Forum Kunst und Literatur Literatur Neue Folge: Literaturliebhaber denken heute an: ...

Literatur Neue Folge: Literaturliebhaber denken heute an: ...

longtime
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Re: Literaturliebhaber denken heute - am 1.10. an Günter Wallraff
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 01.10.2009, 05:23:50
Ergänzend zum Autor und Undercover-Journalist Günter Wallraff:

G.W.:

Aus: „Essen mit Spaß“ (Frage: Wo?)

„Der Arbeitsplatz hinter der Theke ist eng, der Boden schmierig und glatt, die Grillplatte glühend heiß bei 180 Grad Celsius. Es gibt keinerlei Sicherheitsvorkehrungen. Eigentlich müßte man Handschuhe bei der Arbeit tragen, das schreiben jedenfalls die Sicherheitsbestimmungen vor. Aber es gibt keine, und sie würden die Arbeit nur verlangsamen. So haben viele, die dort länger arbeiten oder gearbeitet haben, Brandwunden oder Narben von Brandwunden. Ein Kollege mußte kurz vor meiner Zeit ins Krankenhaus, weil er in der Hektik direkt auf den Grill gefaßt hatte. Ich (Ali) hole mir gleich in der ersten Arbeitsnacht Blasen wegen der aufspritzenden Fettropfen.
Naiverweise glaube ich (Ali), meine erste Schicht sei wie vereinbart um halb drei Uhr morgens zu Ende. Ich (Ali) bemerke, wie man über mich, den Neuling, zu reden beginnt. Der Manager fährt mich (Ali) an, was mir denn einfalle, vor der Zeit zu gehen. »Ich habe mich nur an die Anweisung gehalten.« - Ich hätte mich persönlich bei ihm abzumelden, warnt er mich (Ali) und fragt mit drohendem Unterton, ob ich denn draußen wirklich schon saubergemacht hätte. Da ich bereits kurz vorher im dünnen Hemd in die Kälte der Dezembernacht hinausgeschickt worden war, antworte ich (Ali), daß alles total sauber sei. Eine besonders aufmerksame Angestellte bemerkt aber, daß noch Papier herumliegt.
Es ist mittlerweile kurz vor drei Uhr morgens. Der Manager meint, ich (Ali) würde die richtige Einstellung vermissen lassen, ich (Ali) engagiere mich nicht. Auch mein Gesicht sähe nicht sehr froh aus. Ich solle nicht denken, ich würde nicht kontrolliert. Beispielsweise hätte ich heute fünf Minuten an derselben Stelle gestanden. »Wieso«, erwidere ich (Ali), »kannnich sein, ich flitzen hin und her, weil ich dies Arbeit auch als Sport seh'.«

**

Aus: „Der Aufmacher“

„Jeder Mensch hat eine schützenwerte Sphäre intimen Lebens und Erlebens, in die kein maskierter Journalist sollte einbrechen dürfen. Kann eine Produktionsstätte von Meinungen und Informationen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, andere »Geheimnisse« haben als solche, deren Entdeckung nur die Lauterkeit ihres Tuns unter Beweis stellen müssen? Und konnte der Springer-Konzern nicht gelassen davon ausgehen, daß Wallraff - anders als BILD, das es sich gefallen lassen muss, ein Werk professioneller Fälscher genannt zu werden - in seinem Bericht strikt bei der Wahrheit bleiben muss, wenn er eine Chance haben soll, juristische Auseinandersetzungen mit den Anwälten und dem Geld des Konzerns auch nur einigermaßen glimpflich zu bestehen?“
Aus: "Undercover im Callcenter:"

*

“Glitzernd ragt das Hochhaus in den Himmel über Köln, acht Meter höher als der Dom. Der Köln-Turm im MediaPark ist mein Ziel an diesem Morgen, die neue deutsche Arbeitswelt, in der nichts mehr qualmt und rußt wie einst in Fabriken und in Zechen, sondern die staubfrei hinter Stahl und Glas versteckt ist. Finanzdienstleister, Makler, Beratungsfirmen, Callcenter. Eine automatische Drehtür schiebt mich ins Foyer, vor den Empfang. Ich trage falsche Haare, Kontaktlinsen, habe meinen Schnauzbart abrasiert, und das Marathontraining des vergangenen Jahres hat mich zusätzlich verjüngt. Ich bin 49 und heiße von nun an Michael G. – mein Name, und damit meine Identität, ist von einem Freund geliehen. Die junge Dame am Empfang gibt den Aufzug frei, nachdem mein Besuchswunsch aus der Zieletage positiv beschieden wurde. „Mit dem Anwachsen der Geschäftsvolumina steigen in gleicher Weise die Diskretionsbedürfnisse“, lautet die Köln-Turm-Eigenwerbung. Deshalb „schützt Sie das Lift-look-Aufzugssystem vor ungebetenen Gästen“. So viel Diskretion wird Gründe haben. Im Köln-Turm haben sich Unternehmen niedergelassen, die sich nur ungern in die Karten schauen lassen. Ich will zu CallOn, dem zweitgrößten Vermarkter von Lotterielosen in Deutschland. CallOn ist ein Callcenter, einer der Big Player in diesem neuen Wirtschaftszweig.
Mehr als 5500 Callcenter gibt es in Deutschland. 400.000 Beschäftigte hatte die Branche 2006, in diesem Jahr werden vermutlich 40.000 Mitarbeiter hinzukommen. Es scheint, als seien Callcenter die Bergwerke der Neuzeit: Zigtausende arbeiten im Verborgenen, werden unsichtbar – und ihre Arbeitsbedingungen auch. Die Branche wächst schnell und verändert sich rasant: Nur noch ein Drittel der Firmen ist mit sogenannten Inbound-Geschäften betraut, nimmt also im Auftrag eines Unternehmens Anfragen, Beschwerden oder Anregungen von Kunden entgegen. Zwei Drittel widmen sich teilweise oder vollständig dem Outbound: Verkaufsgeschäften. Allgemein bekannt ist, dass diese Callcenter Lottolose und Zeitschriftenabonnements verkaufen, weniger bekannt, dass sie im Grunde mit allem Möglichen handeln: mit Nahrungsmitteln, Versicherungsverträgen und Hedgefonds. Was auch immer sie verkaufen: In aller Regel ist es überteuert. Fast immer ist der Kunde der Betrogene. Die Callcenter rufen tagein, tagaus bei den Deutschen an – in der Regel ungebeten. 900.000 unaufgeforderte Anrufe, schätzt der Bundesverband der Verbraucherzentralen, werden täglich von Callcentern aus geführt. In 95 Prozent der Fälle fühlen sich die Verbraucher belästigt.”
*

Aus: "Günter Wallraff im Callcenter"; s. Linktipp



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longtime
enigma
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Re: Literaturliebhaber denken heute - am 2.10. an Graham Greene
geschrieben von enigma
als Antwort auf longtime vom 02.10.2009, 12:47:57
Enthüllungsjournalismus ist interessant und auch wichtig, aber hat oft als Begleiterscheinungen auch unangenehme Bedingungen, wie z.B. die von “Ali” bei seiner Arbeit.
Mich wundert es immer wieder, welche Masken Wallraff sich ausdenkt und dass er damit unerkannt bleibt.
Ich erinnere mich jedenfalls an keine seiner Aktionen, bei der er aufgeflogen ist.


Heute möchte ich an Graham Greene erinnern, der am 2. Oktober in Berkhamsted/Großbritannien, geboren wurde.

In jüngeren Jahren habe ich eine Zeitlang seine Bücher förmlich verschlungen.
Vielleicht habe ich sie darum auch heute noch gut in Erinnerung, wie z.B. “Die Kraft und die Herrlichkeit”, “Die Stunde der Komödianten, “Unser Mann in Havanna” oder “Der Dritte Mann” (Da war ich - so empfand ich es damals - fast noch mehr beeindruckt von dem gleichnamigen Film mit Orson Welles und Joseph Cotten.)

Dass Greene oft für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen wurde, ihn aber nie erhalten hat, wusste ich schon, ebenso, dass er, ähnlich wie manche seiner literarischen Figuren, ein Alkoholproblem hatte.
Dass er aber in seiner Jugend öfter mal Russisches Roulette spielte und deswegen in einer Psychiatrischen Einrichtung war, habe ich erst heute gelesen, genau so wie die Tatsache, dass er selbst für den Geheimdienst tätig gewesen war.

Und dass er ein gefürchteter Schreiber von Leserbriefen war, hat sich mir auch erst heute erschlossen.
Aber vorstellen kann ich es mir.

Sein Lebenslauf bei Wikipedia kann im Linktipp eingesehen werden.



Gruß


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enigma
clara
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Re: Literaturliebhaber denken heute - am 2.10. an Graham Greene
geschrieben von clara
als Antwort auf enigma vom 02.10.2009, 19:52:39
Zu "Der dritte Mann": Hier fand der seltene Fall statt, dass der Roman erst nach dem Film erschien, ein Jahr später.
Der Film ist, im Wortsinn, unheimlich gut, ein tolles Nachkriegsdrama. Unvergessen auch die Melodie des Zitherspielers.

Zu Walraff: Obwohl ich alle seine Recherchen gelesen habe, hat mich am meisten "Der Aufmacher" beeindruckt. Das Buch zeigt real das auf, was Böll fiktiv in seinem "die verlorene Ehre der Katharina Blum" beschrieben hat. Gruselig, die Machenschaften der Boulevardpresse".
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clara

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enigma
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Re: Literaturliebhaber denken heute - am 2.10. an Graham Greene
geschrieben von enigma
als Antwort auf clara vom 02.10.2009, 20:08:38
Hallo Clara,

ja, da triffst Du ganz genau die Atmosphäre des Films “Der Dritte Mann”.

Das “Harry-Lime-Thema”, gespielt von Anton Karas auf der Zither, hat mit zum Ruhm dieses Films beigetragen.
Als Abschluss meines Beitrags zu Greene wollte ich gerne ein Video von YouTube, falls vorhanden, mit diesem Stück, das ich sehr liebe, einstellen.
Aber im Moment habe ich ein paar Computer-Probleme - u.a. warte ich bei YouTube sozusagen “unendlich”, bis ich da an den Ton komme - und so entfiel das Video dann.

Ja, genau, wie Du sagst, kam der Roman später.
Greene hatte für den Film mit Carol Reed eine Erzählung geschrieben und gemeinsam mit Reed dann ein Drehbuch entwickelt. Und später hat Greene dann einen Roman zu dem Thema geschrieben.

Schön, dass Du mitmachst.

Gruß

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enigma
longtime
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Re: Literaturliebhaber denken heute - am 3.10. Carl vo Ossietzky
geschrieben von longtime
als Antwort auf enigma vom 02.10.2009, 21:12:25
Zur Erinnerung an Carl von Ossietzky:

von Ossietzky wurde am 3.10.1889 in Hamburg geboren; er starb am 4.5.1938 in Berlin; deutscher Journalist, Schriftsteller ... - und Pazifist.

- Als Herausgeber der Zeitschrift "Die Weltbühne" wurde er im international aufsehenerregenden Weltbühne-Prozess 1931 wegen Spionage verurteilt, weil seine Zeitschrift auf die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufmerksam gemacht hatte.

„Über eines möchte ich keinen Irrtum aufkommen lassen, und das betone ich für alle Freunde und Gegner und besonders für jene, die in den nächsten achtzehn Monaten mein juristisches und physisches Wohlbefinden zu betreuen haben: – ich gehe nicht aus Gründen der Loyalität ins Gefängnis, sondern weil ich als Eingesperrter am unbequemsten bin. Ich beuge mich nicht der in roten Sammet gehüllten Majestät des Reichsgerichts sondern bleibe als Insasse einer preußischen Strafanstalt eine lebendige Demonstration gegen ein höchstinstanzliches Urteil, das in der Sache politisch tendenziös erscheint und als juristische Arbeit reichlich windschief.“
(„Rechenschaft“, in: Die Weltbühne, 10. Mai 1932, S. 690)

Nach der vorzeitigen Entlassung aus dem Gefängnis (am 22. Dezember 1932 nach 227 Tagen Haft) wurde er als engagierter Pazifist und Demokrat am 28. Februar 1933 von die Nationalsozialisten erneut verhaftet und zuerst im Gefängnis Berlin-Spandau interniert. Von dort aus wurde Ossietzky am 6. April 1933 in das neu errichtete Konzentrationslager Sonnenburg bei Küstrin verschleppt. Dort wurde er ebenso wie die anderen Häftlinge schwer misshandelt. Er wurde mit weiteren bekannten Häftlingen von Sonnenburg in das KZ Esterwegen im nördlichen Emsland verlegt. Dort mussten die Gefangenen unter unerträglichen Bedingungen die Moore Torf abbauen. Ende 1934 wurde der völlig abgemagerte Ossietzky in das Krankenrevier verlegt.
Dem Bericht eines Mithäftlings zufolge sollte Ossietzky im Krankenlager durch Spritzen getötet werden.
Ossietzky erhielt 1936 rückwirkend den Friedensnobelpreis für das Jahr 1935, dessen persönliche Entgegennahme ihm jedoch von der nationalsozialistischen Regierung untersagt wurde.
Er starb Tuberkulose, die er sich während seiner KZ-Haft zugezogen hatte.

*

Ein deutscher, aber nicht nationaler Denker im Jahre 1928:

„(…) Deutschland ist jetzt zehn Jahre Republik, und es hat mindestens fünf davon gedauert, ehe sich Republikaner in größerer Anzahl meldeten. Den Wendepunkt bildete der Hitlerputsch von 1923, bei dem sich zeigte, wie wenig zum gewaltsamen Umsturz bereite Gegner die Republik hatte und was für Narren dabei die Oberhand hatten. Daß die bürgerliche Republik durchgehalten hat, verdankt sie viel weniger der Entschlossenheit ihrer Führer als vielmehr der Deroute auf der andern Seite und bestimmten außenpolitischen Rücksichtnahmen. Im allgemeinen hat man erkannt, daß auch in der neuen Form der Geist der Kaiserei weiterexistieren kann. Deutsche Revolution – ein kurzes pathetisches Emporrecken, und dann ein Niedersinken in die Alltäglichkeit. Massengräber in Berlin. Massengräber in München, an der Saale, am Rhein, an der Ruhr. Ein tiefes Vergessen liegt über diesen Gräbern, ein trauriges Umsonst. Ein verlorener Krieg kann schnell verwunden werden. Eine verspielte Revolution, das wissen wir, ist die Niederlage eines Jahrhunderts. So brechen wir auf ins zweite nachrevolutionäre Jahrzehnt.“
*

P.S.
(... nicht von C.v.O.):

Die Erinnerung an die letzte, friedlichd Revolution in der sog. DDR ist zwar noch nicht vergessen, aber politisch-faktisch verloren, ergeblich...

*
(In: Die Weltbühne, 6. November 1928)


Werke, s. Linktipp:

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Re: Literaturliebhaber denken heute - am 3.10. - aktuell: Tag der Einheit"
geschrieben von longtime
als Antwort auf longtime vom 03.10.2009, 00:16:56
Zum "Tag der Einheit“, dem billigen großen Tag des vergeblichen Gequatsches – bei dem die Dichter immer fehlen – und die politischen Maulhelden und Buffethelden zu Tausenden eingeladen sind, auf Kosten der „Gemeinschaft“.


Heinz Kahlau:
Tag der Einheit

Am Tag der deutschen Einheit
Saß ich zwischen dem, was war.
Ich war ummüllt von Werbung und Briefen,
die Geld von mir verlangten,
und war ganz und gar
mit dem beschäftigt,
was das nächste Jahr
von mir verlangen könnte. In den Tiefen
der Seele kochte das,
was da seit je gefangen:
die kalte Wut
auf jede Art von Staat.
Der dritte will mich in sein Muster zwängen.

Ich feierte den Tag mit Zorngesängen.
*
(Aus: Sämtliche Gedichte und andere Werke. Aufbau Verlag, Berlin 2006)


Heinz Kahlau (geboren 1931 in Potsdam) war einer der stillen, unpolitischen Dichter in der DDR –und ist in der BRD weitgehend unbekannt, aber nicht unbeleibt geblieben. „Drüben“ gehörte er zu den erfolgreichsten "Versemachern" – „hüben“ mag man eine solche poetische Existenz nicht, die sich nicht arrangierte, nicht schuldig wurde und der Sprache und den Ideen der Menschlichkeit diente.
Die lyrischen Werke des Brecht-Meisterschülers werden im Westen nicht wahrgenommen - obwohl seine Realismus-Ästhetik auf einem souveränen Umgang mit den überlieferten Reimformen und der lyrischen Tradition beruht.

*

Oder ein Gedicht, ohne politischen Anlass:

Heinz Kahlau:
Ich liebe dich

Ich liebe dich heißt auch:
komm, schlaf mit mir.
Es kann auch heißen:
lass uns Kinder haben.
Ich liebe dich. Ich bin sehr gern bei dir.
Lass uns zusammen sein bis zum Begraben.

Ich liebe dich heißt auch:
Sei zu mir gut,
mach mir das Leben leicht,
das ich nicht zwinge.

Wenn ich allein wär´, fehlte mir der Mut.
Ich liebe dich, mach, dass es mir gelinge.

Ich liebe dich heißt auch:
Es macht mich stolz,
dass du mich mehr als andere begehrst.
Und dass du mir, nur mir
und keinem sonst,
in allem, was du bist, allein gehörst.

Ich liebe dich kann heißen:
Sei doch so, wie ich den andren,
den ich suche, sehne.
Erfüll mir meine Träume,
mach mich froh, dass ich bestätigt
durch mein Leben gehe.

Ich liebe dich heißt auch:
Ich will so sein, wie du mich brauchst -
ich will dein Schatten werden.
So nützlich ist dir keiner, ich allein
kann alles für dich tun
auf dieser Erden.

Ich liebe dich heißt immer:
Ich will dich für etwas haben,
das mir Glück verspricht.
Manchmal entsteht daraus:
Wir lieben uns.
Erst dieser Satz hat wirkliches Gewicht.


--
longtime

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enigma
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Re: Literaturliebhaber denken heute - am 3.10. an Sergei Jessenin...
geschrieben von enigma
als Antwort auf longtime vom 03.10.2009, 08:53:33
Die Gedichte von Kahlau gefallen mir auch gut.

Und auch die von Sergei Alexandrowitsch Jessenin, den russischen Dichter und Bauernsohn, der am 3. Oktober 1895 in Konstantinowo/Zentralrußland geboren wurde.

Sein kurzes Leben hat er selbst am 28. Dezember 1925 in Leningrad beendet.
Im Hotel Angleterre hatte er sich zunächst die Pulsadern aufgeschnitten und sich anschließend an den Heizungsrohren der Zimmerdecke erhängt.
Allerdings gab es seit den Achtziger Jahren die Vermutung, dass Jessenin evtl. umgebracht wurde.

Jessenin, der vom Lande stammte, befasste sich in vielen seiner Werke mit dem bäuerlichen Leben in den Dörfern.
Mit dem Gedichteschreiben begann er schon in jungen Jahren.

Eine Ausbildung in einer kirchlichen Schule brach er ab und ging nach Moskau, wo er zunächst in einer Buchhandlung arbeitete und dann ein geisteswissenschaftliches Studium aufnahm.
Später zog er nach St. Petersburg.

1917 heiratete Jessenin Sinaida Reich, trennte sich jedoch bereits im darauffolgenden Jahr von ihr.
1921 lernte er Isidora Duncan kennen, mit der er von Mai 1922 bis August 1923 verheiratet war und sie auf ihren Tourneen begleitete.
Grund für das Scheitern der Ehen war wahrscheinlich seine Trunksucht, die ihm bewusst war und die er auch lyrisch ver- und bearbeitete.
Verheiratet war der Dichter fünfmal, obwohl er nur das Alter von 28 Jahren erreichte.

Jessenin unterstützte zunächst die Oktoberrevolution, wandte sich aber später enttäuscht von ihr ab.
Sein Werk war in der Sowjetunion zu Stalins Zeiten überwiegend verboten.

Sein früher Tod machte ihn zur Kultfigur und löste eine Selbstmordwelle aus.

Auch von ihm ein Gedicht:

„Selbstbetrug will ich nicht länger üben,
Mein schwarzes Herz: von Sorge ist's befallen,
Warum heißt es, ich sei ein Betrüger?
Warum heißt's, ich wälz mich in Skandalen?

Kein Holzdieb bin ich und kein Missetäter,
Hab keinen Kerkerhäftling je erschossen.
Ich steh auf gutem Fuß mit Straßenkötern
Und grinse den Passanten in die Goschen.

Ich schwärme Tag und Nacht durch Moskaus Straßen,
Der Tverer Stadtbezirk ist mein Revier.
Das Pfötchen hebt im dichten Netz der Gassen
Ein jeder Hund, sieht er mich beim Flaniern.

Und jedes Droschkenpferd, alt, ausgemergelt,
Grüßt mich nickend, komm ich ihm entgegen.
Bin gut Freund den Tieren, meine Verse
Heilen ihre angeknacksten Seelen.

Nicht für Frauen trag ich den Zylinder –
Keine Kraft für dumme Leidenschaften, –
Er trägt sich gut, weil's eigne Leid sich mindert,
Reicht man Stuten etwas goldnen Hafer.

Freundschaft fühl ich nicht für Menschenwesen,
Andrer Herrschaft bin ich unterworfen.
Doch den Rüden würd ich sofort geben
Meinen Shawl von allererster Sorte.

Will mich länger nicht den Schmerzen fügen.
Mein schwarzes Herz: es lösten sich die Qualen,
Darum heißt es, ich sei ein Betrüger,
Darum heißt's, ich wälz mich in Skandalen.“
1922

Und auf dieser Seite
gibt`s noch mehr übersetzte Gedichte von Jessenin und noch einmal einen kurzen Lebenslauf.

Gruß


--
enigma
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Re: Literaturliebhaber denken heute - am 3.10. an Sergei Jessenin...
geschrieben von longtime
als Antwort auf enigma vom 03.10.2009, 17:13:07
Ja, danke, enigma:

Jessenin ist ein wichtiger Tipp!

Sergej Jessenin:
Herantrabender Herbst

(Nach der Übersetzung von Karl Dedecius)


Windesschutz zwischen Wacholderbüschen an des Hügels Lehne.
Ach, Herbst - du rote Mähre - kämmst die verstruppte Mähne.

An den Ufern über dünnem Eis
Klirren Hufe blautönend leis.

Wind wie Wandermönch, in sanften Schritten,
zertritt das Laub, das Bäume ihm hinschütten,

Und in Ebereschen sieht er den Herrn Christ,
Dem er die blutigen Körpermale küsst.

(1914/16 geschrieben)


(Vgl. Karl Dedecius: Mein Russland in Gedichten. 2003)
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longtime
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Re: Literaturliebhaber denken heute - am 3.10. an Anne Sexton...
geschrieben von enigma
als Antwort auf longtime vom 04.10.2009, 00:28:31
Heute möchte ich erinnern an Anne Sexton, US-amerikanische Lyrikerin, geboren am 9. November 1928 in in Newton, Massachusetts, gestorben am 4. Oktober 1974 in Weston, Massachusetts.

Bereits während ihres Schulbesuchs schrieb Sexton erste Gedichte.
1948 heiratete sie Alfred Muller Sexton II.
1953 wurde ihre erste Tochter Linda Gray geboren, zwei Jahre ihre zweite Tochter Joyce Ladd.
Aber die Familienidylle trügt. Anne Sexton wurde von Albträumen gequält.
1956 war sie zum ersten Mal in psychiatrischer Behandlung und am 9. November des gleichen Jahres unternahm sie ihren ersten Selbstmordversuch.
Nach dem Klinikaufenthalt schrieb sie ihren ersten Gedichtband.
Sie besuchte ein Lyrikseminar von Robert Lowell, bei dem sie Sylvia Plath kennerlernte.
1962 war sie erneut in psychiatrischer Behandlung.
1967 erhielt sie den Pulitzerpreis für „Live Or Die“.
Bis zu ihrem Tode erschienen noch weitere Gedichtbände, „Love Poems“ (1969), „Transformations (1972).
1974 erschien der Gedichtband „The Death Notebooks“.
Als Grund für ihre psychische Labilität werden traumatische Erlebnisse in der Kindheit vermutet.

Peter Gabriel widmete ihr 1986 das Lied „Mercy Street“ seines Albums „So“.

Vorstehende Informationen sind aus
Wikipedia.

Eine Kurzbiografie aus FemBio, verfasst von Joey Horsley, gefällt mir aber auch sehr gut.
Bei Interesse ist sie einzusehen - Linktipp!

Hier noch ein Hinweis auf das Video "Mercy Street"
von Peter Gabriel

Und zum Schluss noch ein Hinweis auf die Texte der Gedichte von Sexton, allerdings auf Englisch.
Da sie alle ziemlich lang sind, stelle ich sie nicht ein, sondern gebe nur den Hinweis, hier:


Wenn jemand deutsche Übersetzungen kennt, würden die mich interessieren.

Viele Grüße

--
enigma
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Re: Literaturliebhaber denken heute - am 3.10. an Anne Sexton...
geschrieben von longtime
als Antwort auf enigma vom 04.10.2009, 10:44:13
Ein schöner Beitrag! Danke, enigma!

Heute am 5. Oktober können wir des Geburtstags eines Dichters und Staatsmannes gedenken, der diese Maximen formulierte:

„Die eigentliche Sendung des Intellektuellen ist das Misstrauen gegenüber den Worten.“

Oder:

"Der Prozess der gesamteuropäischen Integration wird offenbar ein sehr kompliziertes, simultanes Spiel auf vielen Schachbrettern zugleich sein."

Oder:

"Durch Misstrauen gegenüber den Worten kann entschieden weniger verdorben werden als durch übertriebenes Vertrauen in sie."

Oder:

"Hoffnung ist eben nicht Optimismus, ist nicht Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat - ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht."

*

Frage: Wer ist der Autor?

--
longtime

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