Forum Kunst und Literatur Literatur Stefan Z w e i g - in Texten und Kontesten

Literatur Stefan Z w e i g - in Texten und Kontesten

RE: Stefan Z w e i g - in Texten und Kontesten
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf longtime vom 17.01.2019, 10:45:37

Ich habe den Film auch gesehen und fand ihn ganz großartig.
Sehr beeindruckend - bis zum Ende. 

longtime
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RE: Stefan Z w e i g - in Texten und Kontesten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 17.01.2019, 10:45:37
ZWEIG_Suizid.jpg


Dieser handgeschriebene Abschiedsbrief vom 22. Februar 1942 lag auf der Kommode des Hauses, das Lotte und Stefan Zweig in Petropolis bewohnten. © arquivo Casa Stefan Zweig.


Im Film "Vor der Morgenröte" liest der deutsche Autor Ernst Feder, selber exiliert,  dieses Brief vor.

*  ~ *


In der Realität hat Stefan Zweig auch an seine erstes Ehegattin, Friderike,  einen Brief geschrieben, der nicht so bekannt ist:



                                                                   Petropolis, 22. II. 1942
Liebe Friderike,

wenn Du diesen Brief erhältst, werde ich mich viel besser fühlen als zuvor. Du hast mich in Ossining [Kleinstadt in USA, wo Zweig eine Lesung gehalten hatte] gesehen, und nach einer guten und ruhigen Zeit verschärfte sich meine Depression - ich litt so sehr, daß ich mich nicht mehr konzentrieren konnte. Und dann die Gewissheit - die einzige die wir hatten - daß dieser Krieg noch Jahre dauern wird, daß es endlose Zeit brauchen wird, ehe wir, in unserer besonderen Lage, wieder in unserem Haus uns niederlassen können, war zu bedrückend. Petropolis gefiel mir sehr gut, aber ich hatte nicht die Bücher, die ich brauchte, und die Einsamkeit, die erst so beruhigend wirkte, fing an niederschlagend zu wirken - der Gedanke, daß mein Hauptwerk, der Balzac, nie fertig werden könnte ohne zwei Jahre in ruhigem Leben und mit allen Büchern, war sehr hart, und dann dieser Krieg, der seinen Höhepunkt noch nicht erreicht hat. Ich war für all das zu müde. Du hast Deine Kinder und damit eine Pflicht zu erfüllen. Du hast weitreichende Interessen und eine ungebrochene Aktivität. Ich bin sicher, Du wirst die bessere Zeit noch erleben und Du wirst mir recht geben, daß ich mit meiner „schwarzen Leber“ nicht mehr länger gewartet habe. Ich schicke Dir diese Zeilen in den letzten Stunden, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie froh ich mich fühle, seit ich diesen Entschluß gefaßt habe. Gib den Kindern meine lieben Grüße und beklage mich nicht - denke an den guten Joseph Roth und Rieger, wie froh ich immer war, daß sie diese Prüfungen nicht zu überstehen hatten.

Alles Liebe und Freundschaftliche und sei guten Mutes, weißt Du doch daß ich ruhig und glücklich bin.                           Stefan


*

Den o. eingestellten zweiten Brief, vom gleichen Tag, sozusagen „an alle Welt“ gerichtet, auf dem Nachttisch war die  D e c l a r a ç a o  (Erklärung).

(Aus: Das Stefan Zweig Buch. Hg. v. Max von der Grün. 1981. S. 341f.)

Zur Erklärung bei YouTube:
Der  Film "Vor der Morgenröte" (Deutsch):  Das mit diesem Video verbundene YouTube-Konto wurde aufgrund mehrerer Meldungen Dritter über Urheberrechtsverletzungen gekündigt.
 
RE: Stefan Z w e i g - in Texten und Kontesten
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf longtime vom 18.01.2019, 15:24:46

Über den sogenannten Freitod mag man ja denken, wie man will, aber ich kann Stefan Zweig meinen Respekt und mein Verständnis nicht versagen. Seine Gründe für den Schritt empfinde ich als überzeugend. Er wählte den letzten Ausweg, nachdem ihm alles, was sein Leben ausmachte, genommen war, und er ging in Würde. Mutig. 

Was mir beim Lesen auch noch einfiel: Jeder geistig arbeitende Mensch ist angewiesen auf seine Hilfsmittel. Im frühen 20. Jahrhundert waren das vor allem Bücher, heute gehört auch das Internet dazu. Man sich wohl kaum vorstellen, was es bedeuten würde, über lange Zeit hinweg von diesen Hilfsmitteln komplett abgeschnitten zu sein. Es muss sich anfühlen wie eine Art mentaler Lähmung. 

Die Beschäftigung mit dem Schicksal und dem Ende von Stefan Zweig und anderen Flüchtlingen gibt viel Stoff zum Nachdenken. Danke, longtime!


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longtime
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RE: Stefan Z w e i g - in Texten und Kontesten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 17.01.2019, 10:45:37

Maria  S c h r a d e r :

https://www.youtube.com/watch?v=3wLiyFyfuB4

Maria Schrader hat die andere,letzte Seite der Lebensleistung von Stefan Zweig fast gänzlich ausgelassen: Die „Schachnovelle“ und die Lebenserinnerungen „Die Welt von Gestern“ (1942, bei S. Fischer in Stockholm – die wirklichen überkommenen Leistungen, den Zeig auszeichnen.

Das die politische Abstinenz von SZ hier – im Film - so hoch gewertet ist, isr nur ein Teil der überkommenen Leistungen, die 1941/42 Zweig abschloss.

Das Maria Schrader den persönlich-politischen Lebenswandel Zweigs so hervorgehoben hat – ist nur  e i n e  Auswahl vom Thema, mit schönen, erregenden Motiven der Gegensätze.
 
longtime
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RE: Stefan Z w e i g - in Texten und Kontesten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 20.01.2019, 11:30:19
Zweig_FEder_Brandt_Neu13221504_1744015649173462_8300240885635730489_n.jpgMatthias B r a n d t  spielt "Vor der Morgenröte" den deutschen, auch exilierten Autoren Ernst Feder. Er verliest die testamentarische Erklärung zum Freitod.

Später hat er die Begegnung mit Stefan Zweig ausgeschrieben, die nicht für den Film verwandt wurde.

Aus: Ernst Feder: Stefan Zweigs letzte Tage


(...) Als ich um diese Stunde mit meiner Frau die Veranda des hochgelegnen Hauses betrat, saß er am offenen Fenster seines Arbeitszimmers und schrieb. Das überraschte mich. Abends pflegte er nie zu arbeiten.

- "Wir kommen zu früh? Wir stören Sie?"
- "Nein, gar nicht", sagte er in einer Verlegenheit die mir auffiel. Ich ahnte nicht, daß ich ihn bei der Niederschrift seiner Abschiedsbriefe überrascht hatte.
Vier Stunden waren wir an diesem Abend zusammen. Wohl fühlte ich, daß tiefere Schatten auf ihm lagen als früher. Aber seine Liebenswürdigkeit und seine Teilnahme waren dieselben wie stets. Ich hatte ihm auf seinen Wunsch eine kleine Arbeit mitgebracht, die er vor der Publikation lesen wollte. Er sah sie genau durch und machte, sich entschuldigend, einige feine Einwendungen. Er sprach über Österreich, wieviel Vernunft doch in dem germanisch-slawischen Völkergemisch gelegen habe. "Wir Österreicher haben das niemals gewürdigt. Wie haben wir die Deutschen bewundert!" Er sprach von seiner Arbeit am Balzac. "Es gibt keine große Balzac-Biographie. Die sich damit befaßten, sind alle gestorben, ehe sie das Werk vollenden konnten. Ich sprach in Paris mit Bouteron. Auch er wird sie nicht schreiben. Auch für mich ist das vorbei." Die vier Bände meines Montaigne, die er entliehen hatte, gab er mir zurück.
- "Haben Sie denn jetzt eine vollständige Ausgabe?"- "Ja", murmelte er unsicher, er habe schon zwei Kapitel geschrieben.

Damals wußte ich nicht, weshalb er mir den Montaigne zurückgab, weshalb er mir Bainvilles "Napoleon", seine letzte Lektüre in diesen Tagen, zum Geschenk machte, warum seine Frau, als er meinen Vorschlag zu einer Schachpartie akzeptierte, ihm einen langen erstaunten Blick zuwarf. Ich machte diese Anregung, weil ich dachte, das Spiel, das er so liebte, würde ihn von seinen düsteren Gedanken ablenken. An sich war es kein Vergnügen, sein Gegner am schwarz-weißen Brett zu sein. Ich bin ein schwacher Spieler, aber seine Kenntnis dieser Kunst war so gering, daß es mich Mühe kostete, ihn gelegentlich eine Partie gewinnen zu lassen ...

Es ist fast Mitternacht, als sie uns nach Hause geleiten. Ich gehe mit Stefan Zweig voraus. Er erwähnt, daß sein Freund in Columbien, dessen Buch über Südamerika er mir zeigte, Unterrichtsminister der Republik geworden sei und auf seine Glückwünsche ihn nach Bogota eingeladen habe. Ich sage: "Da sollten Sie doch hinfahren", und als in diesem Moment uns unsere Frauen erreichen, sage ich zu Frau Latte: "Wir haben eben eine gemeinsame Expedition nach Columbien beschlossen. Kommen Sie mit?" Meine Frau meinte, solche Reise im Krieg sei nicht ganz ungefährlich. Frau Latte widerspricht: bei ihrer Abfahrt aus England war die Sache doch auch sehr ungemütlich.

Stefan Zweig reicht mir lächelnd noch einmal zum Abschied die Hand. Er fühlt, daß seine Stimmung uns bedrückt: „Also, entschuldigen Sie meine schwarze Leber!“ Mit diesen Worten und einem tieftraurigen Blick verschwand im Dunkel der zauberhaften Sommernacht, und von den zahlreichen Begegnungen bleibt mir dies Bild als dominierend und definitiv vor Augen.

* *

Ein intensives Zusammenspiel der Figuren Ernst Feder und Stefan Zweig – die in der Fremde keine Freunde werden konnten, obwohl sich Feder sehr um Zweig bemühte: Zweigs - Lottes und Stefans - stand fest. Sie wollten sterben und teilten das niemandem mit.

Ernst Feder: https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Feder

Ich habe mich bemüht um dieses Buch von Feder - Begegnungen. Die Grossen der Welt im Zwiegespräch. Bechtle, Esslingen 1950 – bisher vergeblich.


 
longtime
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RE: Stefan Z w e i g - in Texten und Kontesten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 22.01.2019, 15:20:07
ZWEIG_lachend.jpgEine seltene Aufnahme von Stefan  Z W E I G: lachend  (etwa um 1930)


Stefan  Z w e i g:
Die zehn Wege zum deutschen Ruhm
Der deutsche Ruhm ist, solange die Kritik bei uns nicht kritisch, sondern sentimental ist, eine Angelegenheit nicht des Verdienstes, sondern der Geschicklichkeit. Ein paar Ratschläge seien Jüngeren und Auftretenden darum gegeben:
D e r  e r s t e: Pflege deinen Körper, damit du alt werdest. Der deutsche Ruhm wächst nicht aus Werken, sondern aus Jubiläen. Die Kunst, berühmt zu werden, geht Hand in Hand mit Diätetik, der Kunst der Langlebigkeit. Du musst fünfzig Jahre werden, dann sechzig und siebzig. Mit achtzig, wenn du's erlebst, bekommst du den Nobelpreis.
D e r  z w e i t e: Schreibe viel und kümmere dich nicht um Qualität. Non multum sed multa. Wir leben in einem Lande, wo Tüchtigkeit sichtbar sein will und Fleiß als Tugend, ja als Talent gilt. Sei umfangreich in deinen Werken, solange Langeweile noch mit Literatur identisch ist. Ändert sich der Geschmack, so ändere dich mit.
D e r  d r i t t e: Sei allgegenwärtig in deinen Veröffentlichungen. Das Odol-Prinzip muss das deine sein, man muss dir nicht entfliehen können.
D e r  v i e r t e: Darum unterzeichne alles, was dir an Aufrufen, Rundfragen, Kommunikationen in die Hände kommt, ob es dich etwas angeht oder nicht. Erwecke den Anschein universalen Interesses, sei überall beteiligt, wo du nicht hingehörst, und menge dich in die fremdesten Angelegenheiten. Denn dies gilt als Kennzeichen, dass man kein Literat ist, sondern ein Dichter. Wird es wieder geschmackvoll, Literat zu scheinen, so . . . vide den zweiten Ratschlag.
D e r  f ü n f t e: Schaffe dir eine Spezialität, irgendeine Etikette zur Bequemlichkeit für die Literaturgeschichtsfabrikanten. Man gibt dir sonst eine unbequeme, also affichiere dich lieber selbst. Findest du keine, so nenne dich den deutschen X und setze für das X den Namen eines dir sympathischen Ausländers. Es braucht ja nicht zu stimmen, ist nur Formalität (wie das Schreiben überhaupt). Das einzig Wichtige ist, bekannt zu werden.
D e r  s e c h s t e: Sei eine Zeitlang verkannt, oder scheine es, das macht Freunde. Hast du mit einem Buch viele Auflagen, so verschweige sie. Es gilt sonst als schlecht.
D e r  s i e b e n t e: Sei persönlich umgänglich. Tritt in alle Vereine deiner Vaterstadt ein, korrespondiere mit den andern. Vergiss nie zu gratulieren (besonders wenn es in die Zeitung kommt). Jungen Dichtern (den alten übrigens - auch) schreibe immer begeistert. Deinem Verleger empfiehl jeden, der dich darum bittet, in glühenden Worten, warne ihn aber immer zuvor privatim. Halte Reden, wo irgend es geht, zu Jubiläen und Begräbnissen, beides steht dir ja selber bevor (vide Ratschlag eins).
D e r  a ch t e: Habe von Zeit zu Zeit einen kleinen Unglücksfall oder werde krank. Je gefährlicher, desto besser. Vergiss nicht, dass Tolstoi, Strindberg und andere immer erst den Alarm ihres Todes erwecken mussten, damit man überhaupt merkte, dass sie in unserer Zeit leben (indessen man es von Otto Ernst und Fulda jederzeit wusste*). Überhaupt: Nimm dir ein Beispiel an den Letzteren. Die können die Kunst!
D e r  n e u n t e: Wenn du verheiratet bist, führe gute Küche und habe gute Klubsessel sowie Zigarren. Die Bücher sind Nebensache, die guten Freunde, da sie die Meinung machen, das einzig Wichtige. Kunst ist ja nur Meinungssache, weshalb es ein Fehler ist, sich um die Kunst zu bemühen statt um die Meinung. Die Letztere ist leichter herumzukriegen, also halte dich an sie. -
 
D e r  z e h n t e : Sei unbesorgt um den Nachruhm. Du kannst ihm in Deutschland nicht entgehen. In München ist ein Verleger, der druckt die ganze Weltliteratur noch einmal, da kommst du auch an die Reihe. Auch deine Briefe werden gedruckt – es gibt ja genug Leute bei uns mit dem Lebensideal, Unnötiges und Gleichgültiges herauszugeben. Sie werden dafür zuerst Dozenten, dann Professoren und sind, solange du lebst, deine Widersacher. Drum stirb – aber erst nach mehreren Jubiläen, vide Ratschlag eins – denn in ihnen lebst du weiter. Das ganze dichterische Lebenswerk ist ja immer nur ein Vorwand für einen Späteren, dazu eine Einleitung zu schreiben, und für den Verleger, mit honorarfreien Autoren die Lebendigen zu schädigen. Also hüte dich, ein Zeitgenosse zu sein.
*
Erstdruck: 1912: In: Der Ruf. Wien, Faschingsaus-gabe 1912.
 
Neu in: Klemens Renoldner (Hg.): Stefan Zweig – „Ich habe das Bedürfnis nach Freunden“. Erzählungen, Essays und unbekannte Texte. Wien/Graz/Klagenfurt: Styria Verlag 2013. S. 521 .


ZweigStefanGarden.jpgZweig  auf der Terrasse seines Salzburger Schlössl. Am Kapazinerberg 5.

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RE: Stefan Z w e i g - in Texten und Kontesten
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf longtime vom 23.01.2019, 16:14:32

Im
dritten Weg:
Das Odol-Prinzip muss das deine sein, man muss dir nicht entfliehen können.

Das erinnert mit an Georg Kreisler:
In "die Füxe verjuxen den Max auf der Rax"
singt er
"jedes Liebesidyll wird ein Lobes-Odol". Lachen

Ich kann mich noch gut an die Werbung von Odol erinnern.

Schönen Tag und - allzeit eine gute Lektüre oder ein gutes Lied
Clematis


 

longtime
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RE: Stefan Z w e i g - in Texten und Kontesten
geschrieben von longtime
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 25.01.2019, 08:07:58
Ich habe die entprechende Strophe vvom guten, imme-rjugnen Kreisler heraus gesetzt!
Und er dachte verzweifelt: Ich hab mich blamiert,
mein Leben verpfuscht, Karriere ruiniert.
Mein Automobil wird ein Autimibol,
jedes Liebesidyll ein Lobesodol.
Erreich ich die Spitzen,
sind nichts dort wie Spotzen,
und alle Matritzen
werden Matrotzen.
Statt Milch trink ich Molch,
statt Bier krieg ich Bor,
meine Kiefer werden Koffer,
und aus mir wird ein Mohr.
Will mich wer betrügen,
bin ich schon betrogen.
Und will ich was kriegen,
geht's mir an den Krogen.
Halli, Halli, Hallo!

*
Danke für den Tipp, liebe Clematis!
longtime
longtime
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RE: Stefan Z w e i g - in Texten und Kontesten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 25.01.2019, 13:04:36
Zweig_Foto_IMG_20190122_202724.jpgStefan Zweig: (Montage 2019)


Stefan Zweig: Reise nach Rußland - Kapitel 17
(1928)
Das schönste Grab der Welt
Nichts Großartigeres, nichts Ergreifenderes habe ich in Rußland gesehen als Tolstois Grab. Abseitig und allein liegt dieser erlauchte Pilgerort kommender ehrfürchtiger Geschlechter, eingeschattet im Wald. Ein schmaler Fußpfad, scheinbar planlos hinstreifend durch Lichtung und Gebüsch, führt hin zu diesem Hügel, der nichts ist als ein kleines gehäuftes Rechteck aus Erde, von niemandem bewacht, von niemandem gehütet, nur von ein paar großen Bäumen beschattet. Und diese hochragenden, sanft vom Frühherbstwind gewiegten Bäume hat Leo Tolstoi, so erzählt mir seine Enkelin, selber gepflanzt. Sein Bruder Nikolai und er hatten als Knaben von irgendeiner Amme oder Dorffrau die alte Sage gehört, wo man Bäume pflanze, da werde ein Ort des Glückes sein. So hatten sie spielhaft ein paar Schößlinge irgendwo auf ihrem Gute in die Erde eingesenkt und dieses Kinderspiels bald vergessen. Erst später entsann sich Tolstoi dieses Kindheitsbegebnisses und der sonderbaren Verheißung von Glück, die dem Lebensmüden plötzlich eine neue und schönere Bedeutung bekam. Und er äußerte sofort den Wunsch, unter jenen selbstgepflanzten Bäumen begraben zu sein.
Das ist geschehen, ganz nach dem Willen Tolstois, und es ward das schönste, eindrucksvollste, bezwingendste Grab der Welt. Ein kleiner rechteckiger Hügel im Wald, von Blumen übergrünt – nulla crux, nulla corona – kein Kreuz, kein Grabstein, keine Inschrift, nicht einmal der Name Tolstoi. Namenlos ist der große Mann begraben, der wie keiner unter seinem Namen und Ruhm litt, genau wie irgendein zufällig aufgefundener Landstreicher, ein unbekannter Soldat. Niemandem bleibt es verwehrt, an seine letzte Ruhestätte zu treten, der dünne Bretterzaun ringsum ist nicht verschlossen – nichts behütet Leo Tolstois Ruhe als die Ehrfurcht der Menschen, die sonst so gern mit ihrer Neugier die Gräber der Großen verstört. Hier aber bannt gerade die zwingende Einfachheit jede lose Schaulust und verbietet lautes Wort. Wind rauscht in den Bäumen über dem Grab des Namenlosen, Sonne spielt warm drüber hin, Schnee legt sich winters zärtlich weiß über die dunkle Erde, man könnte Sommer und Winter hier vorübergehen, ahnungslos, daß dieses kleine emporgeschichtete Rechteck das Irdische eines der gewaltigsten Menschen unserer Welt in sich genommen hat. Aber gerade diese Anonymität wirkt erschütternder als aller erdenkliche Marmor und Prunk: von den Hunderten von Menschen, die heute [1928] dieser Ausnahmstag hieher an seine Ruhestätte führte, hatte nicht ein einziger den Mut, auch nur eine Blume zum Andenken von dem dunklen Hügel zu nehmen. Nichts wirkt in dieser Welt, man fühlt es wiederum, so monumental wie die letzte Einfachheit. Nicht Napoleons Krypta unter dem Marmorbogen des Invalidendoms, nicht Goethes Sarg in der Fürstengruft zu Weimar, nicht Shakespeares Sarkophag in der Westminsterabtei erschüttern durch ihren Anblick so um und um das Menschlichste in jedem Menschen wie dieses herrlich schweigende, rührend namenlose Grab irgendwo im Walde, nur vom Wind überflüstert und selbst ohne Botschaft und Wort.

*
 
Leo Tolstoi
[28]. Das schönste Grab der Welt [Reise nach Rußland .1928], S. 276 -277
*

https://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/20Jh/Zweig/zwe_ru17.html

Das Grab Tolstoi in doppelter Fotografie  ...


Fotografie des Grabes von Tolstoi (mit dem Text)
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RE: Stefan Z w e i g - in Texten und Kontesten
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 25.01.2019, 13:26:10
ZWEIG_Rollain_.jpegStefan  Z w e i g und  Romain  R o l l a n d


An Romain Rolland
Salzburg, Kapuzinerberg 5
8. Febr. 1921
Mein lieber und verehrter Freund, ich schreibe Ihnen heute deutsch, weil ich nicht weiß, ob ich alles, was ich sagen will, genug klar ausdrücken kann. Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen unsere intellectuelle Situation zu schildern. Denn der jetzige Augenblick ist ein kritischer.
Meine Beziehung zu den meisten deutschen Menschen beginnt jetzt wieder peinlich zu werden. Menschen, die schon ganz klar fühlten, die sogar diese Klarheit in Worten zum Ausdruck brachten, ziehen sich mit einem mal zurück: Deutschland hat nur einen Gedanken jetzt – und dieser Gedanke drückt sich in allen seinen Menschen aus –: nicht mehr aufrichtig zu sein. Ganz Deutschland arbeitet jetzt an einer Lüge, an einer neuen Legende: Der Kaiser, Ludendorff werden jetzt plötzlich große Persönlichkeiten, der Krieg eine heilige Sache. Alles ist vergessen: die Jugend glüht vor Haß, fiebert nach Krieg, die Professoren, die bestürzt über ihre eigene Dummheit ein wenig geschwiegen hatten, blasen wieder in die teutonischen Hörner.
Der wildeste Wahn ist wieder wach.
Nie waren wir mehr isoliert als jetzt. In den schlimmsten Tagen des Krieges hatten wir Verbündete, vor allem das Leiden des Volkes, das jedes Wort des Friedens im geheimen segnete, wir hatten die Wirklichkeit des Krieges als Gegner, gegen den man kämpfen konnte. Aber schon entsteht wieder das Phantom des Krieges, herrlich idealisiert als Krieg der Rache und der Gerechtigkeit – wie gegen Wahnbilder kämpfen? Was wir sagten, ist vergeblich gegen eine Mentalität, die nicht hören will und die gegen unsere heiligsten Bemühungen das Argument hat: seht, wie die Feinde den Frieden verstehen.
Diese Lüge ist das Schlimmste in der Tat, was Frankreich und England an Deutschland getan haben. Der Hunger traf nur den Leib, – das Rachegelüst, das sich in den letzten französischen Beschlüssen kund tut und auf 42 Jahre von ungeborenen Kindern noch Sclavenarbeit verlangt, hat die deutsche Seele vergiftet. Wir, Sie und ich leben unter Rasenden, unter Wahnsinnigen. Die Deutschen lügen sich aus Verzweiflung jetzt selbst an – wahr ist in ihnen nur der rasende Haß.
(...)
Aus. Briefw an Freunde. Bd. III. 1920 - 1931. Ffm.

Rolland, ein französischer Schriftsteller, und Pazifist. Er wurde 1915 als mit dem  dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Zweig schreibt:
"Diese Lüge ist das Schlimmste in der Tat, was Frankreich und England an Deutschland getan haben. Der Hunger traf nur den Leib, – das Rachegelüst, das sich in den letzten französischen Beschlüssen kund tut und auf 42 Jahre von ungeborenen Kindern noch Sclavenarbeit verlangt, hat die deutsche Seele vergiftet. Wir, Sie und ich leben unter Rasenden, unter Wahnsinnigen. Die Deutschen lügen sich aus Verzweiflung jetzt selbst an – wahr ist in ihnen nur der rasende Haß."

*
Also ein Hass der sich als S e l b s t h a s s manifestiert, verursacht durch unverarbeitete Introjekte im ES; abgleitet ins Kollektiv der Gruppe, der Partei, in Fraktionen, zum Ausbruch bereit.  – Zweig war ein Psychoanalytiker und Pazifist, der vieles in Prosa und in Essays - im Leben und Schreiben - voraus-bedachte; denn er war – wie der Freund Richard Friedenthal einmal sagte: „er war einer, dem „etwas völlig fehlte, der Haß“.
Ein zur Identifikation besonders einladendes Kontinuum in Zweigs Leben bildete sein Pazifismus. „Sein Haß auf den Krieg, der ihn zum ‘letzten Pazifisten’ macht“, schrieb Hermann Kesten über die Welt von Gestern, „leiht dieser Geschichte der Bildung eines Dichters Einheit und L(Aus: Stefan Zweig: Briefe an seine Freunde. Ffm. 1978.
- Abgedruckt aus Historische Augenblicke. Das 20. Jahrhundert in Briefen. Hrsg. v. Jürgen Moeller. München 199. S. 56 – 59; mit der Vorbemerkung von Zweigs freund Richard F r i e d e n t h a l: „(...) dass seinem Freunde nur eines völlig fehlte: der Haß“.
 Auch Thomas Mann nannte Zweig „zeitlebens einen Pazifisten“. Thomas Mann im Brief an Friderike Zweig 1942: “Der Verewigte war ein Mann von unbedingter und radikaler pazifistischer Anlage und Überzeugung.“ (15.IX.1942, nach dem Freitod der Ehepaares Zweig)

 

                            Zweig_Signatur.gif
 

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