Forum Kunst und Literatur Literatur Wieder einmal angezeigt: ein literarisches Rätsel

Literatur Wieder einmal angezeigt: ein literarisches Rätsel

longtime
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Re: Ein literarisches Rätsel
geschrieben von longtime
als Antwort auf enigma vom 16.02.2011, 07:50:52
Ja, ein schönes lyrisches Beispiel von einer Art Naturhexen-Kunst.

Auch ohne in den vielen Bändern ihrer Lyrik nachzuschlagen, findet sich hier auf einer Seite des Goethe-Institus der Nachweis:

Sarah Kirsch!

*

Mit ihrer Prosa habe ich aufgehört, mich zu beschäftigen: zu beliebige Sprachreste!
clara
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Re: Ein literarisches Rätsel
geschrieben von clara
als Antwort auf longtime vom 16.02.2011, 10:20:50
Natürlich habt Ihr beide Recht, Enigma und Longtime! Das Gedicht habe ich dem Band "Schwanenliebe" entnommen.
Es stimmt, Verknappung ("Sprachreste") kennzeichnen auch ihre Gedichte. Das von mir eingestellte ist noch das längste im Buch. Die kürzesten bestehen aus zwei Zeilen, wie dieses:

Das letzte Vieh
Wirft lange Schatten.


Beim Lesen entstehen oft bekannte Bilder in meinem Kopf, weil ich Vieles selbst erlebe. Naturhexe - nicht schlecht!
Sarah Kirsch wohnt zurückgezogen fast in meiner Nähe, aber kaum, dass irgend etwas über sie in unserer Regionalzeitung steht. Sie will es nicht anders.

Liebe Grüße, Clara

longtime
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Re: Ein literarisches Rätsel
geschrieben von longtime
als Antwort auf clara vom 16.02.2011, 12:36:45
Danke, liebe Clara, auch für den lokalen Hinweis auf die Flachland-Bewohnerin Kirsch!

*

Enigma mag's mir verzeihen, dass ich mich vordränge - es geht um die Naturlyrik, die ja auch schon bei Sarah Kirsch mit anklang (rudimentär - und häufig nach meinem Geschmack, allzu beliebig):


Also, in die Vollen der Naturempfindungen:


Abgebrochenes Haus im verwilderten Garten

Nesseln bewachen den Herd. Eine Silberpappel
Fegt mit weißem Besen leeres Gemach.
Manchen bringt nicht die weiteste Reise,
Dich vielleicht ein Schritt mir nach.

Wer sich auch naht auf vorsichtigen Füßen,
Ein junger Häher kündet es mir.
Von der Mauser kränklich, schweigen die Vögel,
Still liegt Eichendorffs Revier.

Schwarzgrüne Flüsse blitzenden Laubes
Verschiffen die Buchenmast, hängende Fracht,
Behutsame Wiege künftiger Wälder
Über der Menschen mühseliger Macht.

Riecht es nach altem Wein? Die Wespe
Glaubt es wie ich. Doch dem schartigen Grand
Schmeichelt Kamille den Duft ab. Schachtelhalme, Quecke
Brockten die Fliesen der kellernden Wand.

Perückenbaum, rötliches Lockengeflimmer;
Zwischen Nesseln, Lavendel und Majoran.
Wer vermißt die zärtliche Hand, die sie säte?
Wes sie auch sei, es war wohlgetan.

Sie verhauchen ihr Öl, erinnernde Geister.
Dem Perückenbaum streicht August übers Haar.
Die Steine glühn, die Nesseln wuchern.
Um den alten Herd tanzt des Hauses Lar.


*
(Datiert: 1940)


Worterklärungen ...?

Ja, weil es mich sellbst überrascht hat, wie der Poet sich an genaue Sachbeschreibungen hält.:

Wiki hilft beim "Perückenbaum":


Lar /Laren/ Larium?
Ab nach Wiki:

Lar / Laren


Das Verb "kellern" muss es ja gegeben haben, denn wir kennen ja noch "einkellern"; und siehe:

Das Grimmsche Wörterbuch mag helfen:

Dort "kellern" einfügen und anclicken.

*

Und "Grand" ist ein deutsches Wort für "groben Sand".

Ach ja: auch noch Fragen nach so viele Staunen:

Wer schrieb das Gedicht?

In welchem Buch erschien es zuerst?

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enigma
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Re: Ein literarisches Rätsel
geschrieben von enigma
als Antwort auf longtime vom 16.02.2011, 14:00:49
Hallo Longtime,

nein, das Gedicht kenne ich nicht (obwohl es mir irgendwie trotzdem bekannt vorkommt).

Könnte es vielleicht von Wilhelm Lehmann sein, dem Magier der Naturgedichte?

Da ich nicht genau weiß, wer es geschrieben hat, weiß ich natürlich auch nicht, in welchem Buch es erschienen ist.

Leider komme ich morgen auch nicht dazu, weiter zu recherchieren, weil es morgen feste ein Fest zu feiern gilt.

Vielleicht gucke ich aber mal kurz rein, um die Antwort zu finden.

Liebe Grüße von Enigma
longtime
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Re: Ein literarisches Rätsel
geschrieben von longtime
als Antwort auf enigma vom 16.02.2011, 19:45:50
Genau, Enigma, du bist auf dem richtigen Weg.


Ich stelle vom selben Natur-Poeten noch ein Gedicht ein:


AN EINEN FRÜHEREN DICHTER

Geliebter Mund! Spräche er heute,
Wie er vor hundert Jahren sprach,
Als kaum ein Pfiff der Dampfmaschine
Die Einsamkeit der Welt zerbrach?

Vergrämten Flugzeug, Panzerschiff
Des alten Dichters leises Glück?
Noch immer zaubern Vogel, Fisch
Gewesenes ins Sein zurück.

Weinrote Amaryllis schmiegt
An mein sich wie an dein Gesicht,
Der Schmerzensleib der Erde biegt
Sich aufwärts im Gedicht.

Die Fei strählt länger nicht ihr Haar,
Das Posthorn tönt uns nicht wie dir.
Doch nähme niemand mehr dich wahr,
Man fände dich in mir.
enigma
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Re: Ein literarisches Rätsel
geschrieben von enigma
als Antwort auf longtime vom 16.02.2011, 20:10:41
Hallo Longtime,

die Sprache ist einfach der Wahnsinn.

Ich freue mich einfach, dass diese Lyrik erhalten bleibt.

Enigma


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longtime
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Re: Ein literarisches Rätsel
geschrieben von longtime
als Antwort auf enigma vom 16.02.2011, 21:58:17
Ich trage die Daten nach zu der Veröffentlichung, die Wilhelm Lehmann noch im Dritten Reich zu eingeschränkten Bedingungen erreichen konnte.

Beide Gedichte konnten in „Der grüne Gott“, 1942 veröffentlicht werden; neu aufgelegt 2. Aufl. 1948.

*

Mit dem "früheren Dichter" ist natürlich Joseph von Eichendorff gemeint.

Ja, Lehmann war der "Eichendorff des 20. Jh.".


Seine Gedichte kann man nachlesen in:
W. L.: Gesammelte Werke. Bd. 1: Sämtliche Gedichte. Stuttgart 1982: Klett-Cotta.


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