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Literatur Ein vergessenes Gedicht von einem vergessenen Dichter

Milan
Milan
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Ein vergessenes Gedicht von einem vergessenen Dichter
geschrieben von Milan
Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein

Bet′ und arbeit′! ruft die Welt,
bete kurz! denn Zeit ist Geld.
An die Türe pocht die Not -
bete kurz! denn Zeit ist Brot.

Und du ackerst und du säst,
und du nietest und du nähst,
und du hämmerst und du spinnst -
sag′ o Volk, was du gewinnst!

Wirkst am Webstuhl Tag und Nacht,
schürfst im Erz- und Kohlenschacht,
füllst des Überflusses Horn,
füllst es hoch mit Wein und Korn.

Doch wo ist dein Mahl bereit?
Doch wo ist dein Feierkleid?
Doch wo ist dein warmer Herd?
Doch wo ist dein scharfes Schwert?

Alles ist dein Werk! o sprich,
alles, aber nichts für dich!
Und von allem nur allein,
die du schmied′st die Kette dein?

Kette, die den Leib umstrickt,
die dem Geist die Flügel knickt,
die am Fuß des Kindes schon
klirrt - o Volk, das ist dein Lohn.

Was ihr hebt ans Sonnenlicht,
Schätze sind es für den Wicht;
was ihr webt, es ist der Fluch
für euch selbst - ins bunte Tuch.

Was ihr baut, kein schützend Dach
hat′s für euch und kein Gemach;
was ihr kleidet und beschuht,
tritt auf euch voll Übermut.

Menschenbienen, die Natur
gab sie euch den Honig nur?
Seht die Drohnen um euch her!
Habt ihr keinen Stachel mehr?

Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
wenn dein starker Arm es will.

Deiner Dränger Schar erblaßt,
wenn du, müde deiner Last,
in die Ecke lehnst den Pflug,
wenn du rufst: Es ist genug!

Brecht das Doppeljoch entzwei!
Brecht die Not der Sklaverei!
Brecht die Sklaverei der Not!
Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!

Georg Herwegh
(* 31.05.1817 , † 07.04.1875)

Gillian
Gillian
Mitglied

Re: Ein vergessenes Gedicht von einem vergessenen Dichter
geschrieben von Gillian
als Antwort auf Milan vom 16.12.2011, 12:36:29
Hallo Milan,
mag Georg Herwegh in der heutigen Zeit nicht so oft publiziert werden, so denke ich doch nicht, dass er total vergessen ist. Deine Erinnerung an ihn trägt auch dazu bei, dass seine Verse wieder in unser Gedächtnis kommen.
Vor allem der "drittletzte" Abschnitt ist mir wohlbekannt:

Mann der Arbeit, aufgewacht
und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
wenn dein starker Arm es will.

Das sind eindrucksvolle Worte, die der Arbeiterklasse seiner Zeit Selbstbewusstsein vermitteln sollten und zu einer Art fester Redewendung geworden sind, die auch heute noch eine gewisse Berechtigung hat.
G.

hema
hema
Mitglied

Re: Ein vergessenes Gedicht von einem vergessenen Dichter
geschrieben von hema
als Antwort auf Milan vom 16.12.2011, 12:36:29
Milan, dieses Gedicht, ca. 150 Jahre alt passt leider auch in die heutige Zeit. Der Druck in der Arbeitswelt ist wieder unerträglich geworden. Menschen getrauen sich nicht mehr krank zu melden, weil sie Angst haben entlassen zu werden.

Burn-out in allen "Klassen". Vom Manager angefangen bis zum Hilfsarbeiter. Ob wir uns das wohl gewünscht haben?

Und wir Alten was sagen wir? Danke, dass wir nicht mehr arbeiten müssen.

Aber:

Zitat des Tages, 30.12.2011:

"Alt ist man dann, wenn man an der Vergangenheit mehr Freude als an der Zukunft hat."

John Knittel (1891-1970)
schweizer. Schriftsteller


Ein guten Neues Jahr wünscht
Hema



Milan
Milan
Mitglied

Re: Ein vergessenes Gedicht von einem vergessenen Dichter
geschrieben von Milan
als Antwort auf hema vom 30.12.2011, 11:23:47
Lumpenlied


Kein Schlips am Hals, kein Geld im Sack,
wir sind ein schäbges Lumpenpack,
auf das der Bürger speit.
Der Bürger blank von Stiebellack,
mit Ordenszacken auf dem Frack,
der Bürger mit dem Chapeau claque,
fromm und voll Redlichkeit.

Der Bürger kann gesittet sein,
er lernte Bibel und Latein. –
Wir lernen nur den Neid.
Wer Porter trinkt und Schampus-Wein,
lustwandelt fein im Sonnenschein,
der bürstet sich, wenn unserein
ihn anrührt mit dem Kleid.

Wo hat der Bürger alles her:
den Geldsack und das Schießgewehr?
Er stiehlt es grad wie wir.
Bloß uns macht man das Stehlen schwer.
Doch er kriegt mehr als sein Begehr.
Er schröpft dazu die Taschen leer
von allem Arbeitstier.

Oh, wär ich doch ein reicher Mann,
der ohne Mühe stehlen kann,
gepriesen und geehrt.
Träf ich euch auf der Straße dann,
ihr Strohkumpane, Fritz, Johann,
ihr Lumpenvolk, ich spie euch an. –
das seid ihr Hunde wert.

Erich Mühsam

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