die Hutmacherin aus Berlin


meine Großtante Anna.
Sie kam in den Kriegsjahren aus Berlin zurück und stellte sich mir ihren Hüten auf die Schau.
Um uns herum fielen Bomben, doch Tante Anna rannte raus und präsentierte ihre Hüte dem Himmel, von dem die Bomben fielen.
Mühsam wurde sie zurückgeholt, immer zwischen einer Bombenattacke.
Ihr Ehemann schrie sie an, klatschte ihr sogar eine, doch Tante Anna holte den nächsten Hut aus der Schachtel.
Der Kellerraum in Opa's Wohnhaus war sehr eng, doch Tante Anna brauchte Platz.
Sie war der Wirklichkeit weit entrückt, träumte von den Berliner Salon's, wo sie ihre Modelle präsentieren durfte und nahm die Welt in der Wirklichkeit nicht mehr wahr.
Sie war verrückt geworden, brachte uns alle in Schwierigkeiten und Zeit zum Denken gab es nicht.
Ihr Mann und Opa machten kurzen Prozess. Sie sperrten sie in den hintersten Kellerraum ein, aus dem es kein Etrinnen gab.
Sie schrie und tobte, doch man hörte nichts.
Opa nahm die Hüte, brachte sie in die Wohnung und ihr Mann sammelte alles zusammen und ging ohne Tante Anna in sein Anwesen zurück.
Pünktlich zum Nachmittagsangriff stand er wieder vor der Tür.
Es war eine Nacht und ein halber Tag vergangen und er schaute nach seiner Frau im Kohlenkeller.
Und holte sie raus, völlig ausgelaugt und schwarz, kaum des Gehens noch fähig, doch Stufe für Stufe stieg sie rauf.
Und so stand sie bei ihrer Schwester in der Küche und der nächste Tanz fing an.
Die Schwester von ihr war meine Omi und ich war dabei.
Sie stülpte mir eine von ihren "Glocken" auf den Kopf und zog mich mit.
Opa sprang dazwischen, der Onkel auch, doch Tante Anna lief weiter zu ihrem Haus.
Dort ist sie auch angekommen und jeder Bombenangriff schien ihr Freude zu bereiten, bis zu dem Tag, als das Haus getroffen wurde und in Trümmern lag.
Onkel und Tante waren unversehrt, das Haus kaputt und Tante Anna machte sich erstmals Sorgen, wie es in der Grünstraße weitergehen sollte.
Ganz langsam wurde sie wieder normal, erzählte viele Geschichten 5-mal hintereinander und schwärmte noch immer von ihren Hutmacher-Geschäft in Berlin und das sie dort hinfahren müßte.
Ihr Mann brachte sie zum Bahnhof, den es nicht mehr gab, kaufte eine Fahrkarte ganz in ihrem Sinn und sie stieg mit ihm durch die Trümmer durch bis zum ehemaligen Gleis.
Dann wurde sie wieder wach - hier ist kein Gleis und kein Bahnhof, wo hast Du mich hingebracht?
Hand in Hand kamen sie zurück - wurden herzlich empfangen, als wäre nichts gewesen.
Ich sehe sie noch sitzen und höre ihre Worte: ach Moni-Häschen, sieht es bei Euch auch so aus, bist Du deshalb bei Omi und Opa?
"Nein Tante Anna, ich wollte dich besuchen".
Ein Herzen und Küssen, und ja wir haben überlebt - Hilfe, nicht schon wieder auf die Straße.....
Tante Anna wurde nach Bernburg zur Kur geschickt. In Bernburg war die Klappse, ein schrecklicher Ort mit Nachgeschmack.
Wieviel Zeit sie dort blieb, ist für mich nicht nachvollziehbar, jedenfalls eine lange Zeit.
Die Familie atmete auf- es war Ruhe im Karton.
Doch enes Tages stand sie wieder vor der Tür, ihr Mann lag im Sterben und sie schien total normal. Sie ging ins Krankenhaus und er starb in ihren Armen.
Eine glückliche Ehe war zu Ende.
Tante Anna beglückte die Verwandtschaft als trauernde Witwe und gefiel sich in der Rolle.
Und keiner traute ihr.
Was ein "bescheidenes" Leben mit einem Hutmachergeschäft in Berlin !
Ich denke oft an sie - eine nervige Großtante, die mir trotzallem sehr geholfen hat in meinen DDR-Angelegenheiten.
mit schwarzen Grüßen
Euer Moni-Finchen

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Kommentare (1)

Medea Deine Verwandtschaft ist ja noch kurioser
als meine - -
aber irgendwie liebenswert waren sie alle
ob "Stammbesetzung" oder eingeheiratet - gg -

ich hatte so eine Großtante Ida, die Schwester
meiner Großmutter väterlicherseits,
OP-Schwester in Breslau, unverheiratet und
sehr energisch, die hatte meine Mutter in ihr
großes Herz geschlossen, an die ich mich auch
noch erinnere - wir bekamen immer zuerst eine
Tasse Brühe bei ihr.

Deine Medea-C.


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