Literatur Schöne Lyrik

Milan
Milan
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RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Milan

Reformation
Im Bauch der Pyramide tief begraben,
In einer Mumie schwarzer Totenhand
War's, daß man alte Weizenkörner fand,
Die dort Jahrtausende geschlummert haben.

Und prüfend nahm man diese seltnen Gaben
Und warf sie in lebendig Ackerland,
Und siehe da! Die gold'ne Saat erstand,
Des Volkes Herz und Auge zu erlaben!

So blüht die Frucht dem späten Nachweltskinde,
Die mit den Ahnen schlief in Grabes Schooß;
Das Sterben ist ein endlos Aufersteh'n.

Wer hindert nun, daß wieder man entwinde
Der Kirche Mumienhand, was sie verschloß,
Das Korn des Wortes, neu es auszusä'n?


  Gottfried Keller . 1819 - 1890

 
Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona
 
 
Allerheiligen
Regine Merkle (1875-1903)

Grau ist der Himmel, die Wolken jagen
am Himmelszelte so hoch und weit;
hörst durch die Bäume den Sturmwind klagen
über vergangene Herrlichkeit?

Ach, der Sommer, er ist vergangen,
nirgends sieht man ein Blümlein mehr blühn.
Mich beschleicht ein wehmütiges Bangen,
alles ist jetzt dahin, dahin.

Heute am Allerheiligentage
denkt man der lieben Toten sein,
welche dort ruhen im kühlen Grabe,
frei nun von allem Leid und Pein.

Was wir jetzt tun, das taten einst diese:
Streben nach dem vermeintlichen Glück.
O, wie mag schmecken der Schlummer so süße
nach so viel herbem Missgeschick!

Hier auf der Erde, da herrscht ein Gedränge
und ein Rennen und Jagen und Hast,
drunten genügt uns ein Kämmerlein enge
zum friedlichen Schlafe, zur ewigen Rast.

Dürre Blätter herüberfliegen
über den Friedhof, vom Winde zerstreut;
bald werden wir auch unterm Rasen liegen;
denn ein Traum ist die Lebenszeit.



 
Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona

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Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna


Nachruf an meinen Bruder

 
Ach, daß auch wir schliefen!
Die blühenden Tiefen,
Die Ströme, die Auen
So heimlich aufschauen,
Als ob sie all riefen:
"Dein Bruder ist tot!
Unter Rosen rot
Ach, daß wir auch schliefen!"
 
"Hast doch keine Schwingen,
Durch Wolken zu dringen!
Mußt immerfort schauen
Die Ströme, die Auen -
Die werden dir singen
Von ihm Tag und Nacht,
Mit Wahnsinnesmacht
Die Seele umschlingen."
 
So singt, wie Sirenen,
Von hellblauen, schönen
Vergangenen Zeiten,
Der Abend vom weiten
Versinkt dann im Tönen,
Erst Busen, dann Mund,
Im blühenden Grund.
O schweiget Sirenen!
 
O wecket nicht wieder!
Denn zaubrische Lieder
Gebunden hier träumen
Auf Feldern und Bäumen,
Und ziehen mich nieder
So müde vor Weh
Zu tiefstillem See -
O weckt nicht die Lieder!
 
Du kanntest die Wellen
Des Sees, sie schwellen
In magischen Ringen.
Ein wehmütig Singen
Tief unter den Quellen
Im Schlummer dort hält
Verzaubert die Welt.
Wohl kennst du die Wellen.
 
Kühl wird's auf den Gängen,
Vor alten Gesängen
Möcht's Herz mir zerspringen.
So will ich denn singen!
Schmerz fliegt ja auf Klängen
Zu himmlischer Lust,
Und still wird die Brust
Auf kühl grünen Gängen.
 
Laß fahren die Träume!
Der Mond scheint durch Bäume,
Die Wälder nur rauschen,
Die Täler still lauschen,
Wie einsam die Räume!
Ach, niemand ist mein!
Herz, wie so allein!
Laß fahren die Träume!
 
Der Herr wird dich führen.
Tief kann ich ja spüren
Der Sterne still Walten.
Der Erde Gestalten
Kaum hörbar sich rühren.
Durch Nacht und durch Graus
Gen Morgen, nach Haus -
Ja, Gott wird mich führen.


Joseph Freiherr von Eichendorff
RE: Schöne Lyrik
geschrieben von ehemaliges Mitglied

Novembertag

Nebel hängt wie Rauch ums Haus,
drängt die Welt nach innen,
ohne Not geht niemand aus,
alles fällt in Sinnen.

Leiser wird die Hand, der Mund,
stiller die Gebärde.
Heimlich, wie am Meeresgrund
träumen Mensch und Erde.

Christian Morgenstern
1871-1914

Clematis

 
Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna


Manche Nacht


Wenn die Felder sich verdunkeln,
fühl ich, wird mein Auge heller;
schon versucht ein Stern zu funkeln,
und die Grillen wispern schneller.

Jeder Laut wird bilderreicher,
das Gewohnte sonderbarer,
hinterm Wald der Himmel bleicher,
jeder Wipfel hebt sich klarer.

Und du merkst es nicht im Schreiten,
wie das Licht verhundertfältigt
sich entringt den Dunkelheiten,
plötzlich stehst du überwältigt.
 
Richard Dehmel

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SamuelVimes
SamuelVimes
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von SamuelVimes
Herbsttag
von Rainer Maria Rilke
 
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;

gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rezitationen: 
 

 


LG
Sam
Roxanna
Roxanna
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Roxanna


Die Zeit ist hin


 
Die Zeit ist hin; du löst dich unbewußt
Und leise mehr und mehr von meiner Brust;
Ich suche dich mit sanftem Druck zu fassen,
Doch fühl' ich wohl, ich muß dich gehen lassen.

So laß mich denn, bevor du weit von mir
Ins Leben gehst, noch einmal danken dir;
Und magst du nie, was rettungslos vergangen,
In schlummerlosen Nächten heimverlangen.

Hier steh' ich nun und schaue bang zurück;
Vorüberrinnt auch dieser Augenblick,
Und wieviel Stunden dir und mir gegeben,
Wir werden keine mehr zusammenleben.


Theodor Storm
SamuelVimes
SamuelVimes
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von SamuelVimes
als Antwort auf Roxanna vom 25.11.2017, 10:37:55
Glücklich allein
(Johann Wolfgang v. Goethe)

Freudvoll und leidvoll,
gedankenvoll sein,
hangen und bangen
in schwebender Pein;
himmelhoch jauchzend,
zum Tode betrübt;
glücklich allein
ist die Seele, die liebt.







Schwabens Mägdelein
(Friedrich Hölderlin)

So lieb wie Schwabens Mägdelein
Gibts keine weit und breit,
Die Engel in dem Himmel freun
Sich ihrer Herzlichkeit.

Mir war noch immer wohl zu Sinn,
So lang ich bei ihr war,
Bei meiner Herzenskönigin
Im blonden Lockenhaar.

Sie blickt des lieben Herrgotts Welt
So traut, so freundlich an
Und geht gerad und unverstellt
Den Lebensweg hinan.

Die Blumen wachsen sichtbarlich,
Wenn sie das Land begießt,
Es beuget Birk und Erle sich,
Wenn sie den Hain begrüßt.

Entgegen hüpft ihr jedes Kind
Und schmiegt sich traulich an,
Die Mütter in dem Dorfe sind
Ihr sonders zugetan.

Es freun sich alle, fern und nah,
Die meine Holdin sehn,
Du lieber Gott! wie sollt ich da
Die süße Minne schmähn.

Nicht minder lob ich alle mir
Die Schwabenmägdelein
Und tracht im Herzen für und für
Mich ihrer Gunst zu freun.

Und zieh ich einst um Ruhmsgewinn
In Helm und Harnisch aus -
Kommt ihr, ihr Lieben, mir in Sinn,
Stracks kehrt der Held nach Haus.

Und trauft mir einst von Honigseim
Das Land Arabia,
So ruft: Herr Schwabe, komm er heim!
Flugs bin ich wieder da.

Wes Herz die Holdin nicht verehrt,
Der höre meinen Hohn,
Er ist des Vaterlands nicht wert,
Er ist kein Schwabensohn.

Er schmähe mir die Minne nicht,
Die Minne treu und rein;
Es spricht der Tor: Die Rose sticht,
Laß Rose Rose sein.


LG
Sam
 
Sirona
Sirona
Mitglied

RE: Schöne Lyrik
geschrieben von Sirona

Abendempfindung 
Joachim Heinrich Campe (1746 – 1818)

Abend ist's, die Sonne ist verschwunden, 
und der Mond strahlt Silberglanz; 
so entfliehn des Lebens schönste Stunden, 
fliehn vorüber wie im Tanz. 

Bald entflieht des Lebens bunte Szene, 
und der Vorhang rollt herab; 
aus ist unser Spiel, des Freundes Träne 
fließet schon auf unser Grab. 

Bald vielleicht mir weht wie Westwind leise, 
eine stille Ahnung zu, 
schließ ich dieses Lebens Pilgerreise, 
fliege in das Land der Ruh. 

Werdet ihr dann an meinem Grabe weinen, 
trauernd meine Asche sehn, 
dann, o Freunde, will ich euch erscheinen 
und will himmelauf euch wehn. 

Schenk auch du ein Tränchen mir 
und pflücke mir ein Veilchen auf mein Grab, 
und mit deinem seelenvollen Blicke 
sieh dann sanft auf mich herab. 

Weih mir eine Träne, und ach! schäm 
dich nur nicht, sie mir zu weihn; 
oh, sie wird in meinem Diademe 
dann die schönste Perle sein! 




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