Weihnachten

Weihnachten

Die Bushaltestelle war immer noch da, erstaunlicherweise. Alt und etwas schräg stand sie neben der Hauptstraße, die das Dorf durchquerte. Obwohl ziemlich zentral gelegen, vermittelte sie abends ein einsames Gefühl. Nur eine einzige Laterne beleuchtete die Umgebung. Die nächsten Häuser waren weiter entfernt. Wenn man der Straße folgte, gelangte man außerhalb des Dorfes zu einem See, nach dem das Dorf benannt war.

Es war schon lange nicht mehr so kalt gewesen. Die Leute wollten ihre Häuser kaum verlassen. Kurz vor Weihnachten begann es heftig zu schneien – nicht nur ein bisschen, sondern stark. Der Schnee legte das ohnehin ruhige Dorfleben lahm. Nur die Kinder waren noch begeistert und genossen den Schnee sowie die neue Freiheit auf dem zugefrorenen See.

Der Wind nahm zu und wurde stürmisch. Der Schnee fiel nun fast horizontal und verwandelte alles in bizarre Formen. Es wurde schwierig, überhaupt etwas zu erkennen.

Da stand er – die Bushaltestelle –, vertraut wie eine alte Bekannte. Er ging hinein und konnte so dem Schneetreiben entfliehen, das das Häuschen nun fast vollständig zudeckte. Die Glasfenster waren von Eisblumen und Schnee bedeckt. In dieser fast unsichtbaren Stille wartete er auf den Bus. Die Straßenverhältnisse waren prekär und ob überhaupt ein Bus kommen würde, wusste er nicht. Doch etwas hatte ihn hierher gezogen. Er hatte kein bestimmtes Ziel. Aber nun, da er hier war, fragte er sich: Warum? Warum jetzt? Er sah die erleuchteten Fenster der entfernten Häuser. Er kannte sie, aber die Bewohner waren ihm unbekannt. Es war schon zu lange her, dachte er. Fremd in seinem eigenen Haus.

Schon einmal hatte er hier im Schnee gestanden. Wie lange war das her? Eine Ewigkeit und doch fühlte es sich an wie gestern. Er war damals verliebt gewesen. Der Schnee und die Kälte hatten ihm nichts ausgemacht. Sie war jung und voller Energie gewesen, genauso wie ihre Liebe. Es war ein einziger Festtag gewesen. Die Liebe währte nicht lange, aber er hatte sie nie vergessen. Er hatte immer gehofft, sie zufällig wiederzutreffen, am Straßenrand. Er hätte dann angehalten und sie mitgenommen. Sie hätten einen Kaffee getrunken und sich ihre Lebensgeschichten erzählt. Doch dieser Wunsch war verblasst.

Er war fortgegangen, weit weg. Weihnachten hatte viele Geschichten, einige schön, einige unscheinbar. Sie erschienen ihm nun so fremd.

Er stampfte mit seinen Füßen auf den harten Boden. Er spürte sie fast nicht mehr. Er warf einen Blick durch den offenen Türrahmen nach draußen in Richtung des herannahenden Busses. Doch außer dem Wirbeln des Schnees im Licht der Laterne, das sich zu vervielfachen schien, sah er nichts. Er setzte sich. Müdigkeit überkam ihn.

Niemand war ihm mehr bekannt unter den Leuten, die er im Dorf gesehen hatte. Sie waren ihm wie Fremde. Er fühlte sich einsam. Er starrte in den rötlichen Himmel, betrachtete einzelne Schneeflocken und verfolgte ihren Weg nach unten. Es schien, als würde die Stille lauter werden, als bekäme sie einen Klang.

Es war, als ob sein Gehör schärfer wurde und alles langsamer ablief. Die Schneeflocken fielen nun wie in Zeitlupe nach unten. Er konnte jeden Kristall genau betrachten. Sie erschienen ihm größer und größer und schwebten wie strahlende Sterne zur Erde. Er war fasziniert von ihrer Leichtigkeit, ihrer Schönheit und Klarheit. Wie Edelsteine dachte er. Er hörte, wie sie auf den Boden aufschlugen. Wie wunderschön, dachte er. Er spürte die Kälte nicht mehr und fühlte sich glücklich, genauso wie damals.

Langsam und leise kam ein Auto herangefahren, fast wie auf einer Schneedecke schwebend. Ein alter, weiser VW Käfer, bedeckt mit Schnee. Seine Lichter strahlten weit voraus. Er sah, wie sich die Tür wie von Geisterhand öffnete. Sie war da, jung und voller Energie. Sie lächelte ihn an und winkte ihm zu. "Kommst du mit? Ich habe auf dich gewartet", sagte sie fröhlich. "Es ist Weihnachten."

Man gab eine Vermisstenmeldung ab. Für einen Moment wurde der alte Mann allein gelassen. Nur für einen Moment. Und das ausgerechnet an Weihnachten, bei diesem Schnee und dieser Kälte."

 

 


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