Ich sitze an einem verregneten Sonntagmorgen am Bahnsteig und warte auf den Zug.

Links von mir ist eine Brücke über die Autos fahren, rechts eine Brücke, über die Menschen gehen.
Ich bin in der Mitte, um mich herum Tauben, Spatzen und ein paar Leute, die wie ich auf den Zug warten, sonst Stille, eben Sonntagsruhe.

Ich seh den Schienenstrang entlang, der schnurgerade in der Ferne verschwindet, in Regen und Dunst.
Ich seh auf beiden Seiten von mir rote Lichter und Signale die signalisieren

„STOPP , keine Ausfahrt.“

Auf den Schienen stehen Waggon die noch beladen sind und andere, die bereits abgeladen wurden und leer sind.

Haltepunkt, Wartezeit, auf den Anschluß warten, und die Uhr der Zeit läuft unbeirrt weiter, für mich, für jeden, für alles Leben.

Der gleiche Bahnhof, gestern noch in hellem Sonnenschein, umgeben von bunten Farben und erfüllt von lautem Leben, heute grau, verregnet und still.
Ich warte auf den Zug und kenne den nächsten Haltepunkt.
Für welche Richtung ich mich dann entscheide, weiß ich noch nicht.
Jeder Zug hat seinen Anfangspunkt, je nach Dauer und Fahrt nur einige wenige oder viele Haltepunkte, aber nur einen Endpunkt, wo für ihn die Reise zu Ende ist.
Seine Aufenthalte an den Haltestellen dauern mal kurz oder lang und ist abhängig vom Gegenverkehr, von seiner eigenen Wichtigkeit im gesamten Zugverkehr, und von denen die ihn überholen.

Inzwischen sind weitere Wartende hinzugekommen.
Auch sie wollen mit dem Zug mitfahren, dessen nächstes Ziel wir kennen.
Manche gehen ungeduldig auf und ab, andere stehen fröhlich beisammen.
Wieder andere sitzen gedankenverloren auf einer Bank und schauen in die Ferne.
Manchmal kommt ein Zug und bringt andere Menschen an den Haltepunkt, an dem ich sitze.
Sie lachen, begrüßen sich, oder nehmen Abschied voneinander.
Dann verläßt der Zug den Bahnhof wieder und fährt weiter.
Manchmal bleibt jemand von denen, die ausgestiegen sind, auf dem Bahnsteig stehen und wartet mit uns. Er hat eine Teilstrecke hinter sich gebracht, wechselt jetzt die Richtung und wartet wie wir auf den nächsten Anschluss
Wieder ist Ruhe, links und rechts geht das Leben an uns vorbei und ich warte noch immer auf den Anschluss.

Es sind jetzt nur noch ein paar wenige zurückgeblieben, die auf meinen Zug warten.
Für kurze Zeit werden wir ein Stück Weg gemeinsam verbringen, uns im Abteil gegen über sitzen, miteinander reden, oder nur aus dem Fenster schauen, und uns am nächsten Haltepunkt trennen, vielleicht für immer aus den Augen verlieren und uns schon bald nicht mehr an die kurze Begegnung erinnern.

Zwei Männer kommen auf den Bahnsteig.
Der eine ist gehbehindert und redet ständig vor sich hin, der andere leidet wohl an einer Art Zwangslauf, geht ununterbrochen auf und ab, und verfällt plötzlich und ohne ersichtlichen Grund, in ein lautes glucksendes Lachen.
Sie scheinen beide sehr oft hier zu sein.
Vielleicht gehört der Bahnhof als fester Bestandteil für sie, zu ihrem Leben.

Bahnhof, was ist das eigentlich ?

Weshalb spielt der Bahnhof in meinem Leben immer wieder eine bedeutende Rolle und erweckt in mir Sehnsüchte, Gefühle und Ängste ?

Kein anderer Ort den ich kenne, birgt so vielfältige Eindrücke in sich, die die Phantasie anregen und Erinnerungen neu beleben, wie ein Bahnhof.
Verbinde ich Bahnhof nicht vielleicht mit meinem Leben, dem Leben allgemein, als einen Ort der für mich angenehm und unangenehm gleichermaßen ist ?

Bahnhof löst in mir Sehnsucht nach Reisen, Ferne, Glück, Abenteuer, Wiedersehen und Freude aus, aber auch Abschied, Trauer, Trennung und Schmerz.
Bahnhof, der Ort und das Wort erfüllen mich mit Unruhe, Ungeduld und Erwartungen.

Bahnhof lässt in mir das Bild eines Knotenpunktes entstehen, wo der Wartende, oder Reisende, jeder für sich die Entscheidung über seinen weiteren Weg und die für ihn notwendige Richtung treffen muss um den Anschluß nicht zu verpassen.

Bahnhof, Zug, Reise, sind das nicht Begriffe, mit denen ich mein Leben beschreiben kann ?

Vergleiche ich diese Vorstellung mit einem Flughafen, was ja in gewissem Sinne auch ein Knotenpunkt ist, dann fehlen mir viele Dinge, die den Bahnhof als wichtig ausweisen, oder liebenswert erscheinen lassen.
Flughafen ist ein Ort ununterbrochener Unruhe, Hektik und geschäftiger, aber gefühlsarmer Atmosphäre, und der Flug über den Wolken entrückt mich für eine bestimmte Zeit aus dem wirklichen Leben in eine Art Traum ohne Grenzen und unendlicher Weite.
Wenn ich auf dem Flugplatz stehe ist die Richtung und das Ziel festgelegt, ebenso wie der Weg zurück in mein wahres Leben. Umwege, Abweichungen, eine neue Strecke ist fast unmöglich, da ich einen festen Platz in der Gemeinschaft der Mitflieger gebucht habe.

Wie viel lebendiger und wirklicher ist dagegen Bahnhof und Zugfahrt.
Die Ruhe und Stille wird nur unterbrochen durch das Ein- und Ausfahren der Züge, die Atmosphäre ähnelt eher einem Wartezimmer oder Stehcafe; ich kann über mehrere Wege entscheiden um an den nächsten Haltepunkt zu kommen und selbst der Rückweg zu meinem Ausgangspunkt ist keine festgelegte Angelegenheit, sondern eine Entscheidung die ich erst dann treffe, wenn es Zeit ist.
Mein Weg führt nicht über das Leben hinweg, sondern mitten durch und alle Dinge die ich im Leben erleben kann, wie Glück, Trauer, Streit, Zufriedenheit und das Auf und Ab meiner Gefühle und Empfindungen, kann mir ein Bahnhof und eine Zugreise durch die Wetterverhältnisse, den Streckenverlauf, die Landschaft und die Haltepunkte vermitteln.

Abschied wird bestimmt durch das lange Winken auf dem Bahnsteig und dem langsam in der Ferne entschwindenden Zug und doch ist nicht alles plötzlich nicht mehr da, wie beim Flugzeug, dessen Kondenstreifen am Himmel immer mehr verblassen und gänzlich verschwinden.
Da ist der Bahnsteig, die Bank an dem der Abschied stattfand, da sind die Schienen auf denen jemand weggefahren ist und wann immer ich mich daran erinnern will, kann ich an diesen Platz kommen und all die Gefühle wieder aufleben lassen.

Oder sie beleben Erinnerungen an eine nette Bekanntschaft, an Mitreisende, oder Erlebnisse einer Fahrt.
Und ähnlich wie beim Abschied, spielt es sich beim Wiedersehen ab.

Ich beobachte Signale, schau gebannt auf die Uhr, mein Blick fährt die Schienen entlang bis zu jenem Punkt, wo sie sich in der Ferne, hinter einer Biegung, unter einer Brücke, in einem Tunnel, oder ganz einfach in der Ferne verlieren.

Gebannt fixiere ich den Punkt an und je näher die Ankunftszeit rückt, um so unruhiger werde ich.
Wann endlich bewegt sich an jenem Punkt etwas, wann endlich bildet sich auf den silbernen Streifen der Schienen jenes Ding, das einer Raupe gleicht, das zum Tausendfüßler wird, auf mich zukommt, Gestalt annimmt, bis es endlich neben mir hält, die Türen öffnet und Menschen ausspuckt, unter denen auch jener ist, auf den ich mit klopfendem Herzen gewartet habe.

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