Literatur Schöne Lyrik

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Sirona vom 13.06.2017, 11:15:03


Der sprachlose Papagei

Ein Kaufmann einen Papagei vor Jahren
besaß, in Sang und Rede wohl erfahren.
Der saß als Wächter an des Ladens Pforte
und sprach zu jedem Kunden kluge Worte.
Denn wohl der Menschenkinder Sprache kannt' er,
doch seinesgleichen Weisen auch verstand er.
Vom Laden ging nach Haus einst sein Gebieter
und ließ den Papagei zurück als Hüter.
Ein Kätzlein plötzlich in den Laden sprang,
um eine Maus zu fangen; todesbang,
flatterte hin und her der Papagei
und stieß ein Glas mit Rosenöl entzwei.
Von seinem Hause kam der Kaufmann wieder
und setzte sorglos sich im Laden nieder.
Da sah er Rosenöl allüberall,
im Zorn schlug er das Haupt des Vogels kahl.
Die Zeit verstrich, der Vogel sprach nicht mehr.
Da kam die Reu', der Kaufmann seufzte schwer.
Raufte sich den Bart und rief: "Weh mir umsponnen
ist mit Gewölk die Sonne meiner Wonnen!
Wär' mir, da auf den Redner ich den bösen
Schlag ausgeführt, doch lahm die Hand gewesen!"
Wohl gab er frommen Bettlern reiche Spende,
auf daß sein Tier die Sprache wiederfände;
umsonst! Als er am vierten Morgen klagend,
in tausend Sorgen, was zu machen sei,
daß wieder reden mög' sein Papagei,
ließ sich mit bloßem Haupt ein Büßer blicken,
den Schädel glatt wie eines Beckens Rücken.
Da hub der Vogel gleich zu reden an
und rief dem Derwisch zu: "Sag lieber Mann,
wie wurdest Kahlkopf du zum Kahlen? sprich!
Vergossest du vielleicht auch Öl wie ich?"
Man lachte des Vergleichs, daß seine Lage
der Vogel auf den Derwisch übertrage.

Dschalal ad-Din Muhammad Rumi
(1207 - 1273)
Roxanna
Roxanna
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna



Von schönen Lippen fortgedrängt

Von schönen Lippen fortgedrängt, getrieben
Aus schönen Armen, die uns fest umschlossen!
Ich wäre gern noch einen Tag geblieben,
Da kam der Schwager schon mit seinen Rossen.

Das ist das Leben, Kind! ein ewig Jammern,
Ein ewig Abschiednehmen, ew'ges Trennen!
Konnt' denn dein Herz das mein'ge nicht umklammern?
Hat selbst dein Auge mich nicht halten können?

Heinrich Heine
Re: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Roxanna vom 17.06.2017, 14:23:16
Rosen(Clematis)


Das Rosen-Innere

Wo ist zu diesem Innen
ein Außen? Auf welches Weh
legt man solches Linnen?
Welche Himmel spiegeln sich drinnen
in dem Binnensee
dieser offenen Rosen,
dieser Sorglosen, sieh:
wie sie lose im Losen
liegen, als könnte nie
eine zitternde Hand sie verschütten.
Sie können sich selber kaum
halten; viele ließen
sich überfüllen und fließen
über von Innenraum
in die Tage, die immer
voller und voller sich schließen,
bis der ganze Sommer ein Zimmer
wird, ein Zimmer in einem Traum.

Rainer Maria Rilke
4. 12. 1875-29. 12. 1926

Clematis

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Re: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 20.06.2017, 09:35:33
Brunnen(Clematis)


Der Brunnen im Kloster Hirsau

Der römische Brunnen

Aufsteigt der Strahl und fallend giesst
er voll der Marmorschale Rund,
die, sich verschleiernd, überfliesst
in einer zweiten Schale Grund;
die zweite gibt, sie wird zu reich,
der dritten wallend ihre Flut,
und jede nimmt und gibt zugleich
und strömt und ruht.

Conrad Ferdinand Meyer
1825-1898

Welch eine Philosophie in diesem kleinen Gedicht!

Clematis
Roxanna
Roxanna
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 22.06.2017, 08:02:44


Abseits

Es ist so still; die Heide liegt
Im warmen Mittagssonnenstrahle,
Ein rosenroter Schimmer fliegt
Um ihre alten Gräbermale;
Die Kräuter blühn; der Heideduft
Steigt in die blaue Sommerluft.

Laufkäfer hasten durchs Gesträuch
In ihren goldnen Panzerröckchen,
Die Bienen hängen Zweig um Zweig
Sich an der Edelheide Glöckchen;
Die Vögel schwirren aus dem Kraut -
Die Luft ist voller Lerchenlaut.

Ein halbverfallen niedrig Haus
Steht einsam hier und sonnbeschienen;
Der Kätner lehnt zur Tür hinaus,
Behaglich blinzelnd nach den Bienen;
Sein Junge auf dem Stein davor
Schnitzt Pfeifen sich aus Kälberrohr.

Kaum zittert durch die Mittagsruh
Ein Schlag der Dorfuhr, der entfernten;
Dem Alten fällt die Wimper zu,
Er träumt von seinen Honigernten.

Theodor Storm
Re: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Roxanna vom 23.06.2017, 08:54:56
Summ, summ, summ!
Bienchen summ herum!
Ei, wir tun dir nichts zu leide,
flieg nur aus in Feld und Heide!
Summ, summ, summ!
Bienchen summ herum!

Summ, summ, summ!
Bienchen summ herum!
Such in Blüten, such in Blümchen,
dir ein Tröpfchen, dir ein Krümchen.
Summ, summ, summ!
Bienchen summ herum!

Summ, summ, summ!
Bienchen summ herum!
Kehre heim mit reicher Habe,
bau uns manche volle Wabe.
Summ, summ, summ!
Bienchen summ herum!

August Hoffmann von Fallersleben
1798-1874



Clematis

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Sirona
Sirona
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona


Einsamkeit
Hermann von Lingg (1820-1905)

Wie lang schon trat niemand mehr ein
in dieses stille Zimmer;
nur hier das bisschen Sonnenschein
glänzt heute noch wie immer.

Und alles ringsum aufgeräumt
und wie ich's sonst gefunden;
die Wanduhr nur steht still und träumt
von längst vergang’nen Stunden.

Wie still es ist! Nur dann und wann
der Sommerfliege Summen.
hier saß ich oft allein und sann
in innerem Verstummen.

Entmutigt sein, wenn alles hofft,
wenn alles lebt, gebunden –
ich kenne sie, ich hab' sie oft
gefühlt, die bittern Stunden!

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Sirona vom 28.06.2017, 10:56:20
Garten(Clematis)


Dein ist alles, all der Blumen blühen,
wenn hervor sie aus dir selber glühen.
All die Rosenknospen hier auf Erden,
wenn sie Rosen in dir selber werden.

Dein ist alles, all der Lieder singen,
wenn heraus sie aus dir selber klingen.
Jeder Schlag der Philomele,
wenn er hallt aus deiner eignen Seele.

Dein ist alles, was ob Tal und Hügeln,
lichtvoll sich in dir mag widerspiegeln.
All die Himmel selbst und selbst die Sterne,
wenn du Glanz hast für den Glanz der Ferne.

Dein ist alles, all und jede Wonne,
wenn sie aufgeht dir als eigne Sonne.
Jeder Tag vom Licht emporgetragen,
wenn er aufgeht dir als eignes Tagen.

Christian Wagner
5. 8. 1835-15. 2. 1918
Rosen(Clematis)


Clematis
Roxanna
Roxanna
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna



Wer vom Ziel nicht weiß

Wer vom Ziel nicht weiß,
kann den Weg nicht haben,
wird im selben Kreis
all sein Leben traben;
kommt am Ende hin,
wo er hergerückt,
hat der Menge Sinn
nur noch mehr zerstückt.

Wer vom Ziel nichts kennt,
kann's doch heut erfahren;
wenn es ihn nur brennt
nach dem Göttlich-Wahren;
wenn in Eitelkeit
er nicht ganz versunken
und vom Wein der Zeit
nicht bis oben trunken.

Denn zu fragen ist
nach den stillen Dingen,
und zu wagen ist,
will man Licht erringen:
wer nicht suchen kann,
wie nur je ein Freier,
bleibt im Trugesbann
siebenfacher Schleier.


Christian Morgenstern
Sirona
Sirona
Mitglied

Re: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona


Das menschliche Leben
Fr. Hölderlin

Menschen, Menschen! was ist euer Leben,
eure Welt, die tränenvolle Welt,
dieser Schauplatz, kann er Freuden geben,
wo sich Trauern nicht dazu gesellt?
O! die Schatten, welche euch umschweben,
die sind euer Freudenleben.

Tränen, fließt! o fließet, Mitleidstränen,
Taumel, Reue, Tugend, Spott der Welt,
Wiederkehr zu ihr, ein neues Sehnen,
banges Seufzen, das die Leiden zählt,
sind der armen Sterblichen Begleiter,
o, nur allzu wenig heiter!

Banger Schauer faßt die trübe Seele,
wenn sie jene Torenfreuden sieht,
Welt, Verführung, manches Guten Hölle,
flieht von mir, auf ewig immer flieht!
Ja gewiß, schon manche gute Seele hat, betrogen,
euer tötend Gift gesogen.

Wann der Sünde dann ihr Urteil tönet,
des Gewissens Schreckensreu sie lehrt,
wie die Lasterbahn ihr Ende krönet,
Schmerz, der ihr Gebein versehrt!
Dann sieht das verirrte Herz zurücke;
Reue schluchzen seine Blicke.

Und die Tugend bietet ihre Freuden
gerne Mitleid lächelnd an,
doch die Welt - bald streut sie ihre Leiden
auch auf die zufrieden heitre Bahn:
weil sie dem, der Tugendfreuden kennet,
sein zufrieden Herz nicht gönnet.

Tausend mißgunstvolle Lästerungen
sucht sie dann, daß ihr die Tugend gleicht;
beißend spotten dann des Neides Zungen,
bis die arme Unschuld ihnen weicht;
kaum verflossen etlich Freudentage,
sieh, so sinkt der Tugend Waage.

Etlich' Kämpfe - Tugend und Gewissen -
nur noch schwach bewegen sie das Herz,
wieder umgefallen! - und es fließen
neue Tränen, neuer Schmerz!
O du Sünde, Dolch der edlen Seelen,
muß denn jede dich erwählen?

Schwachheit, nur noch etlich' Augenblicke,
so entfliehst du, und dann göttlich schön
wird der Geist verklärt, ein bess'res Glücke
wird dann glänzender mein Auge sehn;
bald umgibt dich, unvollkommne Hülle,
dunkle Nacht, des Grabes Stille.

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