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THEMA:   Theodor Weißenborn - ein Autor unserer Tage, auch der alten...

 2 Antwort(en).

iustitia begann die Diskussion am 21.10.04 (12:58) :

Kurzprosa von Theodor Weißenborn:

Begegnung im Zug

In Blankenheim stieg ein Priester zu, nickte freundlich, ich erwiderte seinen Gruß, und er setzte sich mir gegenüber, nahm ein Buch aus seinem Koffer und las. Einmal legte er es kurz aus der Hand, so daß ich den Titel erkennen konnte. Es war �Der Mythos von Sisyphos� von Albert Camus. Ich wollte ihn ansprechen, doch wurde er in diesem Augenblick von einem pfeifenden Husten geschüttelt, den er zu unterdrücken suchte und der doch nicht enden wollte. Er zeigte auf das Fenster, und ich öffnete es. Zugleich knöpfte er sein Hemd auf und zog einen grauen Flanellappen hervor, den er unter dem Hemd an einer Schnur um den Hals trug. Aus der Seitentasche seines Jacketts nahm er eine kleine Flasche, die mit Wasser gefüllt schien, öffnete sie und tränkte den Lappen mit der Flüssigkeit. Unter dem Lappen wurde die Öffnung einer Kanüle sichtbar, und ich begriff: er war tracheotomiert. Er hörte auf zu husten, ordnete sein Habit, lehnte sich aufatmend zurück und lächelte mir zu als seinem Mitwisser, der ich nun war, seinem Komplizen, lächelte freundlich und ich lächelte zurück. Dies war es: so wie dem Hungernden Gott in der Gestalt des Brotes erscheint, war sein Gott ihm erschienen in der Gestalt feuchter Luft. Und ich fühlte mit ihm, fühlte die feuchte Luft als den Atem, den ich tauschte mit allem, das, umgeben von mir, mich umgab.
*
Theodor Weißenborn (* 22. Juli 1933): Studien der Sprachen und Philosophie und Psychologie, freier Schriftsteller, international erfolgreicher Autor, besonders mit Erzählungen und Hörspielen zu Themen Logik und Sprache und Erkenntnis, Ethos und Konflikt, Liebe und Gesundheit. Er lebt in der Eifel auf Hof Raskop.
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URL - der Weißenborn, einem berühmten Russen nicht unähnlich.

Internet-Tipp: https://www.new-wen.net/kultur/literaturtage/autoren/bilder/weissenborn1.jpg


iustitia antwortete am 21.10.04 (12:59):

Theodor Weißenborn: Vermeidbares Leid

�Da liegt Marthe Piquet", sagt der Wind, �die du geärgert hast und die vor fünf Jahren gestorben ist, weil sie so keusch war, dass sie keinem Arzt ihre Brust zeigen wollte, die in ihrem 53 jährigen Leben nichts Böses tat, nur ihre Eltern pflegte, zur Kirche ging, das Haus erbte und nett zu ihrem Bruder und dessen spleenigen Gästen war und die es bei allem Fleiß und aller Frömmigkeit zu weiter nichts brachte, als dass sie
als warnendes Beispiel für Bigotterie in die Annalen der medizinischen Fakultät in Nimes einging, wo die Studenten ihre Mamma, die sie keinem zeigen gewollt, in einem Formalinbehälter in einer Vitrine im Treppenaufgang der Anatomie sehen können. Da unten, über ihren Eltern, liegt sie begraben, unterm klingelnden Kettenschmuck ihres Grabkreuzes, da, wo das rote Licht flackert, das Monsieur Espalion, der Gärtner,
im Auftrag ihres Bruders ständig erneuert, denn Serge kommt kaum mehr nach Marvejols, er hat selbst ein Haus in Paris, und das Haus seiner Eltern, seit Marthe nicht mehr lebt, steht leer und verfällt. Und kämest du noch einmal dorthin, in die Ruelle de l'Ange, numéro 17, und schrittest durch die ungelüfteten, nach Moder duftenden Räume, so sähest du an den Wänden in der Küche, im Flur und im Salon gesegnete
Buchsbaumzweiglein, die der leiseste Windhauch entblättert, und in Marthes Schlafzimmer, über ihrem jungfräulichen Bett, ein kolorierten Druck der �Madonna der Armen', nach einem Gemälde von Millet, und einen Kupferstich mit dem Bildnis des heiligen Vinzenz Pallotti, wie er sich geißelt mit einer Peitsche, die er selbst sich geflochten."

Namenlos

Sie stehen abends vor dem Bildschirm auf, sagen: �Bin gleich wieder da. Geh Zigaretten ziehn" und kommen nicht zurück, nicht diesen Abend, nicht den nächsten, nie. Sind fort, wer weiß wohin, verschollen, zweihunderttausend jährlich in den USA, sind fortgegangen, unauffällig, still, begehen keinen Suizid und laufen nicht Amok, vergessen ihren Namen, wandern, kränkeln, sterben irgendwo. Man sucht sie, findet keine Spur, sie gingen die Flüsse hinab ins Meer bei New Orleans, Vancouver, Mexicali, verkrochen sich wie Tiere im Gebüsch, verwesen irgendwo. Man teilt sich ihre Habe, hütet eine Zeitlang noch ihr Bild, das rasch vergilbt, erinnert sich, erinnert sich nicht mehr, vergeht. So unpathetisch, klaglos, sanft wird Leiden in Dezennien, so voller Gleichmut ziehen die Flüsse hin, wälzen den Sand, das Salz der Tränen hin, so leicht runden sich Kiesel, werden zu Sand, zu Sedimentgestein und lagern breit in Wassern, rings der Erde Rund.

Hiob

Und einen Glauben wahren durch ein Leben, durch sieben, acht Jahrzehnte, einen Kinderglauben, da man andres nie begriff und lernte in dem Dorf, in dem man ward geboren, wo man lebt und wird zu Grab getragen wieder, wo
Sinn im Dulden, nicht im Handeln liegt. Den Glauben wahren und ein Telegramm erhalten: Sohn Albert ist gefallen. Hinausgehn, sprachlos, an der Mauer stehn, am Schweinehaus, und beten. Und ein Telegramm erhalten, zwei Jahre später: Sohn Heinrich ist gefallen. Hinausgehn, ohne Worte, am Schweinehaus, im Winkel, an der Mauer stehn und beten. Und im letzten Kriegswinter, im Januar, ein Telegramm erhalten: Sohn Josef ist gefallen. Und hinausgehn ohne Jacke, drei Stunden in der Kälte an der Mauer stehn, reglos und ohne Worte stehn, am Schweinehaus stehn und beten.

*
Th. W.:
Neuere Veröffentlichungen (Auswahl):
�Fragmente der Liebe�. Prosa aus fünf Jahrzehnten (2000. Böschen)
�Insel im Strom". Gedichte (2001. Böschen).
�Brot die Seele". Geschichten (2001, Echter).


Enigma antwortete am 24.10.04 (08:24):

Eigentümliche Geschichten, die mich aber anrühren...
Bei "Hiob" dachte ich: fast beneidenswert, wer seine Schicksalsschläge so annehmen kann (..."der Sinn liegt im Dulden, nicht im Handeln").....

Gruss Enigma