Forum Gesundheit und Fitness Gesundheit Hinweis auf ein pharmakritisches Buch (FAZ, 14.09.2007)

Gesundheit Hinweis auf ein pharmakritisches Buch (FAZ, 14.09.2007)

niederrhein
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Hinweis auf ein pharmakritisches Buch (FAZ, 14.09.2007)
geschrieben von niederrhein
Vor kurzem wies ich im allgemeinen Forum auf die Rezension eines pharmakritischen Buchs hin ... hier nähere Hinweise.


Jacky Law: „Big Pharma“. Das internationale Geschäft mit der Krankheit. Aus dem Englischen von Christoph Trunk. Patmos Verlag, Düsseldorf 2007. 327 S., geb., 22,– €.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.09.2007 Seite 41


Aus der Rezension:
Das Geschäft mit der Krankheit
Jacky Law erklärt uns die Mechanik der Pharma-Welt

Dieses Buch bringt den pharmazeutischen Komplex klarer auf den Begriff, als uns lieb sein kann. Dabei ist „Big Pharma“ kein Enthüllungsbuch. Enthül-lungsbücher über mafiose Machenschaften der Pharmaindustrie gibt es viele. „Big Pharma“ geht es um die ruhige und in keiner einzigen Zeile sensationalistisch vorgetragene Frage, warum die Pharmaindustrie in der Lebensspanne eines einzelnen Menschen so ungeheure Macht gewonnen hat. Es geht um die Frage, wie alles zusammenhängt und sich gegenseitig stabilisiert: die Bequemlichkeit der Patienten, die Propaganda der Pharmahersteller, die Resignation der Kontrolleure. Mit anderen Worten: „Big Pharma“ ist der Versuch, auf der Grundlage gesicherter Daten das medikamentöse System in seiner soziologischen und sozialpsychologischen Verflochtenheit zu entschlüsseln.
Am Ende dieses faszinierenden Buches hat man verstanden, warum die Pharmabranche so tickt, wie sie tickt.
[...]

... typische[...] Scheininnovationen: Medikamente werden als Neuheiten auf den Markt geworfen, doch tatsächlich treten sie nur im Gewand des Neuen auf. [...]
Nachdem die großen tödlichen Infektionskrankheiten besiegt waren und die Lebenserwartung stieg, richtete die Medizin ihre Anstrengungen auf die chronischen Krankheiten und den Einfluss von Lebensführung und Umwelt. Die Zivilisations- und Modekrankheiten entwickelten sich zu Märkten für Blockbuster-Medikamente und spülen bis heute Milliardengewinne auf die Konten der Pharmariesen.
[...]
Die Angst, dass mit unserem Körper etwas nicht stimmen könnte, ist das Kapital der Pharmaindustrie. Sie verkauft uns Sorglosigkeit.
[...] Dieses System definiert, wer krank und wer gesund ist, wie wir uns richtig ernähren und ob unsere sexuelle Lust normal ist. Pillen helfen nicht nur bei schweren Krankheiten, Pillen enthalten sehr oft auch ein Erlösungsversprechen. Und der Patient fühlt sich wohl in diesem Rundumbequemlichkeitsmodell.
[...]
Die Pharmabranche lässt es sich enorme Summen kosten, die Angst vor Krankheiten wachzuhalten und unsere Blicke auf immer neue Symptome zu lenken. Keine andere Branche verdient so gigantische Summen, in keinem anderen Wirtschaftszweig sind die Absatzmärkte derart lukrativ. Allein 2004 erzielten die zehn führenden Pharmaunternehmen mit verschreibungspflichtigen Medikamenten einen Umsatz von 205 Milliarden Dollar.
[...]
Neue Medikamente müssen die Firmen so schnell wie möglich auf den Markt bringen, weil sich die Halbwertzeit der Patente verkürzt. Denn die Konkurrenz wirft sofort Imitationsprodukte auf den Markt, wodurch faktisch der Patentschutz ausgehebelt wird. [...] Die meisten „neuen“ Medikamente sind Scheininnovationen [...] Neu, das bedeutet schon, eine Pille nicht mehr schlucken zu müssen, sondern sie im Mund zergehen lassen zu können.
[...]
Genauso stutzig macht die Tatsache, dass der Anteil des Umsatzes, den die Pharmabranche in Forschung und Entwicklung steckt, nur etwa vierzehn Prozent beträgt. Doppelt so viel Geld geben die Unternehmen für Marketing und Verwaltung aus. Die amerikanische Zeitschrift „Advertising Age“ veröffentlichte 2002 ein Ranking der größten Werbebudgets in Amerika. Unter den ersten zehn Plätzen fanden sich zwei Pharmafirmen: Pfizer und Johnson & Johnson. Sie investierten mehr Geld in Werbung als Coca-Cola, McDonald’s oder Toyota.
Charles Medawar [...] sieht in der aggressiven Verbraucherwerbung ein bedrohliches Potential, weil sie gesunden Menschen nahelege, sie benötigten medizinische Hilfe. [...]

Melanie Mühl


Die Bertha
vom Niederrhein
eleonore
eleonore
Mitglied

Re: Hinweis auf ein pharmakritisches Buch (FAZ, 14.09.2007)
geschrieben von eleonore
als Antwort auf niederrhein vom 12.10.2007, 13:26:48
werte bertha,
eventuell besteht interesse an diesen artikel, die ich jetzt rausgekramt habe.
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Wenn Martin Wehling als Junge seine Großmutter besuchte, ging es der alten Dame fast immer schlecht.
Weil sie an hohem Blutdruck litt, bekam sie eine Tablette zur Wasserausscheidung und ein herzstärkendes Mittel. Gegen ihre eigentlichen Beschwerden schien das aber nicht zu helfen. Ständig
war sie verwirrt, wusste kaum noch, wo sie war oder was sie gerade tat, und außerdem war ihr fast immer übel. Schließlich musste sie sogar regelmäßig eine Tablette gegen den Brechreiz schlucken.

Doch eines Tages ging es ihr plötzlich blendend
„Hat der Hausarzt endlich das richtige Mittel für dich gefunden?“, fragte Wehling seine Großmutter.
„Nee, min Jung“, kam die Antwort, „der Hausarzt, der ist gestorben.“

„Der Hausarzt hat bei der Therapie mindestens fünf bis sechs Fehler gemacht“, sagt Wehling, der heute das Institut für Klinische Pharmakologie am Klinikum Mannheim leitet.
Die meisten Beschwerden seiner Großmutter seien ganz einfach Nebenwirkungen der verschriebenen Medikamente gewesen.

Obwohl sie die meisten Patienten stellen, läuft auf kaum einem Gebiet der Heilkunst so viel schief, wie bei der Behandlung alter Menschen.
„Ein großer Teil von ihnen ist entweder überbehandelt, bekommt also zu viele, oder ist unterbehandelt, bekommt als zu wenig Medikamente“, konstatiert Rainer Gladisch, der am Mannheimer Klinikum die Gerontologie leitet.

Über 60-Jährige leiden schätzungsweise fast dreimal so häufig unter Nebenwirkungen wie jüngere Patienten.
In einer im „Journal of the American Geriatrics Society“ veröffentlichten Studie, für die 332 Bewohner eines Altenheims vier Jahre lang untersucht wurden, traf dies auf mehr als 65 Prozent der Patienten zu. Oft werden die Beschwerden nicht als Nebenwirkungen erkannt und deshalb mit weiteren Medikamenten behandelt –ein Teufelskreis.

Auch bis zu 23 Prozent der Krankenhauseinweisungen älterer Menschen, so haben neue Studien gezeigt, sind auf Nebenwirkungen zurückzuführen. „Fehler und Nebenwirkungen bei der medikamentösen Behandlung alter Menschen“, klagt der Nürnberger Gerontologe Wolfgang Mühlberg, „sind ein ernst zu nehmendes gesundheitspolitisches und finanzielles Problem.“
Der Mediziner kennt sogar Fälle von Todgeweihten, die nach Absetzen ihrer Medikamente putzmunter das Sterbezimmer verließen.

Vielen Ärzten dämmert mittlerweile, dass dringend etwas geschehen muss. Medikamentenspezialist Wehling: „Der Bedarf an Aufklärung und Forschung ist gigantisch.“
Der Mediziner hat deshalb mit seinem Kollegen Gladisch am Klinikum Mannheim ein Zentrum für Gerontopharmakologie gegründet. Sie haben bereits eine ganze Reihe von Gründen für den
Missstand ausfindig gemacht:

• Ein über 60-Jähriger nimmt im Durchschnitt drei Medikamente
ein, dreimal mehr als ein jüngerer Patient.Mit der Anzahl der
Medikamente aber steigt das Risiko von Wechselwirkungen
und damit Nebenwirkungen dramatisch an.

• Eine Mehrzahl der auf dem Markt erhältlichen Medikamente
wurde nie gesondert an alten Menschen erprobt. So fehlt es an Grundwissen, wie die eingesetzten Substanzen im Körper älterer Menschen wirken.

• Alte sehen oft schlecht, haben Gedächtnisprobleme und sind
motorisch ungeschickt; deshalb unterlaufen ihnen leicht Einnahmefehler, die schnell zu Über oder Unter dosierungen führen können.

• Gerontopharmakologie wird im Studium kaum unterrichtet, Fortbildungen sind selten. Selbst die spärlichen Erkenntnisse
der Experten gelangen oft nicht zu den behandelnden Ärzten.

Dabei wären viele der typischen Fehler leicht vermeidbar: Oft berücksichtigt der Hausarzt beispielsweise nicht, dass die Nierenfunktion im Alter immer weiter nachlässt.
Die Nierenschwäche führt wiederum dazu, dass Medikamente langsamer ausgeschieden werden und sich dadurch im Körper anreichern. „Bei gleicher Dosierung haben wir in Einzelfällen einen fünffach erhöhten Blutplasmaspiegel eines Medikaments gemessen“, berichtet Mühlberg.

Was bei einem 40-Jährigen die richtige Dosis ist, kann einen 70-Jährigen schonvergiften. So kam vermutlich auch die Übelkeit bei Wehlings Großmutter zu Stande: typisches Anzeichen einer schleichenden Vergiftung mit dem Herzmittel Digitalis.

Oft wissen die behandelnden Ärzte noch nicht einmal, dass die Nieren ihrer älteren Patienten schwächeln. Ein bestimmter Blutwert, der bei jüngeren Menschen anzeigt, ob die Filterorgane noch ordentlich arbeiten, liegt im Alter auch bei eingeschränkter Nierenfunktion fast immer in Normbereich. Aus diesem Grund wären eigentlich aufwendigere Tests oder Berechnungen erforderlich – für viele Hausärzte eine Überforderung.

Kommt es tatsächlich zu einer Überdosierung, hat ein älterer Organismus zudem viel weniger Reserven, mit den Nebenwirkungen fertig zu werden. Viele Alte verschlimmern das Problem noch dadurch, dass sie zu wenig trinken. Mühlberg: „Viele stauben fast.“
Wenn dann die verabreichten Pillen die Wasserausscheidung erhöhen, ist der gesundheitliche Absturz vorprogrammiert.

Die Folgen zu starker Austrocknung: Verwirrtheit bis hin zum Delirium; Schwin-Benzodiazepine wirken nicht
nur beruhigend und Angst lösend, sie entspannen auch die Muskeln und beeinträchtigen die Koordination. Die Wahrscheinlichkeit zu stürzen – mit der Gefahr schwerer Knochenbrüche– wird durch die Pilleneinnahme drastisch erhöht.

Auch Schmerz- und Beruhigungsmittel oder Blutdruck senkende Medikamente können zu solchen Symptomen führen.
Doch oft werden diese Beschwerden nicht einmal als Nebenwirkungen erkannt. „Gerade Verwirrtheit“, so Mühlberg, „wird oft fehlinterpretiert, nach dem Motto: Die Oma ist halt verwirrt.“

Auch eine andere typische Arzneinebenwirkung wird oft nicht als solche erkannt: das so genannte Parkinson-Syndrom. Dabei treten die gleichen Symptome auf wie bei der gleichnamigen
Krankheit – vor allem eine Steifheit der Muskeln. Doch im Gegensatz zur Parkinson-Krankheit wird das Parkinson-Syndrom nicht durch eine Hirndegeneration ausgelöst, sondern zum Beispiel durch Psychopharmaka wie Neuroleptika und Antidepressiva. Alte Menschen sind besonders anfällig dafür.

„Vor kurzem“, erzählt Wehling, „wurde ich zu einem angeblich depressiven Patienten gerufen, der lag steif wie ein Brett im Bett. Die Antidepressiva, die er bekam,halfen nicht. Kein Wunder: Sie waren die Ursache seines Problems – er hatte eine Parkinson-Krise.“ Wehling setzte sofortalle Medikamente ab und verabreichte ein Gegenmittel. „Am nächsten Tag“, sagt er, „ist der Patient wieder aufgestanden.“
In diesem Fall ging es gut aus.
„Aber“, fügt Wehling hinzu, „was meinen Sie, wie oft so etwas passiert?“

Tückisch sind auch „Problem- Medikamente“ wie die Benzodiazepine, etwa Valium oder Adumbran,die als Schlaf- und Beruhigungsmittel verordnet werden.
„Viele alte Menschen“, so Mühlberg,„nehmen die schon jahrelang, so dass man die Pillen, weil sie körperlich und psychisch abhängig machen, nur noch schwer absetzen kann.“

Bei einer Studie von Mühlberg kam zudem heraus, dass sich im Alter die Aufnahme einiger Benzodiazepine im Darm verändert; anders als bei Jungen nimmt die Konzentration im Blut nach einem Abfall plötzlich wieder zu.
„Das hat uns wirklich sehr überrascht“, sagt Mühlberg, „und es zeigt mal wieder, dass vieles bei der Therapie alter Menschen wirklich unberechenbar ist.“

Gerade deshalb, fordern die Mediziner, müssten neue Arzneimittel an alten Menschen extra getestet werden – doch das Gegenteil ist der Fall. „In sehr vielen Studien für die Neuzulassung von Medikamenten“,kritisiert Mühlberg, „werden Menschen über 70 systematisch ausgeklammert.“

Die Pharmafirmen begründen dies meist damit, dass sich alte Menschen in ihrem jeweiligen Gesundheitszustand zu sehr voneinander unterscheiden würden; ein Vergleich und damit sinnvolle Ergebnisse seien bei ihnen nicht mehr möglich.

Gladisch und Mühlberg sehen dieses Problem. „Aber auch berechtigte methodische Bedenken“, so Gladisch, „dürfen nicht der Grund dafür sein, die größte Patientengruppe einfach gar nicht zu untersuchen.“

Die Mediziner vermuten, dass sich die Konzerne auch aus Angst vor negativen Ergebnissen so auffällig zurückhalten.
Gladisch: „Vieles spricht dafür, dass einige Medikamente bei alten Menschen schlechter wirken – die Firmen haben Angst, dass so etwas in den Studien herauskommen könnte.

mit freundliche genehmigung von spon-archiv.


--
eleonore
EehemaligesMitglied58
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Re: Hinweis auf ein pharmakritisches Buch (FAZ, 14.09.2007)
geschrieben von EehemaligesMitglied58
als Antwort auf eleonore vom 12.10.2007, 14:31:50
Hier mag ja vieles stimmen, was ihr und eure autoren so schreiben, aber die mär von der todkranken großmutter, die nach dem absetzen aller medikamente plötzlich kerngesund und munter weiterlebt, die könnt ihr euch wirklich sparen.
Denn war sie wirklich krank und setzt alle medikamente ab, dann hat sie sicher keine nebenwirkungen mehr, aber sicher großes ungemach als folge ihrer grunderkrankung oder aber den baldigen exitus.
Der mensch, ob alt oder jung, der mit einer chronischen krankheit geschlagen ist, kann nun mal nicht durch ernährung und lebensweise allein gesunden oder unbeschadet weiterleben.
Natürlich haben medikamente nebenwirkungen aber wenn leben oder lebensqualität es erfordern, müssen diese eben durch andere medikamente gemildert werden.
Der schmerzpatient, der ohne starke schmerzmittel nicht existieren kann, muß einfach magenschonende mittel zusätzlich einnehmen oder hat zwar weniger probleme, dafür aber einen kaputten magen.
Die beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.
Da sagte mir doch ein arzt:
wenn wir das therapieniveau und die medikamentenversorgung von 1980 noch hätten, würden einige meiner patienten schon lange nicht mehr leben.
Also:
nicht alles so negativ sehen und gute ärzte verschreiben nach der gesundheitsreform sowieso sehr sparsam um nicht die medikamente ihrer patienten aus eigener tasche zahlen zu müssen.

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gram
longtime
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Mitglied

Re: Hinweis auf ein pharmakritisches Buch (FAZ, 14.09.2007)
geschrieben von longtime
als Antwort auf EehemaligesMitglied58 vom 12.10.2007, 19:02:21
Seniopathen aller Länder und Foren - vereinigt euch!

--
longtime
eleonore
eleonore
Mitglied

Re: Hinweis auf ein pharmakritisches Buch (FAZ, 14.09.2007)
geschrieben von eleonore
als Antwort auf EehemaligesMitglied58 vom 12.10.2007, 19:02:21
@gram,

die von mir zitierte artikel ist von Prof. Wehling, und er meinte dass mit seine oma ein wenig ironisch.

dass alte menschen oft falsch behandelt werden, bzw. medikamente ohne sinn und verstand verordnet bekommen, hab ich in meine unmittelbare nähe erlebt.
--
eleonore

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