Auf der Engelstation


Auf der Engelstation
Angelo war traurig. Der Großengel hatte ihm verboten, zur Erde zu fliegen. Er sei noch zu jung dafür, hatte er gemeint, er müsse noch einige Jahrzehnte warten. Ohne Ausbildung sei es nicht möglich, die entsprechenden Kenntnisse zu erwerben und so ganz unbedarft - nein und nein und nein - das käme nicht infrage.
      Angelo saß auf der kleinen Wolke, ganz rechts, da wo die Sonne immer untergeht. Er stützte sein Köpfchen auf beide Arme, schaute wehmütig hinüber zum Horizont. Ein paar klitzekleine Perlentränchen sah man schon bei ihm, wenn man genau hinsah, aber wer achtete schon auf solche Nebensächlichkeiten?
      Alle Engelskollegen, die nach unten wollten, mussten an ihm vorbei; sie grüßten den Kleinen auch immer ganz artig im Vorbeifliegen - dann waren sie auch schon weg. Angelo blieb dann nur ein mattes Winken mit den Händchen.
      Der Großengel Patricius beobachtete den Kleinen aufmerksam aus der Ferne, er wusste um die Traurigkeit Angelos und dessen Wünsche. In dieser Angelegenheit jedoch konnte und durfte er dem Kleinen nicht behilflich sein. Es war ein ehernes Gesetz auf der Engelstation und Gesetze waren eben dazu da, eingehalten zu werden. Sonst brauchte man sie nicht, oder?
      Angelo kletterte von seiner Wolke herunter, als am rosenroten Abend alle Englein von ihrer Tätigkeit auf der Erde wieder zurückkehrten. Er hörte aufmerksam zu, wenn die Kameraden von ihren Erlebnissen dort unten erzählten. Ei - was waren das für absonderlichen Dinge, die er da vernahm! Vieles konnte er sich nicht vorstellen. Wie war es denn möglich, dass die Menschen - darunter auch die Kinder - sich untereinander alles antun konnten, nur um sich weh zu tun?
      Er hielt sich schließlich die Ohren zu, das konnte er alles nicht mehr anhören. Erschießen, Totschlagen, brutales Foltern, dann von den verhungernden Kindern in vielen Ländern. Schließlich das Gerede vom »Frieden auf Erden«. Wie passte das alles zusammen?
      Die anderen Engel, die auf der Erde ständig im Einsatz waren und überall halfen, wo es nur möglich war, sie machten nur noch Überstunden und waren abends völlig kaputt und müde. Angelino, der kleine Engel, der erst letzte Dekade zu ihnen gekommen war, weinte manches Mal in der Nacht. Angelo fragte ihn dann, ob er Schmerzen hätte. Seine Antwort war immer: »Ja - im Herzen!« Angelo streichelte und tröstete ihn dann und kuschelte sich eng an ihn. So schliefen die Beiden dann schließlich wieder ein.
      Patricius, der Großengel, rief eines Tages, viele Äonen später, den Angelo in sein Büro. Mit bangem Herzen und den Blick auf den Boden gesenkt, betrat Angelo die große »Wolke Nummer Eins«, in dem Patricius sein Geschäftszimmer hatte und von dem aus er alles leiten konnte.
    »Ja, mein lieber Angelo«, sagte er freundlich zu dem Kleinen, der ganz verschämt vor ihm stand, »heute ist dein großer Tag, du darfst zum ersten Mal hinunter in das Erdental! Angelino, dein guter Freund wird dich begleiten, damit du alles am Anfang richtig machst. Du darfst dann danach selbst entscheiden, wo und wann deine Hilfe gebraucht wird.«
      Angelos Gesicht strahlte voller Freude. Endlich, endlich hatte er seine Ausbildung beendet. Nun durfte er helfen, überall dort, wo es nötig war. Der Großengel bewegte seinen Zeigefinger vor Angelos Gesicht auf und ab, als er dann noch bemerkte: »Aber setze deine Kräfte überlegt ein, nicht jeder, der Hilfe haben möchte, darf sie auch erhalten! So manch einer, der uns bittet, tut dies nur aus Berechnung und weil es für ihn selbst zum Vorteil ist! Unterscheide hier gut!«
      Etwas betreten hörte Angelo sich die Ermahnungen des Patricius an. Doch mit dem Ungestüm der Jugend rief er dann: »Angelino, auf - zur Erde, es ist viel zu tun!«
»Nicht so eilig«, brummte Angelino, »du kommst noch schnell genug in das Tohuwabohu, bloß nicht übertreiben!«
      Patricius, der Großengel, wiegte seinen Kopf leicht hin und her. Er wünschte seinen Engeln alles erdenklich Gute, es würde schwer genug werden dort unten auf der Erde - schwer genug …
 
©by H.C.G.Lux

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Kommentare (5)

Syrdal


Der kleine Engel Angelo kehrt nach erkenntnisreicher Erderfahrung zurück auf seine feine Himmelswolke. Wir aber müssen wohl noch ein Weilchen warten, bevor wir diese Reise antreten dürfen…

Dass es ein friedliches Weilchen sei, erhofft
Syrdal

Rosi65


Nachdem der junge Engel so viel Leid und Zerstörung auf der Welt beobachtet hatte, in dessen Ablauf er nicht helfend eingreifen konnte, gab er die Hoffnung trotzdem nicht auf.
Wer weiß, vielleicht ist ihm in seiner langen Wartezeit doch noch ein rettender Gedanke gekommen, den er auf der Erde schnell in die Tat umsetzen möchte.
Drücken wir dem kleinen Angelo also ganz fest unsere Daumen...👍

Lieber Pan, in Deiner Geschichte versetzt Du den Leser plötzlich in eine andere Ebene, die ihm erlauben, mal aus einer ganz anderen Perspektive zu sehen. Sehr schön geschrieben!

Mit besten Wünschen zum Jahreswechsel
               Rosi65

Pan

also, for - all the best wishes,
Horst

ladybird

Der kleine "Angelo" ist nicht zu beneiden, denn hier bei uns auf der Erde ist überall leider nur "Chaos"...sicherlich wird Angelo überfordert zurück in den Himmel fliegen und eventuell auch einen "Psychologen-Engel" brauchen.....
Der Großengel hatte schon seine Erfahrung und wußte, warum er Klein Angelo vor seinem "Engeldienst " noch etwas wachsen ließ.
Lieber Horst,
das ist ein so  wundervoller Beitrag, ich habe ihn mit Freude heute: "Zwischen den Jahren" gelesen und dazu meiner Phantasie freien Lauf gelassen....
ein ansprechendes "Himmels-und Engel-bild" hast Du spannend mit uns geteilt...
Dir und Ingrid eine gesunde Zeit und alles, alles Gute für 2023....
herzlichst
Renate

Pan

Auch für Dich: Nur gute Tage in 2023! Wenn es denn möglich ist .............
⭐️


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