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Wenn ich zurückblicke auf meine eigene Vergangenheit, kann ich mit meinen Gedanken nicht erreichen, was ich in jüngeren Jahren gedacht habe, was ich hätte anders machen sollen. Ich spüre wohl, wie eine leichte Brise meine Erinnerung aufwirbelt, doch das Fenster schließt sich schnell wieder und alles kehrt zu seiner gewohnten Ruhe zurück. In Sachen Erinnerung bin ich wohl mit Gesteinen verwandt.
Ich erlebe aber oft transzendentale Erfahrungen, wenn ich das mächtige Teleskop der Literatur zur Hilfestellung benutze. Beispielsweise lese ich gerade »Früchte des Zorns«, den 1936 erschienenen sozialkritischen Roman des Nobelpreisträgers John Steinbeck.
Die Figuren dieses Romans nehmen mich mit auf eine Reise in vergangene Zeiten, als das Herz mit unbändiger Kraft reisen wollte, obwohl dies in jener Zeit mit solchen Schwierigkeiten verbunden war, die man heutzutage als unglaublich abtun würde! Das Erleben von Tom Joad - erdacht von Steinbeck - erinnert mich sofort an eigene Erlebnisse, zwar nicht in tatsächlicher Form, aber in ähnlichen Dimensionen!
Für mich ist es dann ein Tornado aus verlorenen und wiedergewonnenen Empfindungen, die sich mir entwirren, als würde ich für einen Moment in meine ersten Jahre als junger Erwachsener zurückkehren. 
Alle Lebenserfahrungen haben sich in mein Gehirn eingraviert. Schön aufgeräumt, nicht immer sofort erreichbar, aber wenn ich sie erreichen will, warten sie dennoch auf mich. Aber ohne die Hilfe der mächtigen Wirkung der Literatur, mit der ich sie verbinde, sind sie nutzlos, denn sie lassen sich nicht einordnen in bestimmte Regale, in denen die Erinnerungen aufgereiht sind. Sie sind leider immer zu hoch angeordnet, zu wirr und unordentlich; sie versinken stets wieder im Sumpf des Vergessens.
Vielleicht muss das so sein? Gibt es eine Gnade des Vergessens? Dann möchte ich sie aber differenzieren können, das aber ist nicht möglich - also bleibt es bei der ungenauen Auswahl. Oder aber ich gestehe mir ein: Auch Unangenehmes kann ich als Möglichkeit der Erkenntnis erleben ...
 
 
(... Über das rote Land und einen Teil des grauen Landes von Oklahoma fiel sanft der letzte Regen; aber er drang nicht in die rissige Erde ein. Die Erde setzte eine Kruste an, eine dünne harte Kruste, und wie der Himmel bleich wurde, so wurde auch die Erde bleich ...)
--- John Steinbeck, Früchte des Zorns ---

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Kommentare (4)

Muscari

Lieber Horst,

"ein Tornado aus verlorenen und wiedergewonnenen Empfindungen, die sich mir entwirren, als würde ich für einen Moment in meine ersten Jahre als junger Erwachsener zurückkehren." 
Diesen Tornado erlebte ich nachdem ich in Rente gegangen war.
Ich wollte meine Erinnerungen unbedingt aufschreiben und wurde von einer Lektorin beraten:
"Setzen Sie sich still in eine Ecke und lassen Sie Ihre Gedanken soweit wie möglich zurückwandern. Bauen Sie Jahr für Jahr auf und kehren Sie in damalige Orte und Räume zurück, wobei Sie unbedingt das dort Erlebte und die damit verbundenen Empfindungen festhalten müssen."
Das wurde eine Art Leidenschaft, die mir nachts oft den Schlaf raubte, bis der kompletteText fertig war.
Heute jedoch, nach fast 15 Jahren, würde ich einiges anders und viel detaillierter schreiben.
Lieber Horst, auch wenn sich Deine
Lebenserfahrungen schön aufgeräumt und nicht immer erreichbar in Dein Gehirn eingraviert haben, warten sie auf Dich.
So empfehle ich Dir, sie hin und wieder aufzuschreiben. Und wer weiß, vielleicht ...


In diesem Sinne grüße ich Dir herzlich,
Andrea


 

Pan

Hallo Andrea, eine folgerichtige Antwort gabst Du mir, die sicher einiges für sich hat! Für mich jedoch würde das in dieser Form in einem Chaos enden, (womit ich sagen will, dass manche Dinge nicht für jeden gelten müssen.)
Würde ich so handeln, käme bei mir nichts heraus! Ich müsste dann ständig vergleichen, jedes Wort dreimal herumdrehen oder nach Gegensätzen forschen - wie gesagt, es wäre nur Nebel und Dunst in meinem Geist ...
Ich brauche die Entscheidung - jetzt(!) und nicht erst nachher - selbst wenn alles falsch sein sollte! Das ist halt das Risiko meiner Sprache, So sind meine Vorstellungen immer
ein Zeichen meiner selbst! 
Wenn ich in meinen jungen Jahren Notizen gemacht hätte, wären sie im Telegrammstil erfolgt. Heute wären es ellenlange Artikel --- also lieber nicht diese Art ...
lacht mit Gruß
Horst
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Muscari

@Pan 

Danke für Deine mich etwas erheiternden Zeilen.
Noch verstärkt durch das Bild ...

😉
Nun ja, jeder Mensch ist anders, aber auf keinen Fall solltest Du Dein "Licht unter den Scheffel stellen", meint  mit einem Lächeln
Andrea


Sehe gerade zu meinem Entsetzen, dass ich die deutsche Grammatik nicht beherrsche, indem ich in meinem ersten Kommentar schrieb:
"In diesem Sinne grüße ich DIR herzlich"
😄


 

Pan

@Muscari  

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