Vergangenheit - verloren am Straßenrand


Vergangenheit - verloren am Straßenrand

Ich habe sie verloren. Meine Vergangenheit. Am Rand der Straße. Es gibt mich nicht mehr. Mich. Ulrike, 9 Jahre. Ich habe den Arm um die Schulter meines um einen Kopf kleineren Bruders Ulrich gelegt. Er ist 6. Beide tragen wir einen mit der Strickmaschine gestrickten Pullover. Meine Mutter war so fleißig. Damals. Auch sie ist Bestandteil dieser Vergangenheit, wenn man sie auch nicht sieht.

Ulrich und Ulrike. Auf dem Flur der kleinen Dachwohnung. Ein roter Läufer von der Küchentür bis zur Schlafzimmertür. Links die Garderobenwand mit weißen Haken auf braunem Untergrund, der geschmackvoll mit Holzfurniermatten beklebt ist. Muttis Mantel, Vatis Hut hängen dort. Auch Vati ist Bestandteil der Vergangenheit. Dieses Augenblicks. Vor der Wand steht ein kleines Schränkchen – der damaligen Einrichtungsmode folgend – auf dünnen schrägen schwarzen Beinchen. Eine Klappe hat das Schränkchen nur. Der Korpus des Schränkchens besteht aus warmdunklem Holz, die Klappe steht im Kontrast dazu, ist mit unregelmäßigen Intarsienpunkten in Rot, Blau, Grün verziert.
 

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Noch vor einem Jahr war dieses Schränkchen meine Gegenwart. Ich fand es im Elternhaus. Im Keller. Mit noch immer demselben Inhalt. Leuchtendblaue Polyesterhandschuhe, mit denen ich viele Schneebälle geformt hatte, ein rotweißer Schal, selbstgestrickt, quadratische Chiffontüchlein in Gelb, Hellgrün, Weiß, Vatis Lederhandschuhe, abgenutzt vom vielen Tragen. Spuren seines Lebens. Alles vergangen.

Auf dem Flur stehen wir. Ulrich und Ulrike. Beide in Hauspantoffeln. Bunt. Samten. Flach. Rechts die Nische, die zum Badezimmer führt. Die Küchentür ist im Hintergrund zu sehen.

Ich schließe die Augen.

Dieser Flur, dieser rote Läufer. Auf dem ich nach Weihnachten die neuen Rollschuhe mit den modernen Gummirollen erprobt habe, weil ich im Fernsehen Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler übers Eis hatte schweben sehen. Sooo wollte ich auch – schweben. Mit meinen Rollschuhen. Ich. Ulrike. Fühlte mich wie Marika.

Ich lasse die Augen zu.

Ich sehe den Flur in Dunkelheit getaucht. Ich schleiche mich aus dem Kinderzimmer ins Bad. Ist Vati schon auf? Er muss gleich zur Arbeit. Durch das Ribbelglas der Küchentür fällt Licht auf den Flur. Wenn ich mich gewaschen habe, wird er schon die Wohnung verlassen haben. Ich mag nicht mit ihm zusammen frühstücken. Weil ich morgens vor der Schule nichts frühstücken mag. Und das mag er nicht.
Es ist nicht mehr da.

All dies … der Läufer, das Schränkchen, die Garderobe, die Küchentür, das verweigerte Frühstück, Erinnerungen … auch die werden verschwinden.

“Guck mal, was ich auf der Straße gefunden habe”, sagt mein Mann, nachdem er die Tür zum Esszimmer geöffnet hat. Er hält mir etwas entgegen. Ein Dia. Auf dem sehe ich Ulrike und Ulrich. Heute war Müllabfuhr. Das Dia hatte mein Mann vor ein paar Wochen eingescannt. In den Müll getan.

„Tja und?“, frage ich.

“Hey, da seid ihr drauf zu sehen“, sagt er.

“Na und?”, sage ich. “Die zwei gibt es doch gar nicht mehr …”


U und U incognito 😎 😎

1963 ca. U-U in Holterdorf.jpg

 


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Kommentare (2)

Ulrike Nikolai

Hallo ladybird,

herzlichen Dank für Deinen Kommentar! Es freut mich, wenn ich Erinnerungen bei Dir wachrufen konnte.

Manchmal hat man doch das Gefühl, es sei alles erst gestern gewesen. Und dabei ist das neue Jahrhundert schon fast wieder zu einem Viertel verstrichen.

Wenn Du solche alten Sachen magst, kannst Du ja mal mein Zeitspurenentdeckerblog besuchen. Da habe ich ganz viel von altem Spielzeug erzählt.

Spielzeug 
Viel Spaß beim möglichen Wiedererkennen!

Liebe Grüße, Ulrike

 

ladybird

Liebe Ulrike,
lieben Dank für Deine/Eure Vergangenheit in die ich völlig "eingetaucht" bin, auch ich kenne diese Art von Schränkchen und den Eistanz von Marika Kilius und Jürgen Bäumler.......außerdem kenne ich auch "Dias", vor allen Dingen, wenn sie verkehrt herum ein sortiert waren,lach....
mit Freude gelesen
grüßt
ladybird


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