„…welche am 28. Marty 1745 allhier in Radeberg Schierlings-Wurtzel ausgeraufft…“


Vom Historiker angemerkt
„…welche am 28. Marty 1745 allhier in Radeberg Schierlings-Wurtzel ausgeraufft…“
Vor 270 Jahren starben bei einer Vergiftungskatastrophe fünf Kinder
„An einigen Orten im alten Churfürstenthum Sachsen war es früher gebräuchlich, am Sonntage Laetare den Tod auszutreiben. Die Knaben machten nämlich aus Stroh eine menschliche Figur, behingen sie mit Lumpen, steckten diesen Popanz an eine Stange und trieben ihn so mit großem Geschrei und unter Absingung eines besondern Reims durch die Stadt. Sie warfen ihn dort in eine Grube und liefen dann eiligst zurück, indem der Aberglaube besagte, daß, wer von den Austreibern hinter den übrigen zurückbliebe, dieser in demselben Jahre noch sterben müsse. Am 28. März des Jahres 1745 haben nun aber an diesem sogenannten Todtensonntage neun Knaben in der Stadt Radeberg den Tod mit großem Geschrei ausgetrieben und bei einem sumpfigen Orte vor der Stadt in eine Grube geworfen, weil sie aber daselbst ein Kraut und Wurzel, die man Schierling nennt, angetroffen, und einer der Knaben, sonder Zweifel mit Eingebung des Satans, diese Wurzel ausgezogen, für eine Möhre gehalten, davon gegessen, auch einigen andern etwas gegeben mit dem Beifügen, daß, wer von der Wurzel esse, wacker laufen könne; allein da, wie bekannt, dieser Schierling pures Gift ist und die Menschen tödtet, so sind alsbald acht dieser Knaben daran erkrankt (der neunte hatte gar nichts davon genossen), auf der Gasse umgefallen, haben stark geblutet, auch einen heftigen Anfall von Epilepsie gehabt. Vier von denselben, die von der Wurzel wirklich gegessen, sind noch diesen Abend verstorben, einer hat noch bis den andern Tag gelebt, drei andere aber, denen man sogleich mit dienlichen Medicamenten beigesprungen, haben zwar lange krank gelegen, sind aber am Leben erhalten worden. Merkwürdig ist es übrigens, daß alle diese Knaben an dem erwähnten Todtensonntag Mittags um 1 Uhr mit Samuel Gläntzel’s Leiche zu Grabe gegangen waren, dann haben sie gegen 4 und 5 Uhr jenen Unfug vorgenommen und Abends gegen 8 Uhr sind die ersten vier schon todt gewesen.“
Zitiert nach dem Original von Johann Georg Theodor Grässe, Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen, Band 1, 1874.
Im Jahre 2010 veröffentlichte ich in der Reihe HeimatARCHIV des Suttonverlags unter dem Buchtitel „ Zwischen Keulenberg und Dresdner Heide“, Sagen. Legenden und Geschichten den vollständigen Text der erhalten gebliebenen Akte der gerichtlichen Untersuchung des Vorgangs. Diese wertvolle Akte ist noch heute im Archiv des Heimatmuseums „Schloss Klippenstein“ zu finden.
Das Ereignis vom 28. März 1745 war damals sachsenweit und darüber hinaus in aller Munde. Schon im Frühherbst erschien ein Traktat, das den Ablauf des Unglücks schilderte. Von entscheidender gesellschaftlicher Bedeutung war jedoch, dass es auf Drängen der Kirchenoberen zum Verbot des alten Volksbrauches kam. Und so unterzeichnete Kurfürst Friedrich August II. (als König von Polen August III.) ein entsprechendes Gesetz. Das Verbot ist dennoch lange missachtet worden, so stark verwurzelt war diese Tradition im vorösterlichen Brauchtum. Nunmehr wurde die Polizei in ganz Sachsen angewiesen, das Verbot durchzusetzen, letzte Zeugnisse lassen sich bis in die 1880er Jahre finden.
Dass das Todaustreiben eine große Akzeptanz in der Bevölkerung hatte, zeigt sich auch durch solche Namen wie „Todberg“ bei Großerkmannsdorf oder „Todbrücke“. Letztere führt bei der später errichteten „Totenmühle“ zwischen Ullersdorf und Bühlau über die Prießnitz. Übrigens hatte ich 1995 das Todaustreiben als kleines Volksfest mit dem damaligen Gastwirt Herzmann an der Totenmühle wieder belebt. Einen gleichen Versuch gab es am Anfang mit dem Radeberger Hüttertalverein. Auch wurde bei MDR ein Film über das Ereignis gedreht, bei dem ich mit Kindern der Grundschule Langebrück das Todaustreiben am Langebrücker Saubach nachstellte.
Eine Anmerkung sei mir gestattet. Es wird immer von einem Tourismuskonzept gesprochen, jedoch werden selten bis nie sogenannte „Alleinstellungsmerkmale“ aus den historischen Abläufen genutzt. Das Todaustreiben als Anlass für einen ereignisreichen Tag unter Zugrundelegung jenes historischen Kontextes, wäre eine gute Gelegenheit. Stadtrundgänge zum 200. Jahrestag des Aufenthaltes von Napoleon in Radeberg oder die Erinnerung an den Stadtbrand von 1714 im vergangenen Jahr zeigen solche Potentiale auf. Es muss nur gewollt und dann organisiert werden.

haweger

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