Rauhnacht im Gnadenhof


Rauhnacht im Gnadenhof

„Niemand”, so dozierte Gregor, der frühere Leithammel der Schwarznasenschafe, „niemand von uns Tieren hier im Stall des Gnadenhofes konnte ahnen, dass Marley, der stolze Pfau und Oberhaupt unserer Gruppe, so unerwartet abdanken würde. Marleys Tod betrübt uns alle. Dennoch wird emsig an der Vorbereitung für die Weihnachtsfeier am Gnadenhof gearbeitet. Zweifellos ist die jährliche Benefiz-Aktion für Tier-Patenschaften die dankbarste Einnahmequelle für unseren Patron. Dank dieser Aktion kann er uns ein liebevolles Zuhause bis ans Lebensende geben.”
 
Aus dem Hintergrund kam der Ruf, Gregor möge Marleys Nachfolger werden. Dieser lehnte dankend ab. Er leide doch an dieser heimtückischen Immunkrankheit, die seine Kräfte schwinden ließ. Darunter würde seine Autorität leiden, meinte er und blickte auffordernd in die Runde. Flora, die Haflingerstute, fühlte sich angesprochen und sagte zu, den Posten interimsmäßig zu übernehmen. Man einigte sich, die Wahl in der ersten Rauhnacht am Heiligen Abend abzuhalten. Nach der Segnung durch den Pfarrer und der Festtagsfütterung würde die Stimmung besser sein.
 
Der Patron des Hofes hatte nicht nur ein Herz für Tiere, er half auch Menschen mit Behinderung. Vor kurzem stellte er den gehörlosen Leo als Tierpfleger ein. Leo war ein scheuer junger Mann, dessen ganze Liebe den Tieren galt. Dem Trubel der Gäste am Heiligen Abend konnte er wenig abgewinnen. Statt am Festakt im Gutshof teilzunehmen, schlich er heimlich in den Stall, denn er wusste, in dieser Rauhnacht können Menschen die Sprache der Tiere verstehen. Vielleicht, so dachte er, gilt das auch umgekehrt? 

Leo setzte sich ins frische Stroh, zog sein Büchlein aus der Tasche und begann daraus zu lesen – in Gebärdensprache. Er hatte ein Gedicht geschrieben, sein Geschenk an die Tiere. Und siehe da, alle folgten seinen Gedanken und er konnte ihre Sprache verstehen. Leo blieb die ganze Nacht im Stall und wurde Mitglied der Kommune. Ganz ohne laute Menschenworte war allen klar: Leo soll ihr neuer Marley werden.
 


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story by Ferdinand
photo by Ferdinand

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Kommentare (5)

Eisenwein

Danke euch beiden für die Aufmerksamkeit.. 
Leider hats mich auch erwischt: Influenza! Ich kann mich kaum bewegen. Bis hoffentlich bald - Liebe Grüße! 

Muscari

@Eisenwein  

Habe Dir soeben eine PN geschrieben und wünsche Dir auch von hier aus gute Besserung. Zum Glück ist es ja keine Corona ...
Andrea

Claudine

@Eisenwein  

Oh, da wünsche ich Dir gute Besserung. Meine Tochter ist derzeit leider auch betroffen.
Claudine

Muscari


Eine ungewöhnliche, aber berührende Geschichte,
die zu Herzen geht.
Hab vielen Dank dafür.    Advent xy.jpgMit guten Wünschen zum bevorstehenden Weihnachtsfest und liebem Gruß von
Andrea


 

Claudine

@Ferdinand
Was für eine wundervolle Weihnachtsgeschichte!!! Ich bin tief gerührt... Auch vom Schreibstil her richtig gut zu lesen. DANKE! 
Einen schönen besinnlichen vierten Advent 
Claudine


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