Die Glaskugel 'Leben'


Die Glaskugel 'Leben'

 
Eine sanfte Nacht, eine wunderschöne samtartige Nacht, in der ich eigentlich im Schlaf versunken, der Ruhe ausgeliefert sein sollte. Draußen, entlang einer endlos scheinenden Allee von Laternen, fließt der gebremste nächtliche Verkehr durch die Häuserschluchten der Stadt.
     Hoch oben im 4.Stockwerk stehe ich schon längere Zeit am Fenster des Hotelzimmers. Ich blicke auf eine Reihe von Autos, die sich jetzt in der Samstagnacht gegen vier Uhr, noch reichlich unentschlossen durch die Straßen bewegen.
     Dort am Ende der Fahrbahn, wo sich die Ausfallstraße gabelt, spaltet eine Ampel den Verkehr auf, eine Fahrbahn nach rechts, eine nach links. Die Häuser dieser Straßenzeile haben sich längst in Ruhe eingehüllt, in eine innere Ruhe, die alles von sich abprallen lässt, das am Tage auf sie eingedrungen ist. Letztlich ist es der nächtliche Verkehr, der allein zeigt, dass hier nach einer Zeitpause wieder der Atem der Großstadt vollauf damit beschäftigt ist, den Anspruch des täglichen Lebens zu erfüllen.
     Alle Fenster der jenseitigen Straßenseite sind in völlige Dunkelheit eingebettet, alle bis auf eines! Es ist hell erleuchtet, man ahnt, dass dort Morpheus immer noch nicht das Zepter übernommen hat. Ich versuche, mich in dieses Zimmer hineinzuversetzen, natürlich ist etwas Neugier dabei, ich versuche zu erraten, was dort vorgehen mag?
     Wer mag dieser unruhige Geist sein, der nach dem aufregenden Tag keine Ruhe findet? In diesem nächtlichen Kaleidoskop von hellen Schatten und silhouettenhafter Bewegung ahnt der stille Beobachter eine hektische Anspannung, die alle Ruhe vermissen lässt.
     Der kommende Tag lässt sich ahnen. Fern am Rande der Stadt gebiert der Himmel dann einen rosa Schein, zart angehauchtes Firmament, teilweise verdeckt von hohen Bäumen des Parks. Großstadtleben auf Sparflamme oder wie man es sonst nennen mag. Eine Straßenbahn schleicht kaum vernehmlich und fast ohne Fahrgäste über die blanken Schienen. Sie ruht sich aus vor dem großen Ansturm, der sie ein paar Stunden später völlig aus dem Atem bringen wird.
     Inzwischen ist der Uhrzeiger weitergelaufen, halb fünf ist es geworden, die ersten Fenster in der langen Straßenreihe leuchten wie Lichterketten auf, der Vorreiter hat sich inzwischen aus der langen Zeile der Reihen verabschiedet. Dunkelblau ist der Morgen, dieser Morgen, der alles verheißt und doch nichts halten kann! Das Leben, das tägliche Leben lässt sich nicht einfach in Formen pressen. Es ist unmöglich etwas zu verlangen, dass der Mensch nicht aus freiem Willen tun kann. Was ist denn schon der göttliche Funke, der die Welt ins Licht taucht? Ich würde zum Beispiel gern in das Herz jenes jungen Mannes schauen, der dort gerade die Morgenzeitungen zu den Leuten bringt!
     Kann er der Glückliche sein, der in dieser rosigen Morgenstunde alle Sorgen von sich werfen darf? Oder ist gerade diese Person diejenige, die schließlich dem Moloch ›Geschäft‹ ohne Erbarmen zum Opfer fällt?
     Er singt. Man mag es nicht glauben, aber er singt! Ich sehe es mit erstaunten Augen, wie er mit geöffnetem Mund sein Fahrrad mit den Zeitungstaschen im Takt irgendeines Liedes über den Fußweg unter den gelb-weißen Schinkel- Leuchten von Tür zu Tür schiebt.
     Woher kommt diese Fröhlichkeit? frage ich mich. Was kann der Sinn sein, dass ein Mensch, der so früh am Morgen sein Brot verdienen muss, derart fröhlich ist?
     Am Straßenrand hält ein heller VW-Tiguan. Der Fahrer öffnet das rechte Fenster, beugt sich herüber und fragt den Zeitungsboten irgendetwas. Der hält in seiner Tätigkeit inne, zeigt dann in die Richtung des Fahrenden. Nach einigen Sätzen bedankt sich der, kurz darauf ist der Wagen meinem Blickfeld entronnen. Auch der Zeitungsbote ist inzwischen nicht mehr sichtbar. Er setzt seine Tätigkeit wohl in der Nachbarstraße fort.
     Ich werde langsam doch von der Müdigkeit eingeholt. Bedauern über diese nächtliche Episode der Zeit des Wachens kann ich aber nicht feststellen, es ist schon seltsam. So vieles geschieht in dieser Stunde, so vieles lag auch hier in diesem Zeitraum wie unter einer gewaltigen Glaskugel vor der Welt versteckt.
      Auch Beweggründe für meine Schlaflosigkeit kann ich nicht erklären, dieses individuelle Phänomen des Unterbewusstseins wird sich nicht offenbaren, weil es tief im Innern verschlossen ist.
     Ich trete vom Fenster zurück, schaue auf meine Uhr: Es ist gerade Fünf. Es war eine Stunde in einer existierenden Zeit, die in einer Parallelwelt getrennt von allem Geschehen in und um mich herum stattfand. Die Glaskugel des Daseins hat mich wieder zurückgebracht in diesen Garten Eden, wo jede Art von Traum irgendwo im Nirgendwo endet. Einfacher gesagt:
Das Leben ist zu unbeschreiblich schön, um so einfach ohne Sinn darin zu verharren!

©by hcglux

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Kommentare (2)

Muscari


Solche nächtlichen Beobachtungen, noch dazu in einer fremden Großstadt, vermitteln eine ganz besondere Atmosphäre.
Es erinnert mich an schlaflose Hotelnächte in Paris und Wien vor langer Zeit.
Danke für diesen interessanten, in seiner Formulierung eindrucksvollen Beitrag.
Andrea


 

ladybird

Dein so sehr frühes, bereits sehr lebendiges  Erlebnis,
lieber Horst,
erinnert mich an das frühe Erwachen einer Großstadt zB hier in Köln. Ich war gegen 5 morgens auf dem Bahhof(um zu  verreisen) und sah, wie sich die Müllkehrer um ihre Karren kümmerten , die Zeitungsausträger sich zu ihnen gesellten und ein Schwätzchen hielten.....usw.
mich hat diese Beobachtung (unvergesslich) angesprochen.......und wie Du liest, habe ich sie wieder mit Freuden "ausgebuddelt" und mir gegenwärtig gemacht...
Dank Dir mit lieben Gruß
Renate

 


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