Literatur Tabu Ferdinand von Schirach
Der 2013 erschienene Roman „ Tabu” von Ferdinand von Schirach ist zwar schon oft kommentiert und hart kritisiert worden. Dennoch möchte ich hier noch einige persönliche Eindrücke darstellen. Sebastian von Eschburg wird trotz oder wegen seiner traumatischen Vergangenheit (Selbstmord des depressiven Vaters, emotionale Kälte der Eltern,Vernachlässigung durch die Mutter, Abschiebung in ein Internat, Konflikt mit dem Stiefvater, Hyper-sensibilität vor allem bzgl. der Wahrnehmung von Formen und Farben) ein sehr erfolgreicher Kunstfotograf, der es trotz seiner depressiven Neigungen und trotz seiner Kontaktprobleme zu großem Reichtum bringt. Als er in einem Indizienprozess nach einem unter Androhung von Folter erzwungenen Geständnis des Mordes an seiner Halbschwester angeklagt wird, rettet ihn der ebenfalls mit persönlichen Problemen belastete Anwalt Konrad Biegel, indem er nachweist, dass das vermeintliche Opfer noch lebt. Es stellt sich heraus, dass der vermeintliche „Mord” von Sebastian von Eschburg inszeniert war. Nach seinem Freispruch heiratet er seine Mitarbeiterin Sofia, die trotz der Probleme Sebastians an ihn glaubt.
Der Roman regt an zum Nachdenken über Depressionen, trau-matische Lebenserfahrungen, Selbstmord und Kontaktprobleme. Der Autor problematisiert die Rolle der Polizei, der Justiz und der Medien, die die Wirklichkeit auch völlig falsch interpretieren und dabei das Recht verletzen könnten.
Etliche philosophisch-psychologische Überlegungen des Autors bzw. seiner Hauptpersonen sind für mich zwar keine absolut gültige Weisheit, geben aber reichlich Anlass zu diesbezüglichen Diskussionen. Beispiele: „Wir ertragen unsere eigene Schuld nicht…”(Biegler)/ „Menschen ändern sich nicht…wir stehen nebeneinander, wir berühren uns kaum. Es gibt eine Entwicklung … meistens geht es schief. Nur als Schauspieler werden wir besser. Wir lernen zu verbergen, wer wir wirklich sind.”(Biegler) .
Insgesamt ist dieser Roman trotz seiner düsteren Themen und trotz vieler offener Fragen und Widersprüche ein lesenswerter Roman, der nicht nur ein Kriminalroman ist.
Ferdinand von Schirach gehört zu meinen literarischen Helden. Er hat nun ein neues Buch veröffentlicht (Nachmittage),das wieder aus seinen oft einzigartigen kürzeren und längeren Einzelgeschichten besteht.
In meiner Bücherei platzte förmlich die Wartliste der Reservierungen - er scheint eine sehr grosse Fangemeinde zu haben.
Gestern Abend war er bei Markus Lanz,der begeistert dieses Buch vorstellte - auch er scheint zu den Fans von Herrn von Schirach zu gehören.
Da dieser aber im Nebenberuf auch ein anerkannter Jurist und politisch interessiert ist, war es auch überaus wertvoll, von ihm eine Einschätzung zu den aktuellen Dramen wie Ukraine-Krieg usw. zu hören - zumal an der Seite des anderen Gastes Anton von Hofreiter (Grüne).
Ein Gedanke,die von Schirach ansprach, beschäftigt auch mich seit einigen Wochen: gleich zu Beginn des Ukraine-Krieges war bei den Menschen in unserem Land viel Mitleid, grosse Hilfsbereitschaft und auch Bewunderung für die tapfere Ukraine spürbar.
Schon damals war zu befürchten,dass dies evl. nicht lange andauern wird und die Stimmung wie bei der sog. Flüchtlingskrise schnell wieder kippen kann, wenn sich die Menschen bevorzugt auf eigene Probleme konzentrieren - die aber bis heute nicht mit den Überlebensproblemen in der Ukraine vergleichbar sind.
Herr von Schirach erklärt sich nicht zu seinem Privatleben. Was er aber schon einige Male erzählte, sind sowohl Einsamkeit als auch Depressionen lebenslängliche Begleiter. Schon als pubertierender Junge mit wenig KOntakt zu den Eltern und in einem Internat lebend, scheint er so einsam gewesen zu sein, dass er damals an Selbstmord dachte (den sein eigener Vater dann Jahre später beging).
Solche Erlebnisse prägen Menschen, machen sie aber vermutlich auch sensibler in ihrer Beobachtungsgabe Anderen gegenüber.
Ich bin froh,dass es Menschen wie von Schirach gibt - insbesondere wenn in solchen Familien Generationen vorher noch Nazi-Grausamkeiten an der Tagesordnung waren. Olga
Hallo @Olga,
das Buch habe ich mir auch schon im Kopf vorgemerkt, bin ja genauso ein großer Fan von Schirach wie Sie. 😉
Die Kritik in der SZ war ja gut, aber mit einigen Vorbehalten, z. B. dass er sich in diesem Buch nur unter den Reichen und Schönen bewegt. Der Titel (Lieber im Luxushotel weinen als im Armenhaus: Ferdinand von Schirachs neue Erzählungen) sagt ja auch schon einiges aus. 😉
Aber Markus Lanz bezeichnete es als sein "bestes Buch" und war ja ganz begeistert.
Ich muss aber doch mal einen Brief an den Sender schreiben wegen der späten Uhrzeit. Als seine anderen Ausführungen kamen, die Sie gerade beschreiben (danke dafür), war ich längst wieder weggedämmert, ich kann einfach nicht mehr so lange wach bleiben, d. h. manchmal gelingt es mir, aber nicht immer.
Na ja, der Sender wird sich von mir nicht beeindrucken lassen, aber ich könnte mir vorstellen, dass es vielen Leuten so geht wie mir.
LiebeRispe,
die Kritik in der SZ habe ich gelesen und es ist das subjektive Recht des Rezensenten, die so beurteilen - mich wird es aber nicht abhalten,dieses Buch zu lesen und es selbst zu beurteilen.
Und dann muss ich sehr, sehr grinsen: ich dachte während der Lanz-Sendung sehr intensiv an Sie und bedauerte praktisch,d ass Sie vermutlich schon weggedämmert waren, während unser gemeinsamer Held und Freund von Schirach wieder mal so überzeugend darlegte, dass Männer keine Machos sein müssen, um bei Klassefrauen Eindruck zu schinden (!).
Ich als bekennender Nachtmensch habe damit keine grossen Probleme, beobachtete mich aber selbst dabei,dass ich heftig nickend dieser gestrigen Sendung zusah und mir auch Markus Lanz wieder nähergekommen ist, weil es nach meiner persönlichen Meinung schon auch ein Zeichen von Intelligenz ist, wenn man sich als LeserIn für von Schirach entscheidet.....
Und das ist dann auch etwas albern, wenn ich in den Fernseher bestätigend nicke zu nachtschlfener Zeit. Das "Duo" Toni Hofreiter und von Schirach fand ich auch hochinteressant - die Beiden harmonierten auf ihre Art und haben doch vermutlich sehr wenig miteinander gemeinsam. Olga
LiebeRispe,
die Kritik in der SZ habe ich gelesen und es ist das subjektive Recht des Rezensenten, die so beurteilen - mich wird es aber nicht abhalten,dieses Buch zu lesen und es selbst zu beurteilen.
Und dann muss ich sehr, sehr grinsen: ich dachte während der Lanz-Sendung sehr intensiv an Sie und bedauerte praktisch,d ass Sie vermutlich schon weggedämmert waren, während unser gemeinsamer Held und Freund von Schirach wieder mal so überzeugend darlegte, dass Männer keine Machos sein müssen, um bei Klassefrauen Eindruck zu schinden (!).
Mich natürlich auch nicht.
Das ist aber nett, dass Sie an mich gedacht haben.
Bis vor ca. einem halben Jahr konnte ich das alles noch ganz gut mit den späten Sendungen, habe keine Lanz-Sendung verpasst und bin nur mal ab und zu dabei eingeschlafen. Aber dann auf einmal war es vorbei, inzwischen schlafe ich fast jedesmal dabei ein. Vielleicht hat mich ein plötzlicher Altersschub erreicht. 😉
Aber vielleicht geht es auch wieder besser, wenn der Sommer vorbei ist. Hoffe ich mal. 😉

Moin,
bislang habe ich alles von Herrn Schirach gelesene. Er ist ein Mensch, der mir sehr imponiert.
Einmal las er mit leiser, brüchiger Stimme (eigentlich wie immer), begleitet von Klaviertönen, die ein Pianist in die Elbphilharmonie zauberte, aus seinen Büchern vor. Es war beklemmend schön.
Aus dem neuen Buch, "Die Nachmittage", welches Herr Lanz als Schirachs bestes bezeichnete, liest er wieder in der Elbphilharmonie vor. Leider, leider kann ich diesmal nicht seinen Worten lauschen, da mein Mann operiert wird und ich mich um ihn kümmern darf. Aber das Buch, das kaufe ich mir.
Danke für den Hinweis auf die Lanzche Sendung, welche ich sehr interessant fand. Über die Beschreibung des Herrn Hofreiter, welcher noch wie ein Grüner aussieht, musste ich doch sehr schmunzeln.
Schirachsche Grüße an alle Fans,
Karolena
Hallo @Karolena,
willkommen im Club! Ich habe auch alle Schirach-Bücher gelesen und zwei seiner Theaterstücke ("Terror" und "Gott") bei uns im Schauspielhaus gesehen, bei denen es in beiden Fällen u. a. um Abstimmungen im Publikum ging, an denen ich mich natürlich auch beteiligt habe. Ich nehme an, du weißt, wovon ich spreche. 😉
Aber an anderer Stelle habe ich gelesen, dass du außerdem ein Fan von Kent Haruf bist.
Da haben wir tatsächlich alle drei was gemeinsam, den Kent Haruf habe ich nämlich auch sehr gern gelesen (und von Olga weiß ich das auch). Zwar nicht alle seine Bücher, aber zwei oder drei. Den Rest lese ich sicher auch noch irgendwann. 😊
Viele Grüße
Rispe
P.S. In der Elphi habe ich vor 2 1/2 Jahren ein Beethoven-Konzert mit dem wunderbaren Igor Levit gehört, einen Tag vor Beginn des Lockdowns. Ich weiß es noch genau: Am 10. März 2020 war das Konzert, und am nächsten Tag war die Elphi geschlossen und das dafür vorgesehene Konzert fand nur noch vor leeren Rängen mt einer Digital-Übertragung statt.
Und was waren wir erleichtert! Wir waren nämlich extra zu diesem Termin nach Hamburg gefahren, um Levit da zu hören, d. h. außerdem, um Hbg. anzugucken, aber natürlich haben wir dafür genau den Zeitpunkt für Levit ausgewählt. Und wir befürchteten schon, es würde nicht mehr stattfinden.
Igor Levit - Beethoven als Leitfaden

Wie schön hier Gleichinteressierte zu finden, @Rispe,
Beethoven gespielt von Igor Levit in der Elfi, was gibt es Schöneres. Da hattet ihr wirklich Glück.
Gerade habe ich eine Sendung mit Herrn Schirach gesehen. Ich bin schon wieder so begeistert. Der Mann schafft es uns die Augen für Neues zu öffnen. Vielleicht interessiert es.
Ich möchte das nur wiederholen "willkommen im Club".
Aufgefallen sind Sie mir oder wir uns ja schon im Thread "ich lese gerade" als wir uns über die humoristischen Merkel-Krimis austauschten.
Wünsche Ihnen und vor allem der OP Ihres Mannes alles, alles Gute. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass ich mich über die schlimmsten Klippen meines Lebens am besten retten kann, wenn ich lese, also in bessere Welten abtauche als meine gerade ist.
Wünsche, dass es auch Ihnen hilft und Sie heil und gut gestärkt auch mit Hilfe des Herrn von Schirach diese Klippe wieder wohlbehalten absteigen können.... lg Olga
Hallo @Karolena,
im Magazin der Wochenend-SZ gibt es ein großes interview mit Schirach, ganz besonders interessant.
Ich hab's in der Papierzeitung gelesen, es lohnt sich. Also am besten noch kaufen, wenn möglich. 😉
Oder hier anmelden: »Es gibt wohl eine Begabung zum Glück – ich habe sie nicht«