Iwan oder Jan?


 

Einundfünfzig Jahre war es jetzt her. Eine unendlich lange Zeit. Die Soldaten in den erdbraunen Uniformen hatten die Jungen geholt. Mitten aus der Schule. Ein halbes Jahr nach Kriegsende gab es das noch immer. Menschen verschwanden, waren plötzlich nicht mehr da! Einfach weg, ohne eine Spur zu hinterlassen. So wie von Jan auch keine Spur zu finden war. Die Kommandantur hüllte sich in Schweigen. 
    »Ich nix wissen, du raus, dawai.« Alles wartete auf seine Rückkehr. Vergeblich alle Nachforschungen. Keinerlei Ergebnisse über viele Wochen hinweg.Misstrauen machte sich breit in der Nachbarschaft. Es blieben offene Fragen in der Familie, die nie geklärt werden konnten. Mutter war die Letzte, die immer noch hoffte. Nächtelanges Warten, Grübeln. Wo ist Jan? Es gab keinen Anhaltspunkt, an dem man sich festbeißen konnte, kein Ziel, das anzustreben war. Die anderen beiden Kinder, die Schwestern des Jungen, waren noch zu klein, um dieses Ereignis wirklich richtig einordnen zu können.
         Einundfünfzig Jahre vergebliches Hoffen, wie hält man das durch? Wie übersteht man diese qualvolle Erkenntnis, dass der Sohn fort ist, ohne dass man weiss, wo er letztlich geblieben ist? Wie überlebt man die Gewissheit, dass dieses Kind vielleicht nie mehr in die Arme der Mutter zurückkommt?
       Einundfünfzig Jahre. Die Mutter ist längst verstorben, sie hat nie die Hoffnung aufgegeben, ihren Jan noch einmal sehen zu dürfen. Es war vergeblich. Die beiden Schwestern haben ihn längst vergessen, erinnern sich kaum noch an den großen Bruder. Die Zeit ist über die Familie hinweggegangen.
***
       Iwan Melnikow steht vor der Tür des Rathauses. Seine Einbürgerungsurkunde hält er in den Händen, versucht die Worte zu entziffern, die ihm eine Heimat in einem Land versprechen, das er seit seiner Kindheit niemals mehr gesehen hat. Die wenigen Deutschkenntnisse reichen beileibe nicht aus, alles zu entziffern. Er spricht zwar gebrochen Deutsch, mit stark russischem Akzent, aber zum Lesen bedarf es noch gewaltiger Anstrengung.
       Eine fremde Heimat, seine Heimat. Als er seinen Ausreiseantrag in Kasachstan stellte, hatte er noch Träume. Träume von seiner alten Familie, von der er getrennt wurde, seinen Schwestern, seiner Mutter. Träume von einem Land, das er einst seine Heimat nannte, wunderschöne Landschaften, die in seiner Seele verankert waren. Diese Bilder hat er sich in den Jahren immer wieder vor Augen geführt und seine Sehnsucht hatte ihn dann dazu gebracht, einen Ausreiseantrag zu stellen.
  Nun hält er seinen Personalausweis in der Hand. Er heisst nun Jan Müller! So hieß er ja auch, als er im Alter von dreizehn Jahren nach Kasachstan kam. Dann wurde aus ihm der Melnikow und aus Iwan wurde Jan. Deutschland hat ihn nun wieder. Ist er nun glücklich? Oftmals hat er darüber nachgedacht. Was ist schon Glück? 
       Katjuscha, seine Frau, eine liebenswerte Kasachin, starb vor drei Jahren an einem Schlaganfall, erst danach hat er die Ausreise beantragt. Glücklich hier in Deutschland? Wenn er lang genug darüber sinniert, kann er eigentlich nichts dazu sagen. Deutschland ist ein kaltes Land, es hat keine Seele mehr, meint er. Die Menschen hier sehen hauptsächlich nur sich selbst, das Geld und den Luxus, den jeder glaubt, beanspruchen zu müssen.
 
       Die Menschlichkeit ist oftmals auf der Strecke geblieben; und wenn er, wie oftmals geschehen, von Jugendlichen angepöbelt und als »Russki« beschimpft wird, möchte er am liebsten wieder zurück in die endlose Steppe Kasachstans. Dort war er Mensch. Hier ist er nur ein drittklassiger Aussiedler, ein »Russlanddeutscher!«. 
»Meine Heimat ist Deutschland!« Jedenfalls sagt er das, wenn man ihn fragt. 


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Kommentare (4)

Jutta

Diese Geschichte traf mich ganz tief in meiner Seele. Sie ist so nachempfindbar, insbesondere die Gefühle von Jan, dass er am liebsten wieder in die Steppe von Kasachstan zurück ginge, weil es hier so kalt ist in Bezug auf die Gefühlswelt, jeder ist sich selbst an nächsten. Ich lebe zwar nicht in Deutschland, aber ich denke, dass diese Kälte ein Markenzeichen der Industrieländer ist (?)

Syrdal hat es bereits beschrieben, dass solche Schicksale und noch schlimmere auch heute geschehen, sodass die Frage aufkommt, wie hält man so etwas nur aus?

Es grüsst herzlich
Jutta
 

PS: Ich fühle mich etwas überrumpelt von der Heftigkeit meiner Reaktion über diese Geschichte und werde wohl meine Gedanken etwas sortieren müssen.
 

Pan

Hallo Jutta, 
Ich finde es überhaupt nicht überzogen! In unserer Zeit ist es eine große Geste, wenn man solche Fragen des Lebens überdenkt. Wenn wir da nicht ein wenig Empathie zeigen, sind wir es nicht wert, uns als humane Lebewesen zu zeigen.
Ich kannte diesen Jan persönlich und habe teilgenommen an seinem Schicksal. Leider verstarb er vor einigen Jahren - er hatte stets Heimweh nach seiner kasachischen Heimat ...
Ich grüße Dich
Horst

Syrdal


So und noch schlimmer geschieht es immer wieder, auch heute – in der Ukraine, in Afrika, China… unvorstellbare Schicksale mit „verlorenem Leben“. Schlimm genug, dass dann auch noch erlebt werden muss: Deutschland ist ein kaltes Land. - Genau dies sagte mir mein in Schweden lebender Sohn, als ich ihn vor etlichen Jahren fragte, ob er mal wieder zurück kommen wird. Auch er äußerte spontan: „Nein, Deutschland ist ein hartes Land“.
Dies vermag nicht zu kommentieren
Syrdal

Pan

Ich verstehe solche Worte, ich selbst hatte diese Erfahrungen schon 1945 -
überlegt - mit Schaudern -
Horst


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