Als Knirps sah ich viel vom Alltag an der Hand meiner Mutter, dann tapsend neben Großvater mit seinen Spazierstock und immer erzieherisch geführt von meinem Vater. Ich erlebte sehr vieles und nahm es in mein sich allmählich füllendes Gedächtnis auf. Viele Bilder sind aus den jetzt achtzig Jahren immer noch erhalten, ja sogar in der damals erkannten Version, die kaum von heutigen Bildern überschrieben oder verdrängt wurden. Manches, scheinbar unwesentlich erkanntes wird nicht aufgefrischt, verschwindet aus der Erinnerung so lange, bis da jemand mit etwas aus der damaligen Zeit ankommt und vielleicht sogar konkrete Fragen und Erklärungen zu dem an mich stellt.
Es brauchte schon einige Zeit, bis ich meine Patschhand aus der Hand der Mutter löste und lernen konnte, wie man alleine laufen kann. Ich kann mich nicht erinnern, gefremdelt zu haben, auch hat man mir das nie unterstellt – man müsste einfach noch fragen können, nur die Altvorderen sind nicht mehr da, und wenn ich zu ihnen ans Grab gehe, soweit es dies noch gibt, dann kann ich fragen, nur antworten wird mir niemand; darüber geschrieben hat keiner.

Also waren es meine Füße, die mich zum Selbstgehen veranlassten, waren es meine Hände und Arme, die mir, wenn nötig, den Halt gaben, und der Gleichgewichtssinn, der mich nach der Krabbelphase zum aufrechtem Gang führte. Natürlich bedurfte es einiger Anleitungen, bis ich zufriedenstellend aufrecht, kerzengerade und zur Zufriedenheit meiner Lehrer und Paten ein Ziel angehen konnte. Wenn ich manches Mal doch nicht kerzengerade ging, dann half Großvaters Spazierstock durch Einschieben desselben in die angewinkelten Arme und hinten im Kreuz, ein Gehen im Märkischen Sand, immer in Sorge, dass einer der beiden Füße ins Schlittern kam. Und dann noch das Geradegehen mit nach außen gewinkelten Füßen, möglichst zwischen fünfundvierzig und neunzig Grad mit den Schuhspitzen gehalten. Und die Hände durften da nicht hinlangen, wo sich andere Menschen dran festhielten, den Geländern.

Als ich als Knirps größer und größer wurde, mich nach und nach mit mir folgenden Geschwistern die Erzieher teilen musste, manches Mal auch schon zum Aufpasser avancierte, ob gewollt oder nicht, ging viele Zeit im Selbstdenken verloren. Vom Vater kamen strickt auszuführende Anweisungen. Beim Großvater war’s wie bei einem Museumsbesuch, man sah und hörte so vieles Interessantes. Und Mutter war die Seele, ja sie war es, die frisch und fröhlich lenkte, gerade wie ein Fahrdienstleiter, der die Weichen stellte und Signale setzte, wann man wie und wohin zu fahren hatte. Aber auch das Füllen der Tender, das für den nötigen Dampfdruck sorgen, dafür sorgte sie.
Wenn ich das hier so vergleiche, dann tue ich das mit dem Gefühl und aus den Erinnerungen heraus, die meine Liebe zu allem Schienengebundenen erwachsen ließ. Und doch wollte ich nicht, wie andere Jungens Lokführer werden, Nein, die Bücher waren es, die ich bei Großvater fand, seine Art und Weise von der Natur zu erzählen und auch die Radwanderungen mit Vater durch die Mark ließen den Wunsch aufkeimen, einmal Förster zu werden. Eigentlich … Das Kriegsende zermatschte diesen Traum.

Der Krieg war es, der so gewaltig in unser Leben eingriff. Nicht nur bei uns, überall ging so manches kaputt, was doch bis dahin scheinbar toll war. Großvater machte seine Augen schon im ersten Kriegsjahr zu – ich konnte ihn nicht mehr nach dem fragen, was er so erlebt hatte, wie er groß geworden ist, mir oblag nun die Aufgabe in seinem Zimmer, in dem ich mit ihm geschlafen hatte und das Ritual mit dem Uhraufziehen und –stellen, das Hantieren am großen Aquarium erleben konnte, nun alle die vielen Bücher zu registrieren; das war notwendig, um bei Schaden durch Fliegerbomben später Ersatz beantragen zu können.

Großvaters Zimmer wurde nicht mehr geheizt, gab es doch herzlich wenig Kohlen – ich war froh, dass ich, mit Großvaters Stiefeln ausgerüstet, mit dem Schlitten beim Kohlenhändler einen Sack voll Briketts nach Hause ziehen konnte. Sonst waren es mindestens zwanzig Zentner, die angeliefert und dann im Garten fein säuberlich zu einer Miete aufgeschichtet wurden. Im Wald war kaum noch Holz zu finden. So war es immer ein Problem, mit Hilfe des „Völkischen Beobachter“ das Feuer im Esszimmer anzuschüren und dann sparsam die im Kachelofen gestapelten Briketts abbrennen zu lassen. Im Frühjahr wurde das Aquarium aus Großvaters Zimmer herausgetragen sam seinem Inhalt, einem Eisblock mit Fischen und Pflanzen. Eigentlich … sollte Vetter Siegfrid das Aquarium erben (wie er mir jetzt erzählte), wie sollte es denn hinüber in den Harz kommen?! Die Scheiben des Aquariums waren beim Auftauen im Garten geplatzt, übrig blieb das Gerippe und für eine Weile auch der Eisblock.

Der Vater war eingezogen worden, war erst in Polen zur Grundausbildung, landete in Pommern beim Grenzschutz an der Ostsee und kam entlassen nach Hause, weil er mit seinen Plattfüßen nicht durch den Dünensand marschieren konnte (so sagte man). Doch bald darauf war er wieder dran, kam nach Jüterbog, landete in der Schreibstube. Das war nicht weit von Zuhause, also konnte er an Wochenenden heimkommen. Irgendwie fehlte er zumindest mir, sei es, dass wir keine Fahrten mehr miteinander machen konnten, sei es, dass mir seine strenge Hand – mit oder ohne Kraftakt – abging. Nach und nach verließ mich meine „Schaffenskraft“, die Noten in der Schule zeigten aufsteigende, numerische Werte. Irgendwann hieß es: „Zurück nach Start und Ziel! Gewinnt nichts und zahlt nichts!“ (wie in unserem Post- und Reisespiel).

Nun war die Geschwisterzahl (mit mir) auf das halbe Dutzend angewachsen. Anstelle der Haustöchter und dann Pflichtjahrmädchen kamen Ostarbeiterinnen in den Haushalt. Ganz zahm sind wir Kinder mit denen nicht gerade umgegangen – wer hat uns gebremst, war doch Mutter beim Roten Kreuz im Einsatz. Der Vater war jetzt in der Schreibstube der „Lahmen Schützen“ (Landesschützen) in der Greifswalder Straße gelandet. Gut für mich, denn so durfte ich jeden Monat zu ihm auf die Stube kommen, wo mir ein freundlicher Kamerad den Militär-Haarschnitt verpasste.

Nach Warschau, Oslo, Belgrad, Athen, Kreta und Bengasi, dann Russland waren es die Sondermeldungen, die aus dem Radio quollen. Im Kino liefen neben den Wochenschauen auch Filme, die alle eine Handlung hatten, von uns aber ohne jegliche Kritik hingenommen wurden. Für zehn Pfennige Beitrag und Marsch im Gleichschritt bei Schlägen auf die Landsknecht-Trommel vom Schulhof zum Kino in schwarzer Hose und Braunhemd fragt man als Knirps nicht danach, was rundum gut oder böse war. Der Feind kam mit Flugzeugen, die waren böse und darum war man wütend auf das nächtliche Spektakel eingestellt.

Wir hockten im Keller, man lernte zu schlafen, selbst, wenn es draußen nur so rumorte, man stopfte sich mit der Decke die Ohren zu. Man wartete auf den Ton der Sirenen, die die Entwarnung heulten. Und man tastete sich vom Keller um das Haus zum Eingang, zitterte vor der Möglichkeit, einen Blindgänger im Haus zu finden, egal, ob es draußen warm oder eiskalt war.

Und wir gingen zur Schule, hofften, dass bald die Meldung „Ellfuffzen“ (Luftwarnung in fünfzehn Minuten) durch das Gebäude zöge und uns nach Hause entließ. Und es tat so gut, anstelle des Unterrichts hinaus zum „Dachdecken“ (vom Angriff herabgestürzte Dachziegel wieder einhängen) auszuschwärmen. Manchmal gab das Stöbern im Keller eines Hauses auch etwas Essbares her. Schule? Wozu?! Und marschieren wollten wir auch nicht. Schön, dass Joachim Pöppel, ein paar Klassen über uns, mit der Nachrichten-H.J. lockte. Er Scharführer und wir als seine Gefolgschaft. Eben etwas Besonderes, so, wie andere zur Marine-H.J. gingen.

So gab es denn Arbeit für uns – Schule ??? – wir legten für den Volkssturm Leitungen. Dass es saukalt war? Die Begeisterung zu dieser Arbeit hielt uns scheinbar warm. Es war egal, wer an den Enden unseres Drahtes hing, wir durften „mitkämpfen“. Geschlossen fuhren wir nach Zossen zum OKH (Oberkommando des Heeres), holten Fernmeldemittel ab, buckelten uns mit Kabelrollen und Geräten ab. Stolz nahmen wir das Dienstabteil in der S-Bahn für uns ein: „Was wollt Ihr denn? Da ist doch der Russe, da kommt Ihr nicht mehr hin!“ Wir überhörten diese Anmache der Bahner. Wir bauten eine Vermittlung im Gutshaus Schulzendorf auf, wir schoben Dienst am Klappenschrank, wir waren sauer, wenn man uns bei Fliegeralarm in den Keller schickte. Man schickte uns nach Hause, als der Russe bedrohlich nahe herangekommen war.

Ich wurde eingesperrt, durfte zu Hause den Keller nicht mehr verlassen. Ich war sauer auf Mutter – wir wollten nach Potsdam fahren und uns freiwillig melden – ich gehorchte. Tiefflieger brausten unsere Straße entlang und ballerten. Aurelia, unsere Litauerin, versuchte uns schützend mit unseren Köpfen unter dem hochbeinigen Elektroherd zu decken. Mutter kam kreidebleich von ihrem Gang, die letzten Tabakwaren auf Marken abzuholen, von den Jagdbombern beharkt worden. Es gelang ihr nicht, in irgendeinem Garten Schutz zu finden, die Pforten waren verschlossen.

In der Nacht MG-Feuer von Straße zu Straße, der Nachbar flüsterte über den Zaun: „Die Russen sind da, wollen Uhri, Uhri!“ Am Morgen sah ich die weißen Tücher und die roten Fahnen, denen man noch die Stelle ansah, wo mal das Hakenkreuz aufgenäht war. Ich war wütend, krallte mich heulend in Mutters Schulter. Enttäuschung. Was nun?! Ein russischer Sergeant und ein einfacher russischer Soldat kamen in unseren Garten. Mutter stellte sich ihm entgegen, uns Kinder um sich geschart. Man wollte nur Wasser – vielleicht hatten sie nirgendswo etwas gefunden, war doch kein Strom mehr da, der Wasser hätte herauf pumpen können, aber Vater hatte noch rechtzeitig dafür gesorgt, dass die Handpumpe wieder ging, so konnten wir frisches Wasser hochholen. Die Herren zogen freundlich wieder ab. Eigentlich …

Eine andere Zeit brach an. Plötzlich waren die Kinder der Vermieterin - die in unserer kurzen Evakuierungsphase in den Odenwald die Gelegenheit genutzt hatten, sich in dem Hause einzunisten – ganz rote Urkommunisten, und wir sollten schleunigst raus aus dem Haus. Nur, weil Mutter beim Roten Kreuz war (jetzt dann nicht mehr) und damit (auch als NS-Mitglied) den „Nachfolgern“ im Amt durch ihre Arbeit für die Flüchtling bekannt war, versuchte man uns zu helfen. Wie viele angebotene Wohnungen haben wir geputzt, um sie dann wieder los zu werden!?

Ich kann verstehen, dass Mutter einmal soweit war, sich bei der Überfahrt über die Spree einfach ins Wasser fallen zu lassen, sie schalt sich ob ihrer Schwäche, wären wir doch dann ohne Vater und Mutter gewesen – das Jüngste zwei Jahre alt, ich (auch noch unmündig) gerade vierzehn Jahre alt. Sie kam nach Hause, erntete das herangewachsene Gemüse und schickte mich damit zu Bekannten nach Berlin rein – zu Fuß, es ging ja noch nichts wieder. Gegen das Gemüse sollte es ein Brot geben – Tauschgeschäft. Und ich trabte zu den Bekannten, bekam das Brot.

Der Heimweg wurde lang und länger, das Brot wog schwer und schwerer. Gehe du mal mit knurrendem Magen oder Bauch und trage Essbares in der Tasche. Irgendwann versuchst du etwas von der Rinde abzubrechen, nur ein kleines Fitzelchen – wie das auf der Zunge zergeht! Die Fitzelchen wurden mehr, ein Loch im Laib wuchs. Bis zur Ankunft zu Hause hatte ich ein Viertel des Einkilo-Brotes weggeknabbert. Ich erwartete eine entsprechende Abrechnung: Mutter strich mir übers Haar, sah mich traurig, ja entschuldigend an, weil sie mich mit diesem Auftrag auf den Weg geschickt hatte. Und ich hatte versagt, das war der Hunger schuld.

Wir zogen mit Mutter über Land, wir bettelten mit Mutter bei Bauern. Es gab selten etwas. Im Haus des ehemaligen Ortsbauernführers in Rotberg hatten die Russen gehaust, in der Wohnstube gebadet und dann Löcher in den Boden gebohrt, damit das Wasser ablief. Auf dem Fensterbrett erspähte ich ein Stück Russenbrot, schon angeschimmelt. Mutter bat darum, es mitnehmen zu dürfen. Unterwegs hielt ich es nicht mehr aus vor Hunger, aß das Stück Brot auf, es gab also keine Brotsuppe für Alle.
Mutter zog mit dem Fahrrad über Land. Das Vorderrad war ohne Reifen, die Felge wurde mit Wäscheleine ausgefüllt, die verhindern sollte, dass die Speichen-Nippel sich nicht lösten. Bei der Pfarrers-Familie in Diepensee durfte Mutter schneidern, bekam dafür Deputat. Auch Großvaters Sekretär ging nach Diepensee. So brachte Mutter ein Stück Fleisch mit. Zuhause briet sie das Ganze und stellte es in die Speisekammer. Am nächsten Morgen war das Fleisch verschwunden, die leere Schüssel war geblieben. Sie ließ uns Kinder antreten, so eines neben das Andere. Sie schnupperte an jedem und atmete auf: jedes war bei dem Einbruch, alleine oder in Gruppe, beteiligt, das konnte Mutter riechen, außer ihr hatte jedes der Kinder etwas vom Fleisch abbekommen, Sie hat uns nicht ausgeschimpft, nur eben der weitergegebene Dietrich wurde einkassiert.

Mutter fuhr zur Großmutter in den Harz, damals keine einfache Reise, mit so vielen Unwägbarkeiten. In der Zwischenzeit Erkrankte unsere Jüngste an der Ruhr. Unsere Älteste fackelte nicht lange und murkste ein Kaninchen vom letzten Wurf ab, brach es auf und zog das Fell ab, so, wie wir es bei den Eltern immer mit ansehen konnten. Ich baute vom Fahrrad den Dynamo ab und tauschte diesen gegen zwei große Kartoffeln. Unsere Lütte kam allmählich wieder auf die Beine.
Mit dem Schulbesuch wurde es nichts mehr. Ich bekam eine Lehrstelle – nicht bei einem Rundfunkgeschäft, wie ich nun wünschte, zum Beruf des Radiomechanikers zu erlernen, weil mir ein Förster im Grünauer Forst bei den Aufräumungsarbeiten abriet, darauf zu spekulieren, mal Revierförster zu werden – ich kam in einen kleinen Betrieb mit Schlosserei und Aluminium-Gießerei. Zunächst mussten Steine geklopft werden. Dann wollten die Gesellen mich mit dem Lehrgang „Eisen erzieht“ an den Schraubstock knebeln. Ich aber zog es vor, bei den Formern die Gießtechnik kennen zu lernen (besser: Buddelkasten und Formenbau). Lange blieb ich nicht, denn jetzt war auch ich dran mit Magen- und Darm-Problemen.

Mutter kam mit einer Postkarte vom Vater zurück aus dem Harz. Nun wussten wir, dass er die Verwundung überstanden hatte und zu seinem Vetter im Ruhrgebiet überwechselte. Mutter holte brauchbare Stoffe herbei und nähte Rucksäcke. Wo nicht ein Schulranzen gegeben war, wurde ein Rucksack gebraucht. Es wurde gepackt, jeder sollte etwas tragen. Und jeder durfte von seinen Dingen etwas mitnehmen, was ihm lieb war – ich nahm meine Blockflöte mit und entschied mich für das englische Grammatikbuch (sollte es doch in die Britische Zone gehen). Eine Bekannte bot sich an, unsere dagelassenen Sachen zu beaufsichtigen.

Wir fuhren nach West-Berlin in ein Flüchtlingslager der U.N.N.R.A. Vierzehn Tage später brachte uns der Tommy mit Militär-Lkw in die Britische Zone. Drei Tage später kamen wir in Walsum Kreis Dinslaken an, hatten unseren Vater wieder. Eigentlich …


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Kommentare (3)

finchen .......ich übe daran auch keine Kritik, was mein Sohn dabei empfand, als er ein Drittel meiner Geschichte las. Nein, im Gegenteil, er fühlte sich durch die Zeilen gehetzt, wie auf der Flucht. Soviel kann man nicht kompensieren, daß es eine Reisebeschreibung wird. Ich werde mich auch daran nicht halten etwas schön zu reden, was ich als furchtbar empfunden habe. Du weißt es ja selbst, wie's war. Das Lustige überwog nun mal nicht, aber dennoch viel Komiksituationen, über die man heute lachen kann. Siehe mein Pferdebein, Die Pißnelke, etc. Für mich scheint es wichtig, dies aufzuschreiben, nicht nur weil es auf der Seele klemmt, sondern auch jüngeren zu zeigen, daß "Welt" und "Welt" nicht das Gleiche sind.
ganz liebe Grüße an Dich.......und wir schreiben weiter
Moni-Finchen
ortwin Da hatten wir unseren Vater wieder: „Geht weg – Ihr seid doch tot!“

Es war in der Zeit so oft passiert, dass Menschen, Familien aus Angst vor den Russen an sich Hand anlegten und aus dem Leben schieden. Nicht ganz unberechtigt?!

Aber wir standen nun da bei Onkel und Tante, die über ihre Geschäfte nichts zu sagen hatten, weil sie Nazis waren – wie unsere Eltern auch. Trotzdem da gab es endlich reichlich und gut zu essen – Bäckerei und Kolonialwaren-Laden in einem Bergarbeiter-Viertel am Niederrhein.

Bleiben konnten wir da nicht in dem dunkelroten Klinkerbau bei den Abraumhalden, die da und dort schwelten. Wir mussten da wieder weg. Vater hatte Arbeit in Köln in Aussicht, da konnten wir gar nicht hin. Also fuhr Mutter zur Britischen Militärregierung nach Hannover, holte eine Wohnraumzuweisung für den Kreis Hameln-Pyrmont. Wir schnürten unsere Siebensachen zusammen und fuhren dahin, wo wir eine Bleibe finden durften: Hämelschenburg! Dazu brauchten wir zwei Tage: in Neuenbeken mussten wir den Zug verlassen, vom Bahndamm hinunter durch’s Tal und wieder rauf nach Altenbeken, das alles nur, weil das Viadukt gesprengt worden war – beim Passieren der Weser auf der Hinfahrt schaukelte der Zug über eine Behelfsbrücke. Und nun nach Übernachtung in Altenbeken kamen wir in Emmertal an – da war die Weserbrücke noch nicht passierbar. Wir marschierten – Vater war mit dabei – die vier Kilometer zurück nach Hämelschenburg.

Wir bekamen ein großes Zimmer (für 7 bis 8 Personen), in dem zwei Doppelbetten mit Stroh auf uns warteten. Gartentisch und Stühle mussten erst einmal reichen. Wir waren so zu sagen die ersten Flüchtlinge im Ort, erbten von den Einwohnern so manches Stück, was diese aus dem RAD-Haus „organisiert“ hatten. Es gab dann also auch weißblau-karierte Laken, die immer irgendeiner von uns am Morgen als Halstuch trug, während die anderen im Stroh lagen. Vater fing an zu basteln, Mutter brauchte doch so vieles zum Haushalt. Und wir Kinder zogen los, Holz zu sammeln. Und mit der Weihnachtszeit gab es ja auch einiges an Grün aus dem Wald zu holen.

Mutter und ich gingen auf das Rittergut zum Arbeiten, wir brauchten doch Kartoffeln und Gemüse und … Zuckerrüben für den zu kochenden Sirup. Mutter ging zum Großbauern schneidern, was dann Begehrtes erbrachte. Allmählich kam unser Leben in Schwung. Wir lernten das neue Umfeld kennen. Es ging hinaus in Wald und Flur, wenn Sonntag war, wir fühlten uns langsam aber sicher zu Hause. Dazu gehörte auch die Aus- und Fortbildung von uns Kindern. Ich kam in eine Schmiedelehre, meine älteste Schwester kam in eine Gärtnerlehre.

Schon vor der Währungsreform lief unser Leben in geordneten Bahnen. Vater hatte Arbeit in Köln. Und weil er keine Wohnung für uns bekam, wechselte er zu einer anderen Versicherung nach Bonn. Meine Lehre in der Schmiede musste ich gesundheitlich aufgeben. Der Versuch, dann in Bad Pyrmont wieder zum Gymnasium zu gehen, schlug fehl. Aber schließlich durfte ich eine Feinmechaniker-Lehre bei der AEG in Hameln antreten. Das Jahr Schmiedelehre konnte ich gut gebrauchen.

Vier Jahre Hämelschenburg, dann ging es nach Bonn mit Sack und Pack, es ging nach einem Zwischenstopp in Beuel in eine Neubauwohnung in Bonn. Wir Großen brauchten neue Lehrstellen, Mutter fand sie für uns. Wieder schwärmten wir aus, jetzt mit selbst zusammengebastelten Fahrrädern. Wir konnten uns nun entfalten in Lehre, Schule und Abendschule, galt es doch, Versäumtes nachzuholen.

Eigentlich …

ortwin


Liebes Finchen,
ich möchte Deinem Sohnemann darin widersprechen, dass wir uns noch auf der Flucht befinden. Nein, wir wollen das Ganze, das Erlebte, da das Schöne und da das Schwere, einfach nur von der Seele schreiben, ohne dabei die Belastungen von damals zu spüren, darob zu klagen. Es fällt schwer, die Komik in dieser Zeit gerecht mit unterzubringen - sie war präsent, ohne diese liefen wir heute als Jammerlappen herum. Nein es wurde gelacht, gescherzt, manches Verrückte ausgeheckt. Unsere Berichte würden elendlang. Dann werden wir eben diese Dönekens extra schreiben.

Sei gegrüßt
Dieter / ortwin
finchen ja, Ortwin, eigentlich, wir haben nur durch Zufall überlebt.
Mir fehlen zwar noch 10 Jahre zu Deinem Alter, doch sind mir viele Erinnerungen stark im Gedächtnis eingebrannt. Vor einem Jahr habe ich angefangen eine fortlaufende Geschichte meiner Kindheit aufzuschreiben und gab den ersten Teil meinem Sohn zum Lesen. Der sagte nur: Mutter, du bist ständig auf der Flucht, hetze nicht so.
Ich fand es jetzt in Deinen Zeilen, und wußte was er meinte. Komme aber zu der Erkenntnis, sowas kann man nicht mit Ruhe schreiben. Diese Zeit war nun mal so - rennen - hetzen - und sei es nur zum nächsten Unterstand. Das Erlebte wird uns immer überholen.
Liebe Grüße
Moni-Finchen

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