Die Chance
Ich wollte immer schon Klavier spielen. Wirklich, das war mein Wunsch schon vor achtzig Jahren. Am Anfang war es ja auch einfach, da meine Mutter davon ganz eingenommen war. Diese Tatsache allein ist schon erwähnenswert genug. (Im Verlauf meines kindlichen Daseins schien alles, was mir so vorschwebte, nach Mamas Ansicht nur Zeitverschwendung zu sein.)
Das Klavierspielen jedoch gefiel ihr und so setzte sie sich nach allen Kräften dafür ein, dass ich bei einer Klavierlehrerin nebenbei Unterricht nehmen durfte. Wir hatten aber kein Klavier! Aber unsere Nachbarin von der anderen Straßenseite, Frau Anders, eine ehemalige Pianistin, die damals mein jetziges Alter hatte, war von meinen Wünschen angetan und ich durfte in ihrem »Salon« meine ersten Schritte machen.
Sofort bei der ersten Berührung der Tasten war es klar, hier wächst ein musikalisches Genie heran! Frau Anders, meine Mutter, meine Großmutter - alle waren von meinem Anschlag begeistert, so etwas »Sanftes« hätten sie noch nie gehört - also des Lobes übervoll, wurde ich nun offiziell in die pianobegeisterte Welt der Musik aufgenommen.     
Es war herzbewegend, als ich zum ersten Mal, ich war gerade »Acht« geworden, steckte noch in kurzen Hosen, das Klavierkonzert Nr. 1 g-moll von Felix Mendelssohn-Bartholdy endlich ohne Stocken spielen konnte, rannen nicht nur mir, sondern allen Anwesenden Sturzbäche von Tränen die Wangen herunter.
Meine Klavierlehrerin war so gerührt, dass sie ihr Gesicht gen Himmel hob und fortwährend den Kopf mit den Künstlerlocken schüttelte.
( warum wusste ich damals noch nicht, zum Glück). Es war jedenfalls ein Erlebnis, dass noch lange nachwirkte und alle, die in dieses Intermezzo verflochten waren, zu stummen Zeugen machte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es waren ohne mich als Hauptperson genau Drei!
Vier Wochen später erreichte meine Mutter ein gerichtlicher Räumungsbefehl für unsere Wohnung - wegen ruhestörendem Lärm. Daraufhin stoppte meine Mutter den Klavierunterricht aufgrund dieser Beschwerden von unmusikalischen Nachbarn!
Jener versäumten Chance, die mein Leben nachhaltig hätte verändern können, trauere ich bis heute nach. Bis zum heutigen Tage muss ich bei jedem Klavierkonzert weinen; in meiner Wahrnehmung wäre ich ja immer der Interpret gewesen ...

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Kommentare (4)

Syrdal


...und so hat sich ein Talent nicht entfalten können, eine gottgegebene Gabe, von der niemand weiß, was bei guter Pflege und Förderung daraus entstanden wäre.

Schade… sagt
Syrdal

Pan

Sicher ist ein "Lang-Lang" auf der Strecke geblieben?
Aber so lasse ich »IHM« die Meriten ...

Muscari

Lieber Horst,

auch ich bedaure, dass Dir damals die Chance nicht vergönnt war.
Ich verstehe gut, dass Dich das bis heute verfolgt.
Welch großartiger Pianist hättest Du werden können.
Es freut und überrascht mich, dass Du uns dies hier erzählst.

Seltsamerweise kann ich Ähnliches berichten, denn unser Sohn, der sogar das absolute Gehör besaß, erhielt mit 6 Jahren den ersten Klavierunterricht.
Da wir jedoch in einer Mietwohnung wohnten, war das ständige Üben nicht im Sinne der Mieter über uns. Sie klopfte ständig mit dem Besenstiel auf den Boden und ihr Mann brüllte durchs Treppenhaus, obwohl wir streng die Mittagszeit einhielten.
Bis wir eines Tages entnervt beschlossen, uns nach einem eigenen Haus umzusehen, was auch gelang.

Welch ein Segen. So konnte unser Sohn Fortschritte machen bis hin zum Musikstudium. Später war er ein begehrter Klavierpädagoge, spielte Konzerte, solistisch und in Kammermusikensembles.
Leider verstarb er nach schwerer Krankheit im Alter von 50 Jahren. Nur Fotos und die vielen Tonaufnahmen bleiben mir als Erinnerung. ---------
Noch einmal bedanke ich mich für Deinen Beitrag und grüße Dich herzlich.
Andrea

ehemaliges Mitglied

...ich wollte immer schon Klavier spielen lernen...

So ging/geht es mir auch,
aber das konnten meine Eltern nicht ermöglichen.

Selbst ob ich Talent zum Genie gehabt hätte, wie du,
werde ich nicht mehr herausfinden 😉

danke für deine Erinnerung
WurzelFluegel


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