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Literatur Lyrik/Gedichte für Liebhaber

RE: Lyrik/Gedichte für Liebhaber
geschrieben von ehemaliges Mitglied

Als ich heute morgen auf der Suche nach dem Gedicht Morgenklage in meiner Platen-Ausgabe blätterte, fand ich zunächst ein anderes über die Zerfallenheit des geistigen Menschen mit seiner Zeit und seinen Zeitgenossen, das auch – leider – auf die heutige Zeit und Zeitgenossenschaft, in der wie vielleicht niemals zuvor Scharlatane, Lügner, Blender, Schwätzer und Dummköpfe den Ton angeben (so scheint es mir jedenfalls), bestens anwendbar ist.


Lebensstimmung

»Wem dein wachsender Schmerz Busen und Geist beklemmt
Als Vorbote des Tods, bitterer Menschenhaß,
    Dem blühn der Gesang, die Tänze,
        Die Gelage der Jugend nicht!

Sein Zeitalter und er scheiden sich feindlich ab,
Ihm mißfällt, was erfreut Tausende, während er
    Scharfsichtige, finstre Blicke
        In die Seele der Toren wirft.

Weh ihm, wenn die Natur zarteren Bau vielleicht,
Bildungsreicheren lieh seinem Gehör, um durch
    Kunstvolle Musik der Worte
        Zu verewigen jede Pein!

Wenn unreifes Geschwätz oder Verleumdung ihn
Kleinlichst foltert, und er, welchen der Pöbel höhnt,
    Nicht ohne geheimes Knirschen
        Unerträgliche Qual erträgt:

Wenn Wahrheiten er denkt, die er verschweigen muß,
Wenn Wahnsinn dem Verstand schmiedet ein ehrnes Joch,
Wenn Schwäche des Starken Geißel
        Wie ein heiliges Zepter küßt:

Ja, dann wird er gemach müde des bunten Spiels,
Freiheitatmender wehn Lüfte des Heils um ihn,
    Weglegt er der Täuschung Mantel,
        Und der Sinne gesticktes Kleid.«

Ob zwei Seelen es gibt, welche sich ganz verstehn?
Wer antwortet? Der Mensch forsche dem Rätsel nach,
    Gleichstimmige Menschen suchend,
        Bis er stirbt, bis er sucht und stirbt.

August von Platen (1796-1835)

RE: Lyrik/Gedichte für Liebhaber
geschrieben von ehemaliges Mitglied

Oskar Loerke veröffentlichte während des "Dritten Reiches" nur zwei Gedichtbücher: Der Silberdistelwald und Der Wald der Welt. Wer zu lesen versteht, wird darin reichlich Belege dafür finden, wie sehr ihm die "Jahre des Unheils" – so nennt er diese Zeit in seinen Tagebüchern – zu schaffen gemacht haben. Aber explizit zeitkritische Gedichte findet man natürlich nicht; das hätte ihn vermutlich nicht nur seine Stellung, sondern auch das Leben gekostet.

Aber Loerke hat während dieser Jahre auch eine Reihe von teils sehr bitteren Zeitgedichten geschrieben, die gegen das Nazi-Regime gerichtet sind und an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Die meisten davon erschienen dann nach dem Krieg in dem von Hermann Kasack herausgegebenen Band Die Abschiedshand. Eines dieser Gedichte ist das folgende. Wenn der eine oder andere Leser zu dem Schluß käme, das Gedicht ließe sich – mutatis mutandis – auch auf unsere Zeit anwenden, würde mich das nicht wundern.

LÜGNER

Wenn Millionen außer Einem lügen –
Ich weiß, nichts macht aus diesem Einen Keinen.
Wenn das Geschwürgift ausgeschwärt ist, fügen
Sich die Millionen Lügner doch dem Einen.

Noch nie war eine Zeit wie unsre klein,
Da meinen sie, es lasse Gott sich spotten.
Nein, er gewährt nur – mischt er sich nicht ein –
Dem eklen Pack, sich selber auszurotten.

Wer ein Erpresser ist, wird mich berauben,
Der Mörder wird mir nicht das Leben schenken,
Und mich erschüttert nur, daß viele glauben,
Sie hätten je ein Recht zu denken, wie sie denken.

Oskar Loerke (1884-1941)

RE: Lyrik/Gedichte für Liebhaber
geschrieben von ehemaliges Mitglied

Eines der späten Gedichte des alternden Stefan George, rätselhaft und resignativ. Es geht um die Illusion der Freiheit, das Wissen um das Nicht-Wissen, um die Vergänglichkeit auch des Schönen... Es steht in dem 1928 erschienenen letzten Gedichtbuch Georges Das Neue Reich und dort in der letzten Gruppe, die Das Lied überschrieben ist. Eine Art Abgesang auf die Dichtung, auf das Leben?


    Horch was die dumpfe erde spricht:
    Du frei wie vogel oder fisch –
    Worin du hängst · das weisst du nicht.

    Vielleicht entdeckt ein spätrer mund:
    Du sassest mit an unsrem tisch
    Du zehrtest mit von unsrem pfund.

    Dir kam ein schön und neu gesicht
    Doch zeit ward alt · heut lebt kein mann
    Ob er je kommt das weisst du nicht

    Der dies gesicht noch sehen kann.

    Stefan George (1868-1933)


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RE: Lyrik/Gedichte für Liebhaber
geschrieben von ehemaliges Mitglied

Ein Gedicht von Max Kommerell aus dem Band Mit gleichsam chinesischem Pinsel (erschienen 1944). Kommerell war nicht nur ein beachtlicher Lyriker; er hat auch Romane, Erzählungen sowie Kasperlespiele für Erwachsene geschrieben – und er war auch ein bedeutender Germanist. Hervorzuheben wären zum Beispiel sein Buch über Jean Paul oder der Sammelband Gedanken über Gedichte.


Kamelie in weißer Porzellanvase
 
Erde — nicht die Krume
Die dich trug, noch gestern,
O Kamelie — nein:
Erde, die durchscheinend ward und klingt,
Hält als Gefäß
Dich, von deiner Schwestern
Keinem Laube mehr umringt,
In dein zweites Sein:
Form, der Blume
So gemäß,
Daß sie gestillt in deinen Frieden steigt.
Aber du,
Mit allem was du bist,
Tödlich rein
In dich gehend,
Fügest, leise dein Haupt geneigt,
Einem Menschen zu,
Daß Blume und Gefäß als eins verstehend,
Er weise ist.

Max Kommerell (1902-1944)


Den vollständigen Gedichtband findet man online hier: Mit gleichsam chinesischem Pinsel
Seine Gesammelten Gedichte als eBuch zum Herunterladen hier: Download
Eine Interpretation dieses Gedichts findet sich hier: Interpretation

LisaK
LisaK
Mitglied

RE: Lyrik/Gedichte für Liebhaber
geschrieben von LisaK
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Der Weg
Eh' ich in dieses Leben trat,
Wies mir ein Engel jegliches Geschehen:
Er ließ mich alle meine Wunden sehen
Und alle meine Missetat,
Er ließ mich alle meine Sünden wissen
Und alles Leiden, das ich tragen müsste,
Die liebeleere, hassdurchtobte Wüste,
Die Stundenzahl voll Schmerz und Finsternissen —
 
Auch wies er mir die trunknen Seligkeiten
Die ich, gleich einem Gott, durchfühlen würde,
Das Äthersein, darin ich ohne Bürde
Im Lichte schwebte über Dunkelheiten,
Ließ er verheißend durch das Herz mir rinnen. —
Der Liebe ungemessne Wonnen
Erschauernd bebten alle meine Sinnen
Und mich umstrahlten tausend Himmelssonnen!
 
Und als er so, den Weg mir vorgewiesen
Mit seinen Prächten und den Düsterkeiten,
Mit seinen Höllen und den Paradiesen,
Sprach ernst der Engel: „Willst du ihn beschreiten?“
Und langsam sagte ich nach einer Stille:
„Ich will es — ja — der Weg, er ist mein Wille!
Und alle seine Lust und Qual
Sei mir Erfüllung freigewollter Wahl!“
 
So trat ich in das Leben ein,
Ein Mensch, umspielt von Schein und Sein,
Dem hellen Tag, der dunklen Nacht geweiht
Und bald versunken in die Ewigkeit!

Max Hayek (1882–1944), Wiener Schriftsteller
 
RE: Lyrik/Gedichte für Liebhaber
geschrieben von ehemaliges Mitglied

Ein Gedicht über die ideale Paarbeziehung, sozusagen. Der Haken ist, daß die Segel keinen eigenen "Willen" haben, sondern vom Wind bewegt oder angetrieben werden. Während das bei menschlichen Paaren in der Regel anders ist...

            Zwei Segel

            Zwei Segel erhellend
            Die tiefblaue Bucht!
            Zwei Segel sich schwellend
            Zu ruhiger Flucht!

            Wie eins in den Winden
            Sich wölbt und bewegt,
            Wird auch das Empfinden
            Des andern erregt.

            Begehrt eins zu hasten,
            Das andre geht schnell,
            Verlangt eins zu rasten,
            Ruht auch sein Gesell.

            Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898)


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omg
omg
Mitglied

RE: Lyrik/Gedichte für Liebhaber
geschrieben von omg

BERTOLT BRECHT
Vergnügungen
Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein.
1954
aus: Bertolt Brecht: Die Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2000

omg
omg
Mitglied

RE: Lyrik/Gedichte für Liebhaber
geschrieben von omg
Vielleicht
Erinnern
das ist
vielleicht
die qualvollste Art
des Vergessens
und vielleicht
die freundlichste Art
der Linderung dieser Qual

[Erich Fried]

Quelle:

https://simonewinkler.ca/oldweb/deutsch/gedichte/lieb/fried/lieb.htm#abwied
 
omg
omg
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RE: Lyrik/Gedichte für Liebhaber
geschrieben von omg

„Versuch es“ von Wolfgang Borchert.

Stell dich mitten in den Regen,
glaub an seinen Tropfensegen
spinn dich in das Rauschen ein
und versuche gut zu sein!

Stell dich mitten in den Wind,
glaub an ihn und sei ein Kind –
lass den Sturm in dich hinein
und versuche gut zu sein.

Stell dich mitten in das Feuer,
liebe dieses Ungeheuer
in des Herzens rotem Wein –
und versuche gut zu sein!

LisaK
LisaK
Mitglied

RE: Lyrik/Gedichte für Liebhaber
geschrieben von LisaK

 Wir können nie, was um uns lebt und webt,
erstaunt und tief genug betrachten;
denn unser Sinn, zur Flachheit neigend, strebt
zu sehr danach, die Dinge zu missachten.
 
Indes der Mensch nach Unerhörtem hascht,
erstirbt der feine Sinn ihm für das Kleine;
und was ihn nicht als Wunder überrascht:
das dünkt ihm das Natürliche, Gemeine.
 
Und doch ist Wunder diese ganze Welt!
Und nichts in ihr ist einfach und gewöhnlich:
Denn wir vergessen stets -sie steht und fällt
mit dir, mit mir: sie ist durchaus persönlich.
(1871 - 1914), deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Journalist und Übersetzer

be-g1f20ae06b_1920.jpgLg Lisa🌞

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