche
und wurde Landstreicherin.

Und Michailow
hörte auf, sich zu kämmen,
und bekam die Räude.

Und Kruglow
malte eine Dame
mit einer Knute in
der Hand und
wurde verrückt.

Und
Perechrjostow
erhielt
telegrafisch
400 Rubel und
wurde so hoch-
näsig, dass er aus
dem Dienst flog.

Alles gute Menschen,
die nicht Fuß fassen können.



Danil Charms wurde 1905 in Sankt Petersburg geboren und
war Mitbegründer der avantgardistischen Gruppe OBERIU,
die 1930 verboten wurde. Heute gilt er als Klassiker
der absurden Literatur. Charms wurde 1941 in die Psychiatrie eingewiesen und starb dort 1942.


 kropka antwortete am 30.11.05 (10:19):

und noch einmal

DANIIL CHARMS:

Die herausfallenden alten Frauen

Eine alte Frau fiel vor lauter
Neugier
aus dem Fenster,
schlug auf und
brach sich das Genick.

Aus dem Fenster
lehnte sich eine zweite alte
Frau und schaute zu der
Genickbrüchigen hinunter,
aber vor lauter Neugier
fiel sie auch aus dem
Fenster, schlug auf und
brach sich das Genick.

Dann fiel
die dritte alte
Frau aus
dem Fenster,

dann die vierte,

dann die fünfte.

Als die sechste
alte Frau herausgefallen
war,
hatte ich keine Lust mehr,
ihnen zuzusehen, und ging zum
Malzewski-Markt,
wo, wie man hörte, einem Blinden
ein Wollschal geschenkt
worden war.


 Enigma antwortete am 01.12.05 (07:42):

Hat mir gut gefallen, kropka.


Franz Kafka
Kurzgeschichten
Das Schweigen der Sirenen

Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können:
Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.
Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.
Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.
Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.
Sie aber - schöner als jemals - streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen.
Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.
Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.


Internet-Tipp: https://www.geo.uni-bonn.de/members/pullmann/kafka/index.shtml