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THEMA:   Jude Schönhaus als Passfälscher (kein Roman)

 14 Antwort(en).

Literaturfreund begann die Diskussion am 26.07.06 (12:57) :

Ein autobiografisches Buch von einem jüdischen Leben unter den Nazis, das ich nicht für möglich gehalten hätte:

Der Jude Samson (Rufnamne Cioma) Schönhaus hat seine illegale Arbeit in Berlin, Seine Flucht auf einem Fahrrad quer durch Deutschland – und die glückliche Ankunft in der Schweiz beschrieben:

Samson Schönhaus (1922 geb. in Berlin) hat privilegierte Arbeit gefunden in einer Fabrik, wo Gewehre umgerüstet werden:

[Wiedergegegnung mit einem Lehrer]

Gleich am ersten Tag komme ich zu spät. Der Soldat mit Stahlhelm und geschultertem Karabiner vor dem Eingangstor beachtet mich nicht. Ich springe die Treppe rauf. Da steht plötzlich Herr Dr. Selbiger vor mir. Ein Lehrer aus meiner ehemaligen Schule. �So, so Schönhaus. Immer dieselben, die zu spät kommen!� Er trägt, wie alle Arbeiter, einen ölverschmierten blauen Arbeitsanzug. Und links an der Brust dem gelben Stern.
Aber sein Gesicht mit dem schwarzen, nach oben gezwirbelten Schnurrbart und den buschigen Augenbrauen hinter der randlosen Brille, flößt mir immer noch Respekt ein. (Damals nannten wir ihn heimlich ’Saubär’, weil er Ohrfeigen austeilte, die noch lange ihre Spur hinterließen.)
Jetzt bemerkt er kollegial: �Schönhaus, das Zuspätkommen ist hier nicht mehr so harmlos wie in der Schule. Wer dreimal zu spät kommt, so heißt es auf einem Schild in der zweiten Etage, hat sich bei Herrn Rensing zu melden. An dessen Tür steht: Beauftragter der Geheimen Staatspolizei.) Also jetzt dürfen Sie nur noch zweimal zu spät kommen. Geben Sie mir Ihre Stempelkarte. Ich zeige Ihnen, wie man stempelt. Sehen Sie, heute ist Ihre Zeit rot ausgedruckt. Wenn Sie pünktlich kommen, haben Sie einen blauen Stempel auf der Karte.�
**
Viele solcher Erfahrungen muss der junge Schönhaus, dessen Eltern schon deportiert sind, machen, bis er mit Freunden einen Ring von Fälschern und Helfern aufziehen kann; dazu muss er illegal in Berlin..
Eine wunderbare Lektüre, für jeden, der sich Deutsch oder Geschichte oder Religion interessiert: Cioma Schönhaus, ein Passfälscher, der sich und viele andre vor den Nazis retten konnte…
Im Jahre 1942 taucht Cioma Schönhaus in Berlin nach der Deportation seiner Eltern in den Untergrund ab. Seinen Unterhalt verdient er, der über grafische Kenntnisse verfügte, mit dem Fälschen von Pässen und anderen überlebenswichtigen Papieren, mit denen sich hunderte von Todgeweihten retten können. Fesselnd und zuverlässig berichtet Cioma Schönhaus, wie er sich als 20-jähriger Jude täglich durchschlagen musste und dabei sogar die Stirn besaß, sich von dem verdienten Geld, mit dem er als Verfolgter ansonsten nicht viel anfangen konnte, eine kleine Segeljacht auf dem Wannsee zu kaufen. Sein Bericht zeugt von Intelligenz und Einfallsreichtum, von Lebenslust und auch von Leichtsinn. Immer wieder gelang es ihm, durch das Netz der Verfolger hindurchzuschlüpfen. Schließlich kam die Gestapo doch auf die Spur und suchte ihn steckbrieflich. Mit seinem Fahrrad gelang ihm die Flucht in die Schweiz - selbstverständlich mit eigens dafür gefälschten Dokumenten. [Aus: Geschichte - 1933-1945 Widerstand]
*
Der Passfälscher. Die unglaubliche Geschichte eines jungen Grafikers, der im Untergrund gegen die Nazis kämpfte. 2004 bei "Scherz"; jetzt als Taschenbuch bei Fischer, erschienen:

ISBN: 359616446X

S. URL.:

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/t54HboSxJ


 Enigma antwortete am 27.07.06 (07:44):

Eine - fast - unglaubliche Geschichte, die vom Überlebenswillen und von der Findigkeit erzählt, einem nahezu unausweichlichen Schicksal doch noch zu entgehen.
Mir gefällt es ohnehin gut, wenn Menschen sich nicht ohne Gegenwehr ergeben.
Danke für den Hinweis!


 Marina antwortete am 27.07.06 (08:22):

Da kann man nur hoffen, dass es heute viele palästinensische und libanesische Ciomas gibt. Denn aus den Verfolgten sind Verfolger und aus den Opfern Täter geworden, und die Nazis sitzen heute in Israel. Zu hart? Ich wünschte, es wäre so, denn ich hätte mir auch gern ein anderes Bild von diesem Staat erhalten.


 mart antwortete am 27.07.06 (09:28):

Zu hart würde ich nicht sagen, aber ein bißchen rassistisch vielleicht.

Übrigens hat vor drei Tagen ein isländischer Gast zu meiner Tochter gesagt, daß der Hitler doch zu wenig Juden vergast hat

- das ist dann die nächste Stufe.


 Marina antwortete am 27.07.06 (09:56):

mart, ich habe nicht über Juden geschrieben, sondern über Nazis. Und ich habe nicht gesagt, dass alle Juden Nazis sind. Aber ich sage, und dazu stehe ich, dass z.B. die Siedler in den besetzten Gebieten und viele der Herrschenden in der Regierung Israels und der IDF (israel. Armee) eine ganz und gar faschistische Gesinnung haben und auch danach handeln, das dürfte wohl inzwischen keiner mehr übersehen, es sei denn, man verschließt die Augen und geht völlig blind durch die Welt. Und das hat überhaupt nichts mit Rassismus zu tun, das ist eine Erkenntnis, die sogar Uri Avnery und viele linke Juden vertreten.
Wenn diese Leute, und d a s sind die Rassisten, ihren Opferstatus benutzen, um damit andere Völker versuchen auszurotten, instrumentalisieren sie den Holocaust für ihre Zwecke.


 Literaturfreund antwortete am 27.07.06 (11:06):

Marina bezeichnet mit ihrer Kritik ja keinen Rückfall in mörderisch-rassistische Politk - sondern einen Fortschritt, solch alte tödliche Muster, egal von welchen Militärs, zu überwinden; sie will die gangbare Wege zeigen, die möglich sind in Beispielen oder Vorbildfiguren, wenn Menschen als Individuen und Gleichberechtigte interkulturell und -religiös leben dürfen.

Ich kann nicht mehr erkennen, dass J u d e n (also Gläubige) in Israel die Politik bestimmen, sondern machtlüsterne Militärköppe, die sich nach US-Strategien hochrüsten und dann die entsprechenden Waffen anwenden wollen.

*

Bilder zu Pessach, in Israel...:

Internet-Tipp: https://www.jg-regensburg.de/Pessach-Bild-Ton.html


 Literaturfreund antwortete am 27.07.06 (11:15):

Aus Schönhaus' wunderlichen Lebensgeschichte:

Kapitel:

Die grüne Grenze

Am Bach halte ich an. Um mir selbst die Weiterfahrt zu verunmöglichen, lasse ich zuerst die Luft am Vorderrad raus. So. Jetzt habe ich mich entschieden. Die Brücke hinter mir ist abgebrochen. Ich will nun das Vorderrad abmontieren und damit ans Wasser gehen. Wenn jetzt einer käme, könnte ich sagen, ich habe eine Reifenpanne und will nachschauen, wo das Loch ist. Dann aber rede ich mir ins Gewissen: �Cioma, hör auf mit deinen raffinierten Vorsichtsmaßnahmen. Wenn sie bis jetzt nicht aus dem Gebüsch hervorgekommen sind, dann ist auch niemand hier. Entscheide dich!�
Ich ziehe am Zwirnsfaden an der Lenkstange, hole meine Hundertfrankennote heraus und schiebe das Fahrrad ins Gebüsch. Dann bete ich ein kindliches �Schemah Jisroel: Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig.�
Dann robbe ich auf allen Vieren im Bach entlang. Er ist höchstens einen halben Meter tief und einen Meter breit. Zuerst will ich es in der Art, wie man Liegestütze macht, probieren, um so trocken wie möglich zu bleiben. Aber plötzlich höre ich Gewehrschüsse. Und da ist es aus mit der Vorsicht vor dem Nasswerden. Jetzt ist es mir egal. Ich tauche unter, so gut es in dem flachen Wasser
*
(Cioma Schönhaus: Passfälscher. 2006. S. 207)
**

"Schema Jisrael" ("Höre Israel"):

Das „Schema (oder Schma) Jisrael“ ist eines der wichtigsten Gebete des jüdischen Glaubens.
Es ist Teil des Morgen- und Abendgebetes sowie der Liturgie an Schabbat und Festtagen. Das Schema Jisrael besteht aus 3 Abschnitten der Tora: Dtn 6,4 - 9; 11,13 - 21; Num 15,37 - 41.
Das Gebet drückt die Anerkennung der Herrschaft Gottes und seiner Gebote sowie die Erinnerung an den Exodus aus. Teile des Schema Jisrael stehen auch auf den Pergamentrollen von Mesusa und Tefillin.
**
Vgl. URL.

„Schema“ oder „Schma Israel“

Das Schema [`ʃe:ma] (griechisch σχήμα, [`sçima], Mehrzahlformen: die Schemas, Schemen oder Schemata (griechische, gelehrtere Form) ist ein Begriff zur Bezeichnung einer starren Formvorgabe, einer vereinfachten Form, einer zugrundeliegenden Formvorlage, insbesondere für sich wiederholende Phänomene; je nach Kontext kann der Begriff umschrieben werden durch "Schablone", "Muster", "Struktur", "Figur", "Haltung", "Anschein (haben)" oder "Entwurf", welcher die groben Umrisse einer bestimmten Erscheinungsform wiedergibt.
Ist in den technischen Wissenschaften ein Ausdruck für die Darlegung, Zeichnung oder Programmierung eines grundsätzlichen Aufbaues oder Verlaufes (auch als Schablone verstanden).
Wer in den christl. Evangelien nachliest, kann erkennnen, ab wann dieses Gebet als "Bündnisversprechen" aus den Ur-Texten verschwand.
Im Johannes-Evangelium ist davon nichts mehr zu finden; stattdessen viele, viele antijüdische Verallgemeinerungen, Hetzereien; Tradtionsbrüche, die den unseligen Antijudaismus begründeten.

Internet-Tipp: https://www.doronia.de/glossar_hebr_judentum.htm#s


 Literaturfreund antwortete am 27.07.06 (11:17):

Als Grafiker tätig:

https://www.minges.ch/publ/images/Schoenhaus%20CH%201990.jpg

Eine spätere Arbeit von Schönhaus:Wenn's schön wird, will ich nüchtern sein (Cioma Schönhaus, Schweiz 1990)

*

URL.: Cioma Schönhaus, heute...

ein seltener Beitrag eines Verlages für die Bildung und die schulische Arbeit:

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/LFGIZe9QU


 Enigma antwortete am 27.07.06 (12:02):

Ja Marina,

da bin ich voll und ganz Deiner Meinung; die Verfolgten werden zu Verfolgern. Und wir befinden uns mit dieser Meinung ja auch in bester Gesellschaft mit dem von Dir am 22.7., 20.53 Uhr,in dem "Anti-Kriegs-Literatur-Thread" zitierten Erich Fried.
Besonders in dieser dritten Strophe sagt er es ganz deutlich:

�Ihr habt überlebt
die zu euch grausam waren.
Lebt ihre Grausamkeit
in euch jetzt weiter?�


Fried ist jedenfalls imstande, nach allem, was man ihm auch angetan hat, doch zu erkennen, dass die ehemaligen Opfer ihrerseits oft zu Peinigern werden. Und er wirft es ihnen vor. Unter diesen Bedingungen will er nicht einer der Ihren sein.
Und das ehrt ihn.


 Marina antwortete am 27.07.06 (14:17):

Danke euch beiden, Literaturfreund und Enigma, ihr habt mich gut verstanden. :-)
Danke auch für die Erläuterungen zum "Sch'ma Israel" Literaturfreund. "Höre Israel!", so heißt ja auch das Gedicht von Erich Fried, dessen dritte Strophe Enigma nochmal eingestellt hat, und den ich sehr bewundere, weil er als Jude all das so kritisch und hellsichtig sieht (sah), was viele gern nicht wahrhaben wollen.
Übrigens möchte ich noch erwähnen, dass es in Israel die "rabbis for human rights" gibt, die immer wieder die Verletzung der Menschenrechte in Israel beklagen und für ihre Beachtung eintreten. Und das sind doch nun gerade die besonders religiösen Juden, von denen man es nicht unbedingt erwarten kann, weil in den besetzten Gebieten der Anspruch auf das ganze Land Israel gerade von den religiösen Fundamentalisten biblisch begründet wird. Deshalb finde ich es so gut, dass es die erwähnten Rabbis gibt, die ganz anders denken und dafür kämpfen, dass "Menschen als Individuen und Gleichberechtigte interkulturell und -religiös leben dürfen."

Internet-Tipp: https://rhr.israel.net/rhr/learn/recent-reports/


 Literaturfreund antwortete am 04.08.06 (21:07):

Ich will noch drei Einzelheiten aus Schönhaus’ Bericht vorstellen, in denen wichtige Bedingungen seines Überlebens in Berlin beschrieben werden; was ihn und die jüdische Solidarität betrifft und den Kontakt mit der „Bekennenden Kirche“, der für ihn zur Rettung wird.

Auszug aus: Cioma Schönhaus Lebensgeschichte „Der Passfälscher“.
Nach Feierabend gehe ich mit Walter Heyman, einem Arbeitskollegen, durch den Treptower Park zum S-Bahnhof, um nach Hause zu fahren. Buchen, Eschen und Eichen, die gewiss schon den Ersten Weltkrieg miterlebt haben, stehen groß und schwarz vor dem Nachthimmel im verdunkelten Berlin. Der Mond leuchtet uns den Weg. Walter Heyman, ist einen Kopf kleiner als ich. Seine schwarzen Haare hat er satt nach hinten gekämmt. Sie glänzen. Aber es ist keine Brillantine, sondern die ölgeschwängerte Luft aus dem Maschinensaal.
Walter Heyman lispelt, weil ihm ein Schneidezahn fehlt. Einst war er Journalist. �Weißt du�, sagt er, �Nietzsche hat gesagt, was fällt, soll man stoßen. Wir -werden gestoßen.� �Aber, sagen Sie mal, Herr Heyman, warum werden wir Juden seit der Antike verfolgt? Es begann ja schon� bei den Römern; ja noch früher, bei den Babyloniern.� �Stimmt, Schönhaus. Und ich will Ihnen sagen, warum. Kennen Sie die Parabel von Abraham und seinem Vater? Abraham, der Stammvater des jüdischen Volkes, war der Sohn eines Holzbildhauers, der Götzenbilder herstellte. Als er einmal allein in der Werkstatt war, nahm er eine Axt und schlug alle Götzen kurz und klein. Nur eine Figur ließ er übrig und dieser steckte er die Axt unter den Arm. „Was ist denn hier passiert), rief der Vater, als er zurückkam. „Ich weiß nicht“, antwortete Abraham, „die Götzen hatten Krach untereinander und der eine hat alle anderen erschlagen.) (Willst du mich zum Narren halten?), fragte der Vater. „Der eine Götze kann doch nicht alle anderen mit der Axt kaputt machen.) (Siehst du“, sagte Abraham, (darum glaube ich nicht an die Kraft dieser Götter. Es gibt nur 'einen Gott. Und der ist unsichtbar. Er regiert uns. Und an ihn glaube ich.� Mein lieber Schönhaus, so beginnt, kindlich vereinfacht, die Geschichte der jüdischen Religion.�
Im Treptower Park stehen viele Bänke. Auf allen steht groß und gelb NICHT FÜR JUDEN. �Kommen Sie, Schönhaus, setzen wir uns.� Unsere. Mappen sind ja nicht nur gut für unsere Frühstücksbrote, sondern auch zum Verdecken des gelben Sterns.
�Herr Heyman, jetzt bin ich aber doch gespannt auf Ihre Antwort, warum die Juden seit ewigen Zeiten verfolgt werden.� �Mein lieber Schönhaus, der unsichtbare jüdische Gott ist allen anderen handgreiflichen Göttern überlegen. Er macht alle, die an ihn glauben, selbstsicher und überlegen. Jedoch Selbstsicherheit und Überlegenheit schaffen nicht unbedingt Freunde. Das ist einer der Gründe für die Judenverfolgung. Aber nicht der einzige. Um alles zu erörtern, ist der Weg zur Stadtbahn nicht lang genug. Das nächste Mal reden wir weiter.�
(Der Freund erzählt aus einer Talamud-Überlieferung. – Der "unsichtbare Gott" ist ein wichtiger Begriff, dass man nicht in Versuchung in die Machtmissbrauch gerät, „Gott“ für sich und seine Privilegien oder wirtschaftlichen oder militärischen Optionen zu verwenden.)
(Schönhaus. Fitabu 16446. S. 80f.)

Internet-Tipp: /seniorentreff/de/m0MvpvWRZ


 Literaturfreund antwortete am 09.08.06 (13:39):

Aus Cioma Schönhaus’ Lebensgeschichte, in Fortsetzung:
Thema: Das Judentum in der Vertreibung(Diaspora):

Es regnet. Walter Heyman wartet nach der Nachtschicht auf der Straße. Er hat einen großen Regenschirm aufgespannt und wirkt klein neben dem Wehrmachtssoldaten, der die Fabrik von Gustav Genschow [spez. Gewehrfabrik, wo die beiden arbeiten müssen; während Familienangehörige schon deportiert sind] bewacht.
�Ja, Schönhaus, Sie fragten mich das letzte Mal, warum die Juden verfolgt werden.� Während wir zum Bahnhof gehen, hält er mir den Schirm so hoch, dass wir beide darunter Platz finden.
�Ich sagte Ihnen, weil wir einen unsichtbaren Gott anbeten. Das macht uns stark — aber auch schwach und angreifbar. Der abstrakte Gott ist allen Götzen überlegen. Bezeichnenderweise ist ja auch die abstrakte Kunst in den Diktaturen verboten. Die Machthaber wissen nicht, was dahinter steckt. Hinzu kommt, wer sich von einem unsichtbaren Gott getragen fühlt, glaubt, er sei unüberwindlich. Nicht ohne Grund steht auf jedem deutschen Koppelschloss der Soldaten ‚Gott mit uns’. Aber dieses jüdische Bewusstsein, als einziges Volk den unsichtbaren Gott als Verbündeten im Rücken zu haben, birgt eine Gefahr. Die Juden entwickelten schon vor Jahrtausenden einen falschen Blick für die Realitäten. Und als sie sich mit ihrem Gott stark genug fühlten, gegen die Weltmacht Rom Krieg zu fuhren, wurden sie besiegt. Und so leben wir seit der Antike in der Verbannung. Und in Zeiten wie jetzt kämpfen wir ums Überleben.�
Beim Stichwort �Überleben� ergänzt Heyman: �Sie waren doch an einer Kunstgewerbeschule. Sie haben doch eine Ausbildung als Grafiker begonnen. Ich kenne eine Frau, die alles tut, um Juden vor der Deportation zu retten. Diese Frau sucht einen Grafiker, der ihr helfen kann, einen Ausweis zu fälschen. Trauen Sie sich das zu? Wollen Sie sich mal dort melden?� Ich stimme zu und er erklärt mir: �Es handelt sich um Edith Wolff. Sie ist die Tochter eines ehemaligen Redakteurs vom Berliner Tageblatt. Er war mein Chef.(…)
(Schönhaus. S. 86f.)

Erst diese Frage, die allein schon zur Denunziation hätte führen können, wenn man sich nicht hätte vertrauen können, ermöglicht Schönhaus die rettenden Ideen und Kräfte, für viele andere Juden oder Christen: den Nazis intelligent und so gut wie möglich heimlich zu widerhandeln und sie zu betrügen, wo es nur geht, auch unter Lebensgefahr.

Schönhaus bekommt also Verbindung zur Tochter des großen Publizisten Theodor Wolff, dann zur "Bekennenden Kirche".

URL.: über Theodor Wolff

Internet-Tipp: https://www.bdzv.de/theodor_wolff_preis.html


 Literaturfreund antwortete am 25.08.06 (20:11):

Ich will hier noch zwei Momente nachtragen, auch weil Marina in einem anderen Thema von der "Bekennenden Kirche“ gesprochen hat.

Hinter Schönhaus’ Rücken vollzieht sich das Schicksal, das die Nazis allen Juden und geistig Selbstständigen verordnet haben:

Die größte Gefahr für Untergetauchte in Berlin und für den cleveren, genialen Passfälscher ging von der Bevölkerung aus, die dem nationalsozialistischen Regime willfährig diente. Neid, Eifersucht, vorauseilender Gehorsam oder nur Gelllässigkeit zählten zu den häufigsten Motivationen, Juden an die Behörden auszuliefern.

Letztere Motivation mag der Anlass gewesen sein, der den Helferkreis um Dr. Franz Kaufmann im Sommer 1943 durch folgende Denunziation sprengte:

�Eilt. Judensache.

Möchte Ihnen eine wichtige Mitteilung machen, wegen einer Jüdin. Ich habe nämlich seit einiger Zeit bemerkt, dass sich eine Jüdsche heimlich bei Leuten hier im Haus versteckt und ohne Stern geht.
Es ist die Jüdin Blumenfeld, die sich bei der Frau Reichert Berlin W Passauer Straße 39 vorn 3 Treppen heimlich versteckt. So was muss doch sofort unterbunden werden, schicken Sie mal gleich früh so um 7 Uhr einen Beamten und lassen dieses Weib abholen.
Diese Jüdin war früher wie sie hier im Hause wohnte immer frech und hochnäsig. Sie müssen aber schnell machen sonst verschwindet sie vielleicht wo anders hin. Heil Hitler�
*
Dieses böse Schreiben geht am 7. August 1943 bei der Gestapoleitstelle IV D l in Berlin ein. (Und blieb in Akten erhalten. Schönhaus oder Kauffmann wussten davon nichts.)

Bereits fünf Tage später, am Donnerstag dem 12. August, wird die 49-jährige Lotte Blumenfeld — die sich bereits seit Januar 1943 auf der Flucht vor ihrer Deportation befindet — in der Passauer Straße festgenommen. Ihre Behauptung, slowakische Staatsbürgerin zu sein, kann sie nicht aufrechterhalten und gesteht schließlich, mit einem Mann in Verbindung zu stehen, der ihr einen slowakischen Pass — selbstverständlich eine Fälschung — besorgen wollte. Durch ihre Aussage wird dieser Mittelsmann, zur Zeit eingezogen als Revier-Oberwachtmeister der Schutzpolizei der Reserve, am gleichen Tag festgenommen.
Auch er nennt während seiner Vernehmung die Namen seiner Kontaktpersonen, von denen er gefälschte Papiere bekommen hat. Daraufhin wird am 14. August der 59-jährige Leon Blum festgenommen. Während des Verhörs gesteht er seine Verbindung zum Dr. Kauffmann, dem Auftraggeber des Schönhaus, einem Mitglied der Berliner „Bekennenden Kirche“.


 Literaturfreund antwortete am 25.08.06 (20:12):

Zu Dr. Kaufmann:

Der Ankauf echter Papiere oder Blanko-Ausweise ging weiter – auch während der Observation der Kaufmannschen Wohnung, gut organisiert und heimlich; die Fälschungen der Papiere übernimmt Cioma Schönhaus.

Der Oberregierungsrat Franz Kaufmann, gewissenhafter und treuer Staatsdiener bis zu seiner Entlassung durch die Nazis, seit 1942 zur Zwangsarbeit verdingt, legte die Gründe seiner Handlungsweise folgendermaßen nieder in einem Dokument, von dem Schönhaus natürlich nie erfuhr (der Leser erfährt von ihm im Nachwort der Erinnerungen):

�Durch die Verwurzelung in christlicher Auffassung und auch durch vorgerücktes Alter habe ich wohl ein verstärktes Gefühl für Not und Leid, das den Einzelnen mehr oder weniger unverschuldet trifft. Dadurch wurde ich, ohne es zu wollen, ein Anziehungs- und Sammelpunkt für jüdische Flüchtlinge. Sie ließen sich mit ihrem Vertrauen und mit der Hoffnung, dass ich auch seelisch helfen könne, nicht abweisen. Meine Hilfe galt nicht den Juden, weil sie Juden waren, sondern weil sie Menschen waren in Nöten und Ängsten. Aus meiner Hilfsfreudigkeit heraus hätte ich meine Kraft lieber an anderer Stelle zur Verfügung gestellt, z.B. im Kriegs-Sanitärdienst,, wofür ich mich u.a. bei Kriegsbeginn auch vergeblich gemeldet habe, und ich hätte sie dort genau so gern eingesetzt, wie als Soldat im Weltkrieg.�

Die Hoffnung und Zuversicht, die Franz Kaufmann so vielen Verfolgten gab, wurde durch die Denunziation vom 7. August 1943 zunichte gemacht. Im Zwischenbericht der Stapoleitstelle IV-d l heißt es: �Die zum Vorgang festgenommenen Juden sind, soweit sie zum Vorgang nicht; mehr benötigt werden, bereits evakuiert, bzw. sind gegen sie staatspolizeiliche Maßnahmen ergriffen worden.�

Diese einzige Denunziation führte zum Tod von mindestens 26 Menschen. Sie sind ermordet und verschollen in den Vernichtungslagern des Ostens.
(S. Schönhaus. S. 228; 234)


 Literaturfreund antwortete am 25.08.06 (20:17):

Schönhaus erzählt, wie es mit ihm weiterging:

Im Treptower Park läuft Heyman neben mir her und greift sich an den Stern. �Schönhaus, dass man Ihnen den Schwindel mit der Blinddarmoperation [in der Fabrik, wo er Zwangsarbeiter war] geglaubt hat, grenzt: ja auch an ein Wunder.� �Warum, Herr Heyman? Der Meister Schwarz hat mir ja gar nicht geglaubt. Als ich ihm das Attest zeugte, sagte er nur: ‚Das ist für mich erst dann gültig, wenn es unser Vertrauensarzt beglaubigt hat.’ Und der hat es beglaubigt.�
�Sehen Sie, Schönhaus, also doch ein Wunder. Dafür ist das, was Sie mir von Hochhäuser erzählt haben, eher das Gegenteil. Eine Chimäre. Ich würde dem armen Görner nichts davon erzählen. Solange er an die Möglichkeit einer Arisierung glaubt, erlebt er wenigstens noch ein paar glückliche Tage. Wissen Sie, Schönhaus, man soll die Möglichkeit eines Wunders nie ausschließen, aber man darf nicht damit rechnen. Noch besser ist es, sich selbst zu helfen. Und Sie haben ja darüber hinaus noch das Glück, anderen helfen zu können. Sie haben Heinz Sch. mit einem perfekten Ausweis ausgestattet. Edith Wolff ist begeistert und meint, Sie sollten mit Ihrem Talent noch andere Juden retten. Bei Dr. Kaufmann haben Sie die Gelegenheit dazu.�
�Was wissen Sie über Dr. Kaufmann?�
�Dr. Franz Kaufmann ist ein außergewöhnlicher Mensch. Als Oberregierungsrat am Rechnungshof des Deutschen Reichs war er im Ersten Weltkrieg Hauptmann. Er ist jüdischer Abstammung, wurde aber schon als Kind getauft. Er ist mit einer deutschen Adligen verheiratet. Als aktiver Christ im der Bekennenden Kirche hilft er, Juden zu verstecken, die deportiert werden sollen. Weil er mit einer ‚Arierin’ verheiratet ist und sein Töchterchen christlich erzogen wird, gilt er als privilegiert. Er muss keimen Stern tragen, bekommt Lebensmittelkarten ohne ‚J’. Er darf' also faktisch das normale Leben eines Deutschen führen. Trotzdem setzt er sich der enormen Gefahr aus, die denen droht, die Juden helfen. Er führt den Kampf für die Verfolgten und Entrechteten mit dem Heldenmut eines Offiziers. Vorsicht ist für ihn eine Form der Feigheit. ‚Wenn man einen gegnerischen Schützengraben erobern will, kann man auch nicht vorsichtig sein. Dann muss man den Mut haben, der Gefahr ins Auge zu sehen.’ So argumentiert er.
Gehen Sie zu ihm. Machen Sie mit. Aber versuchen Sie, ihm klarzumachen, dass Konspiration ein ebenso wichtiges Kampfmittel ist wie Heldenmut. (...)"
(Aus Schönhaus' Lebensbericht)