1951

Es ist vielleicht noch etwas früh für eine Weihnachtsgeschichte, aber dies ist keine, sie endet nur so.

Dieses Jahr werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Ich erinnere mich, dass ich gelegentlich doch mal zu unserer Mami ans Krankenbett im Wohnzimmer durfte. Bei solch einem Besuch flüsterten wir uns liebe Dinge zu. Ich sah ihr Glöckchen, mit dem sie „um Hilfe“ rief, wenn sie Bedürfnisse hatte und die Krankenschwester gerade nicht im Zimmer bei ihr war, denn hörbar sprechen war ihr inzwischen fast unmöglich.

Es muss noch Anfang des Winters gewesen sein, denn dieses Glöckchen rief uns auch zur Bescherung zu Weihnachten ins Wohnzimmer, aber das wusste ich damals noch nicht. Mutti sah meinen Blick auf das Glöckchen und wohl auch meine Begeisterung dafür. „Wenn ich nicht mehr da bin, sollst Du dieses Glöckchen bekommen, es soll Dich an mich erinnern.“ flüsterte sie mir zu - und ich war selig!

Monat für Monat im Jahr 1951 verflog. Im April wurde ich eingeschult. Unsere Mutter wurde immer schwächer. Im Sommer war wohl abzusehen, dass sie bald nicht mehr bei uns sein würde und so schickte unser Vater unsere Haushaltshilfe mit seinen beiden Jüngsten auf den Bauernhof ihrer Eltern. Wir Zwei verlebten herrliche Landferien, waren in der Betreuung der uns bekannten jungen Frau. Dass in dieser fröhlichen Kinderzeit unsere Mami nur zwei Tage vor dem Geburtstag unseres Vaters diese Welt verließ, ahnten wir Kleinen nicht.

Als wir Ende Juli mit dem Zug – ein damals für uns auch noch besonderes Erlebnis – wieder nach Hause dampften, bekam jede von uns eine dicke Apfelsine, damals noch eine Besonderheit, als Wegzehrung mit. Aber meine jüngere Schwester wie auch ich ersparten uns den Genuss. Den Saft sollte unserer Mutti doch bekommen. Wir wussten, dass sie nur noch aus einer Schnabeltasse trinken, nicht mehr essen konnte, und wir freuten uns schon sehr darauf, wie sie darüber staunen, der Saft ihr bestimmt gut schmecken und gut tun würde.

Doch Mutti war nicht mehr da. Auch ihr Krankenbett fehlte im Wohnzimmer. Da uns aber niemand verriet, wo sie zu finden wäre, nahmen wir diese Enttäuschung hin. Schließlich wussten wir ja, dass sie schon mehrfach im Krankenhaus gewesen,

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auch eine "Kur" zur Gesundung in Bad Rothenfelde gemacht hatte.

Wir wurden damit abgelenkt, dass es Reisevorbereitungen gab – wir wollten alle zusammen an die See fahren, erst mit dem Zug nach Emden-Außenhafen, dann mit dem Schiff zwei bis drei Stunden über die See zu der in der Nordsee liegenden Insel Borkum.

Wie meine jüngere Schwester das Fehlen unserer Mami empfand, weiß ich nicht. Sie war ja gerade erst vier Jahre alt. Ich stand kurz vor meinem 7. Geburtstag, der dann auf Borkum sein würde und glaubte, Mutti sei vielleicht wieder im Krankenhaus, so dass es auch für sie unmöglich sein würde, mit auf die Insel zu fahren. Es gab also so viel Ablenkung, dass es erst einmal für die Erwachsenen – Vati und Oma sowie die Krankenschwester unserer Mutter – keine Kinderfragen zu beantworten gab.

Erneut genossen wir die nun lange Bahnfahrt zur Küste. Von dem vorsorglich mitgenommenen Proviant mochten wir nichts essen, war doch alles viel zu spannend. Damals konnte man noch die Zugabteil-Fenster herunter ziehen, den Kopf heraushalten und den Fahrtwind des Zuges genießen: mein Genuss war anschließend eine dicke Bindehautentzündung!!

Die Überfahrt mit der Fähre wäre bei Sturm (Windstärke 10!) fast nicht möglich gewesen. Das kurze Stück über die offene See vor der Emsmündung hatte ganz schön heftige Wellen, so dass sich zwei ältere Damen zu uns aus das freie Deck gesellten, denen es in dem warmen Aufenthaltsraum unter Deck durch die Schaukelei übel geworden war. Wir Kleinen standen an der Reling und genossen die mitgebrachten Brötchen. Uns war überhaupt nicht übel. Ab und zu warfen wir einer Möwe ein Bröckchen zu und freuten uns, wenn sie es fingen.

Doch dann beugten sich die Damen über die Reling und erbrachen … Froh, so leicht die den Magen belastenden Dinge loszuwerden, konnten sie aber nicht werden, denn der Wind brachte es ihnen umgehend zurück … So übel war uns Kindern zuvor noch nie gewesen und es war für uns ein Grund, zwar weiter von dem armen Damen wegzugehen, aber auch herzlich zu lachen – wir waren ungewollt sehr gemein!!!

Ich lernte in diesem August 1951 Borkum lieben, obwohl ich gleich in der 1. Woche vom „Ziegenpeter“ erwischt wurde! Die Anderen gingen an den Strand – und ich musste im Bett liegen bleiben, mich gesund schlafen, eventuell – allein – mit meinem Geburtstagsgeschenk, den Mikado-Stäbchen spielen üben.

In meinen vielen Borkum-Besuchen als Erwachsene hat es mich später immer wieder gedrängt, doch mal in der gleichen Unterkunft wie als Kind zu buchen. Ich hatte ja schon bei der Borkumer Zeitung tatsächlich eine Kopie der Seite aus dem Unterkunftsverzeichnis der Borkumer Gäste erhalten können, in dem verewigt war, wo wir gewohnt hatten:

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im Haus Seestern. 1951 waren die Zimmer noch nicht mit eigener Toilette, eigenem Bad versehen. Das gab es nur für alle Zimmer auf einer jeder Etage. Und wenn das Bad belegt war, konnte niemand auf die Toilette … Dafür gab es in den Zimmern dann auf einer Kommode eine große bunte Schüssel, die mit einer großen, passend bunten Steingutkanne voller Wasser befüllt werden konnte, so dass sich die Gäste dieses Zimmers dort waschen konnten.

Foto 20  08 1951 Borkumurlaub 1.jpgFoto 33 und die Mädels haben sich eine Sandbank gebaut.jpg
Aber es gab ja noch drei weitere Wochen Strandurlaub, vermischt mit heißem, sonnigen Strandwetter,
aber auch heftigem Sturm, den wir dann nicht am Strand verbrachten. Wir „Kurzen“ spürten ja nicht nur den pieksenden vom Wind am Wassersaum gejagten Sand an unseren Beinen, nein auch im Gesicht! Und das war noch viel unangenehmer, wenn der Sand auch noch in die Augen sprang.

Foto 29 Möwen füttern statt Strand wegen Mumps bei Uschi.jpg
Da blieben wir lieber oben auf der alten Strandpromenade und fütterten die Möwen (heute verboten!!)


Foto 34 hoffentlich beißt mir das Eselfohlen nicht den Fuß ab!.jpg
oder durften auch mal auf Eseln reiten … Ich lernte bei dem Sturm, dass auch ein gerade siebenjähriges kleines Mädchen auf der steil abfallenden Straße zum Leuchtturm zwei-Meter-Schritte machen konnte. Dass ich sehr viel Glück hatte und durch meinen Leichtsinn nicht lang hin“geflogen“ bin, erklärte mir später schimpfend mein Vater.

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Wieder zuhause ging für mich das I-Männchen-Schuljahr weiter. Noch hatten die Erwachsenen uns jüngeren Schwestern nicht erklärt, wo unsere Mutter abgeblieben war. In der katholischen Schule begann der morgendliche Unterricht aber jeden Tag mit einem Mogengebet, in das auch Fürbitten für den Papst, die Heiligen, die Seeligen, die verstorbenen Geistlichen sowie zuletzt auch gerade Verstorbene mit eingeschlossen wurden. An diesem ersten Schultag nach den großen Ferien wurde auch in das Gebet mit eingeschlossen die Mutter einer Mitschülerin – meine Mutter. So liebevoll die Klassenlehrerin das gemeint hatte – eine Erika hatte es nötig, in die Klasse zu rufen: „Gut, dass die tot ist! Ich kannte die, das war eine Hexe!!“

Ich begriff, dass Erika meine Mutter gemeint hatte!! Sie konnte meine Mutter gar nicht gekannt haben, denn die hatte zuvor über ein Jahr zuhause todkrank im Bett gelegen. Ich brach in Tränen aus, weil ich plötzlich begriff, dass meine Mutter tot war!!!

Ich nehme an, dass Frau Ostermann, unsere Klassenlehrerin, der Klasse nun wohl eine Erklärung geben wollte, aber nicht, wenn ich dabei wäre. Sie wählte meine Banknachbarin, mit der ich mich angefreundet hatte, aus, die mich zu ihrer Mutter nach Hause bringen sollte. Renate wohnte nämlich mit ihrer Mutter und ihrer Schwester direkt am Schulhof und so war die Lehrerin sicher, dass ich schnell ein wenig mütterlichen Trost bekommen würde.

Ob mein Vater oder die Oma davon erfuhr, weiß ich nicht. Am folgenden Sonntag ging unser Vater mit uns Mädchen zum inzwischen frisch hergerichteten Grab unserer Mutter auf Münsters Zentralfriedhof nahe dem Aasee und erzählte uns, dass sie dort nun ruhen würde, nahe einer ihrer geliebten Tanten. So hatten wir die Ablenkung, dass unsere Mami nicht allein sei und obendrein wollte er dann von unserer Großen und von mir, dem I-Männchen wissen, wie denn nun der Name „Mami“ auf dem Grabstein richtig eingemeißelt werden müsse: mit einem m in der Mitte oder mit zwei m? Natürlich erhielt der Grabstein die richtige Schreibweise …

Heute weiß ich, dass die Eltern meiner Mutter 88 und 102 Jahre alt wurden. Bis auf die jüngste Schwester meiner Mutter alle fast 90 Jahre alt wurden! Dass meine Mutter nur 36 Jahre Lebenszeit hatte - ob es der Krieg zuvor war oder ihr starkes Rauchen - das werde ich nie erfahren. Ihre andere Schwester hatte mit knapp 50 Jahren ebenfalls Brustkrebs, starb aber mit 90 Jahren an den Folgen eines Oberschenkelhalsbruchs - trotz lebenlanger TB ...

Die Wochen vergingen, die Adventszeit ging zu Ende und der Heilige Abend war gekommen. Unser Vater hatte ein kleines Weihnachtsbäumchen gefunden, mit Topf ca. 40 cm hoch und mit kleinen Kerzlein bestückt. Das sollten wir Kinder gemeinsam zum Grab unserer Mutti bringen und dort die Kerzen anzünden. Mutti sollte auch ein wenig Weihnachten haben. Die Große hatte auch eine Schächtelchen Streichhölzer bekommen, die nur sie nutzen durfte.

Auf dem Weg zum Friedhof, immerhin eine Strecke von 2 km zu Fuß durch die Promenade, für die wir Kinder etwa eine gute halbe Stunde hin benötigten, quengelte ich meine große Schwester an, auch einmal das Bäumchen tragen zu dürfen. Aber ob es ihr Pflichtbewusstsein war, das Bäumchen heil zum Grab zu bringen oder ihre Ansicht, ich sei schließlich Schuld daran, dass unsere Mutti auf dem Friedhof begraben lag, weil der Kinderwagen, in dem ich – acht Monate alt – gelegen hatte, und der Griff ihr im Bombenalarm große blaue Flecke auf ihrer Brust gemacht hatte, sie krank werden ließ und hatte sie sterben lassen. Es war auf jeden Fall für sie eine Möglichkeit, mir ein weiteres Mal klar zu machen, dass unsere Mutti durch die Wolkenlöcher am Himmel jede meiner Missetaten sähe und mich dafür bestrafen würde! Der weitere Weg zum Friedhof verlief still.

Die Große stellte das Bäumchen auf Muttis Grab, zündete die Kerzchen an. Wir blieben noch einen Moment in Gedanken stehen und dann ging es wieder nach Hause, denn wir wusste, in der Zwischenzeit könnte das Christkind dagewesen sein, gleich die Beschwerung folgen. Eine halbe Stunde später waren wir fast zu Hause angekommen. Der Christbaum stand in unserem Wohnzimmer direkt vor dem großen Eckfenster. Durch die Übergardinen schimmerten schon die angezündeten Kerzenlichter, die Gardine bewegte sich ein wenig. Ich sah das gekippte Fenster, die Bewegung, und sah in meiner Fantasie auch das Christkind dahinter … So aufgeregt war ich nie wieder!

Den Rest des Weges sind wir zur Haustür gerannt, die Treppen hoch in den dritten Stock in der Erwartung, ob auch das Christkind wirklich schon dagewesen sei! Aber – wie Erwachsene so sind – sie verlangten von den Kindern erst einmal kurz einen Bericht über den Grabbesuch, während wir uns der Wintermäntel entledigten. Dann gab es ein kurzes Verschnaufen, bis das Weihnachtsglöckchen hinter der Wohnzimmertür erklang – und die Bescherung nahm ihren Lauf: Frohe Weihnachten alle zusammen.

Foto 82 Omas prüfender Blick, ob ihre Enkelinnen auch alle zufrieden sind 1951.jpg
Da wuselte plötzlich auch etwas um unsere Füße herum! Unsere Große nahm den kleinen Dackelwelpen gleich auf ihren Schoß. Das Hündchen war begeistert, dass da drei kleine Mädchen auf ihn zustürmten. Auch unsere Puppen hatten Zuwachs bekommen, die vorhandenen neue Kleider, eine Käthe-Kruse wartete auf mich und ein Puppenhaus auf unsere Jüngste. Unser Vater setzte sich ans Klavier und spielte Weihnachtslieder, während wir Kinder uns über unsere Teller hermachten …

Foto 83  bei so viel Schnee durften Uschi und Gitta mit Filou rodeln Winter 1951, 1952.jpg
Dieser Winter wurde sehr kalt und es gab so viel Schnee, dass wir mit Filou, unserem Dackel, auch noch in die Promenade zum Rodeln gehen durften.

Sogar die Schule fiel nach den Winterferien für einen Tag wegen der Kälte und des Schnees aus! Statt Unterricht gab es die Losung: wer einen Schlitten hat, bringt den mit zu einem Treffpunkt in der Promenade und dort wird ein paar Stunden gerodelt … Die I-Männchen hatten viel Spaß!!
 


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Kommentare (3)

nnamttor44

Meinen Dank auch an die vielen Herzchen-Geber
Liliom, Muscari, Diestel1fink7, ahle-koelsche-jung, HeCaro, Eisenwein und Silberelfe
💕 💕 💕 💕 💕 💕 💕 💕 💕 💕 💕 💕 💕

an Euch alle

Uschi

HeCaro

Liebe Uschi
schöne alte Fotos sind das. Mich erinnern sie an die unbeschwerte Kinderzeit.
Ich bin Jahrgang 1946 und wir sind vermutlich zur selben Zeit eingeschult worden.

Liebe Grüße, Carola

nnamttor44

@HeCaro
Liebe Carola,

ich bin Jahrgang 44, 1951 eingeschult worden - und das irgendwie gleich zwei mal! Zuerst in die alte, von Bomben verschonte Uppenbergschule Münsters und nach den Sommerferien dann die ganze Klasse (und wohl auch weitere Parallelklassen) in das neue Gebäude der Kreuzschule, direkt neben unserer Pfarrkirche. Auch das war in 1951, war mir total entfallen.

Dorthin gingen wir dann die nächsten Jahre bis zum Ende der Grundschulzeit. Mein Schulweg zur Uppenbergschule führte durch einen kleinen Park, wo mich eines Tages ein Exhibitionist versuchte, abzufangen! Unsere am Park praktizierende Kinderärztin sah den seltsamen Mann, der mich festhielt und verjagte ihn wohl. Ihre wohlmeinende Art, die sie meinen Vater informieren ließ, sorgte dafür, dass ich - damit ich mich nie wieder von einem Fremden anfassen lassen sollte - eine Tracht Prügel bekam ...

Der Weg zur neuen Schule war zum Glück Park-frei!!

Auf diese Art hatte mein Jahrgang sozusagen ein verlängertes erstes Schuljahr, denn - wenn ich mich richtig erinnere - begannen die Versetzungen danach stets im Sommer, nicht zum 1. April.

Jahre später, als ich dann in die Realschule ging, war es nun wieder das alte und renovierte Gebäude der nun anders genutzten Uppenbergschule ...

Danke für Deinen lieben Kommentar - auch für den Zuspruch zu meinen Fotos

Uschi


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