Literatur Schöne Lyrik

Roxanna
Roxanna
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
DSC04898.JPG

Augen in der Großstadt

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück . . .
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hasts gefunden,
nur für Sekunden . . .
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück …
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber . . .
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

Kurt Tucholsky



Roxanna
Bias
Bias
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Bias
Zum Wochenausklang



Dies ist Wahrheit; darum zäumen
wollen wir den rauhen Mut,
diesen Ehrgeiz, diese Wut,
wenn wir wieder einmal träumen.

Wohl geschieht's; denn in den Räumen
dieser Wunderwelt ist eben
nur ein Traum das ganze Leben;
und der Mensch (das seh ich nun)
träumt sein ganzes Sein und Tun,
bis zuletzt die Träum entschweben.

König sei er, träumt der König;
und in diesen Wahn versenkt,
herrscht, gebietet er und lenkt.
Alles ist ihm untertänig;
doch es bleibt davon ihm wenig,
denn sein Glück verkehrt der Tod
schnell in Staub (o bittre Not!);
wen kann Herrschaft lüstern machen,
der da weiß, daß ihm Erwachen
in des Todes Traume droht?

Auch der Reiche träumt; ihm zeigen
Schätze sich, doch ohne Frieden.
Auch der Arme träumt hienieden,
er sei elend und leibeigen.[134]
Träumet, wer beginnt zu steigen;
träumet, wer da sorgt und rennt;
träumet, wer von Haß entbrennt;
kurz, auf diesem Erdenballe
träumen, was sie leben, alle,
ob es keiner gleich erkennt.

So auch träumt mir jetzt, ich sei
hier gefangen und gebunden;[135]
und einst träumte mir von Stunden,
da ich glücklich war und frei.

Was ist Leben? Raserei!
Was ist Leben? Hohler Schaum,
ein Gedicht, ein Schatten kaum!
Wenig kann das Glück uns geben;
denn ein Traum ist alles Leben,
und die Träume selbst ein Traum.

Kann man so sehen, wie einst Calderòn de la Barca - man muss es aber nicht.
Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna


Roxanna

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Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
Allerlei 066.JPG
 
Wenn es nur einmal so ganz still wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen :

Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.

Rainer Maria Rilke


Roxanna
Lorena
Lorena
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Lorena
als Antwort auf Roxanna vom 10.05.2021, 14:25:03

Liebe @Roxanna

Von Rainer Maria Rilke wieder ein sehr passendes Gedicht zum schönen Foto Blick auf Kloster St. Ulrich
in St. Ulrich/Bollschweil. 
Diesen Rundweg - er nennt sich Lebensweg - bin ich auch schon 2 Mal gelaufen. 
Einmal im Frühling, einmal im Herbst, da war er am schönsten. Dort bin ich dann hinauf auf das Geiersnest gewandert. War schön, aber anstrengend und steil, musste ja wieder zurück, der Bus fährt nur alle 3 Stunden. 17 Uhr das letzte Mal. Vom Dorf aus im Sommer immerhin jede Stunde unter der Woche.

Auch eine Klosterbesichtigung mit Führung lohnt sich sehr. Aber wenn nicht, ist es auch schön dort im Garten und den vielen Gemüsebeeten herumzulaufen. Es stört niemanden. Und die Kirche außerhalb des Kloster ist auch sehr sehenswert. Die Kapelle im Kloster ist leider nur mit der Führung zu betreten. 

Wenn ich solche Fotos sehe, Roxanna, dann könnt ich weinen, was man so in einem Jahr vermissen muss wegen Corona. Hoffentlich hat das alles mal ein Ende. 

LG Lorena 

 
Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
als Antwort auf Lorena vom 10.05.2021, 15:39:40

Liebe Lorena,

nach St. Ulrich wollte ich auch schon lange wieder mal, aber das auf dem Foto ist St. Trudpert im Münstertal. Das Münstertal mit seinen vielen Seitentälern ist auch wunderschön zum Wandern.

DSC02811.JPG
Text von Joseph von Eichendorff, Musik von Felix Medelssohn-Bartholdy
 


LG
Roxanna
 

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Lorena
Lorena
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Lorena
als Antwort auf Roxanna vom 10.05.2021, 16:27:05

Oh ja, das stimmt @Roxanna,

das habe ich jetzt verwechselt. Ich kenne ja beides.
Wird höchste Zeit, dass ich wieder mal hinkomme.
Münstertal sowieso, wollte schon lang mal wieder auf den Belchen.

Aber ohne Auto schwer zu erreichen und der Bus fährt auch nicht oft
zur Bergbahn. 

Vielleicht klappts ja bis zum Herbst mit der Öffnung. 

LG Lorena
Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
DSC02585 (2).JPG


Der Welt Gesicht sind aller Welt Gesichter

Die Welt hat kein Gesicht von greifbarer Gestalt.
Vor einem Kind malt sie sich stolz und wie ein Held,
Vor einem Greise ohne Durst, wie tausendjährig Holz so alt,
Den Dummen quält die Welt stets kopfgestellt.
Dem Kühlen und dem Stummen ist sie kalt versteint,
Die Schwachen fühlen sie als Tränensack, der greint.
Dem Trotzigen ist sie voll Mühlen, gegen die er ficht,
Dem Gütigen stets wohlgemeint voll Schwergewicht,
Dem Richter ist sie ewiges Weltgericht.
Ein unwirklich und tief Gedicht ist sie dem Dichter,
Verliebten lieblos oder voller Liebe;
Der Welt Gesicht sind aller Welt Gesichter.

Max Dauthendey

 


Roxanna
Mitglied_6d29e9d
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Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
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Ach Liebste, lass uns eilen,
Wir haben Zeit:
Es schadet das Verweilen
Uns beiderseit.

Der edlen Schönheit Gaben
Fliehn Fuß für Fuß,
Daß alles, was wir haben,
Verschwinden muss.

Der Wangen Zier verbleichet
Das Haar wird greis,
Der Äuglein Feuer weichet,
Die Brunst wird Eis.

Das Mündlein von Korallen
Wird ungestalt,
Die Händ als Schnee verfallen,
Und du wirst alt.

Drum lass uns jetzt genießen
Der Jugend Frucht,
Eh denn wir folgen müssen
Der Jahre Flucht.

Wo du dich selber liebest,
So liebe mich,
Gib mir, dass, wann du gibest
Verlier auch ich.

Martin Opitz, 1624
((* 23.12.1597, † 20.08.1639)
Roxanna
Roxanna
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
DSC00311.JPG

Die Freuden


Es flattert um die Quelle
Die wechselnde Libelle,
Mich freut sie lange schon;
Bald dunkel und bald helle,
Wie der Chamäleon,
Bald rot, bald blau,
Bald blau, bald grün;
O dass ich in der Nähe
Doch ihre Farben sähe!

Sie schwirrt und schwebet, rastet nie!
Doch still, sie setzt sich an die Weiden.
Da hab ich sie! Da hab ich sie!
Und nun betracht ich sie genau,
Und seh ein traurig dunkles Blau -
So geht es dir, Zergliedrer deiner Freuden!



Johann Wolfgang von Goethe
 

Roxanna

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