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Geisteswissenschaft / Philosophie Historische Primärquelle: Tagebuch

carlos1
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Re: Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von carlos1
als Antwort auf lotte2 vom 18.01.2011, 17:47:32
Die Tagebücher Klemperers sind mehr als nur Autobiographien. Eine Autobiographie gibt die Wirklichkeit eher verzerrt, sehr subjektiv wieder. Leben, wie man es gerne hat, dass es so ausgesehen hätte. Biographien dienen, wenn sie etwa nach Ablauf einer Amtszeit oder am Ende einer Karriere verfasst werden der Selbstdarstellung, der Rechtfertigung oder der Abrechnung mit Feinden und der Selbstglorifizierung. Das eigene Ich im besten Licht. Genau das zeichnet Klemperers Tagebücher aber aus, dass sie nicht abrechnen und glorifizieren. Sie bewerten, kritisieren mitunter, aber verurteilen nicht. Sie fangen die eigene momentane Gestimmheit und die Atmosphäre ein. Es ist ein über viele Jahrzehnte hinweg konsequent durchgehaltener Versuch niederzuschreiben, was ihn bewegte.

Clara hat darauf hingewiesen, dass Klemperer als Sprachwissenschaftler (Romanist) eine Untersuchung zur Sprache des Dritten Reiches geschrieben hat. Sehr lesenswert mit vielen Beispielen. Die ersten Bände seiner Tagebücher beginnen in den 90er Jahren des 19. Jhd. finden eine Fortsetzung in der Weimarer Republik und sind von besonderem Wert im Dritten Reich. Klemperer blieb übrigens in der DDR. Es wird mal Zeit, dass ich diesen Bücherschatz mal wieder heranziehe. Er steht seit langem im Regal.

Als historische Primärquelle möchte ich Klemperers Tagebuch insofern bezeichnen, als er versucht Stimmungen und Bewusstseinslagen zu beschreiben und erfahrbar zu machen. Unmittelbarer Zeitzeuge wichtiger Begebenheiten war er aber nicht, Er hat Geschichte erlitten, nicht gestaltet.

c.
dutchweepee
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Re: Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von dutchweepee
als Antwort auf carlos1 vom 18.01.2011, 23:04:29
Ich habe schon zu DDR-Zeiten "LTI" als Reclambüchlein verschlungen. Es hat mich stark fasziniert. Vor allem da ich jeden Tag in Dresden am CDF-Platz vorbei gefahren bin, wo er vor 1945 lebte. Mich hat Klemperers Scharfsinn beeindruckt. Seine These, dass Diktaturen zur Substantivierung von Verben neigen, hat sich jedenfalls auch in der DDR bestätigt.

Im "Neuen Deutschland" endeten 90% aller Verben auf ung.

Es gibt eine tolle Verfilmung Klemperers Tagebücher, die ich oft und gerne aus meinem DVD-Schrank rauswühle. Der Mann war Klasse!
carlos1
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Re: Historische Primärquelle: Tagebuch
geschrieben von carlos1
als Antwort auf dutchweepee vom 18.01.2011, 23:25:23
Hallo dutch,
vielen Dank. Du hast LTI mit Interesse gelesen wie ich auch. Habe sofort wieder das Buch geholt und fing wieder an. Klemperer ging es während er das Buch im Kopf hatte sehr schlecht. Er hatte keinen Zugang zu großen Bibliotheken, musste ständig mit Haussuchungen rechnen. Er arbeitete 10 Stunden am Tag in einer Fabrik, und wenn er von der Gestapo verhört wurde, setzte es Schläge. Er las Zeitungen wie das Parteiorgan "Völkischer Beobachter" und hörte auf die Unterhaltungen der Arbeiter in der Fabrik. Als A. Rosenbergs "Mythos des 20. Jahrhunderts" (Naziphilosophie) bei ihm entdeckt wurde, sah die Gestapo es als schweres Vergehen an, dass ein "Judenschwein" eine Heilige Schrift des Nationalsozialismus zu lesen wagte. Rosenberg wurde übrigens in Nürnberg wegen Rassenhetze zum Tode verurteilt.

Am Schluss des Buches erwähnt Kl. eine Berlinerin, deren Mann (als Kommunist) im KZ saß und dann in ein Strafbataillon versetzt wurde. Auf die Frage, warum er einsaß, sagte sie: "Wejen Ausdrücken." Da hatte einer mal seine Meinung gesagt und wurde denunziert.

c.

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