Sie blinzelten sich verstohlen zu


Ein Freund aus unserem Familienkreis, ein Lehrer, berichtete aus seinem Alltag:

"Im letzten Schuljahr - ich unterrichte an einer Schule für Lernbehinderte - hatte ich eine sehr schwierige sechste Klasse: neun Schülerinnen und Schüler von 11 - 13 Jahren; fünf davon gehörten zu einer Art Kinder, die man in der Pädagogik die 'neuen Kinder' nennt. Diese 'neuen Kinder' machen den Unterricht oft unmöglich. In einer Mathematikstunde von 45 Minuten gab es beispielsweise 22 Störungen durch ein einziges Mädchen.

Vor allem zwei Jugendliche, ein deutscher Junge und ein türkisches Mädchen, machten nicht nur mir, sondern vor allem sich gegenseitig das Leben schwer. Ihre Dauerfeindschaft führte zu ständigen Reibereien und nicht selten über wüsteste Beschimpfungen zu völlig unkontrollierten Wutausbrüchen und Prügeleien. Bis vor kurzem lag in einem Glasschrank meines Klassenzimmers als Andenken ein großes Büschel ausgerissener blonder Haare des Jungen und ein ausgeschlagener Zahn des Mädchens.

Wie geht man mit solchen Kindern um? Ich wollte immer ein guter Lehrer sein nach dem Motto 'streng, aber gerecht'.

Am Nachmittag des Aschermittwochs fiel mein Blick auf einen Spruch auf dem Termin-kalender. Er lautete: "Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene, denn dann brauche ich es am nötigsten."

Der Satz blieb mir hängen, und mir wurde schlagartig klar: Das ist mein Programm, meine Aufgabe für die österliche Bußzeit, wichtiger als alles andere! Gott liebt mich auch nicht nach dem Prinzip 'steng, aber gerecht', nicht nach Verdienst, sondern nach Bedarf.

Am nächsten Tag versuchte ich, das Erkannte umzusetzen. Als der schwierigste meiner Schüler wieder einmal in seiner Null-Bock-Stimmung vor mir saß, sah ich plötzlich die innere Not hinter seinem verschlossenen Gesicht. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte ihn, ob er heute schon Ärger gehabt habe. Überrascht schaute er mich an und erzählte mir von einem Streit mit seinem besten Freund.

Diese neue Haltung hat die Fastenzeit überdauert. Die größte Überraschung aber war für mich, dass die Schüler dies viel schneller lernten als ich. Wenn ich wieder einmal rück-fällig wurde und sie anbrüllte, schalteten sie nicht mehr auf Abwehr: Sie blinzelten sich verstohlen zu, dann schaute mich mein schwierigster Schüler, der unmittelbar vor mir sitzt, verständnisvoll an und fragte: "Haben Sie heute einen schlechten Tag erwischt?" Das wirkte, als hätte man in einen Luftballon eine Nadel gestochen: Bei meinem Zorn war die Luft heraus.

Meine Klasse und ich haben uns am Schuljahrsende nur ungern getrennt. Als mein Problemschüler Nummer eins und ich uns zum Abschied umarmten, mußten wir beide ein paarmal schlucken. B.Z."

stefan15

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Kommentare (6)

comeback Eine ganz rührende Geschichte, wenn man so sagen darf. Das sollten alle Lehrpersonnen, alle Pädagogen und vor allem aber alle Elternteile lesen und sich auch zu Herzen nehmen, daraus kann ein jeder nur lernen!
Lieber Stefan, du mußt diesen Brief überall. wo es nur möglich ist veröffentlichen, er sagt und zeigt so vieles, was nur wenige wissen!
Ganz toll! So einen Brief lese ich das erstemal und ich habe bei der ersten Hälfte auf einen ganz anderen Ausweg getippt! Umso überraschter war ich dann auch!
Liebe Grüße! Annemarie!
stefan15 Liebe Ela, das ist doch eine wundervolle Begebenheit, die Du da von Deiner Tochter erzählt hast. In ihr ist etwas ganz Wichtiges gesagt worden: Die Lehrerin oder der Lehrer sollte den Kindern die Lust und die Freude am Lernen vermitteln! Genau so ist es! Vielen Dank dafür und

LG
Stefan
Ela48 was für menschliche Zeilen.
Es erinnert mich an meine Tochter.
Während ihrer Studienzeit arbeitete sie als Nachhilfelehrerin u.a. auch für verhaltenesauffälligen Kindern und Jugendlichen..

Ein Junge, türkischer Abstammung, der schon aus verschiedenen Schulen verwiesen worden ist, darum dreht sich jetzt die kleine Geschichte.
Seine Mutter wendete sich an unsere Tochter.
Sie nahm ihn an und brachte ihn durch ihre außerordentlichen pädagogischen Fähigkeiten - sorry, ist wirklcih so - dazu, das er Freude am Lernen bekommt.
Die Perspektivenlosigkeit hat sich im Laufe der Zeit verflogen. Er gewann Selbstvvertrauen und Freude am lernen.
Sie besorgte ihm eine Pratikumsstelle und ihm wurde sogar eine Lehrstelle angeboten.

Seine Mutter kam und brachte unserer Tochter einen Strauß Blumen und mit Tränen in den Augen sagte sie DANKE!
Ela
indeed

Mit lernbehinderten und/oder verhaltensauffälligen Kindern zu arbeiten ist eine sehr anstrengende Tätigkeit, die von einem Pädagogen ein gerütteltes Maß an Geduld, Liebe und Konsequenz sowie Verständnis einfordert.
Neun Kinder mit den verschiedensten Problemen ist da schon eine hohe Schülerzahl.
Aber an deinem erzählten Beispiel geht auch die Quintessenz hervor: Die richtigen Worte und den richtigen Ton zum richtigen Zeitpunkt zu treffen, kann Türen öffnen. Wir können alle voneinander lernen.

Lieben Gruß
Ingrid
anjeli als mit Menschen zu arbeiten.
Es hat sich stets bewahrheitet, daß Druck - Gegendruck erzeugt.

Ich finde es gut, daß er sich auf das Experiment eingelassen hat. Der Erfolg wird ihn
beflügelt haben und auch zufriedener gemacht haben.

Viele Grüße anjeli/ulla
stefanie Das Erlebnis,erzählt von stefan hat mich sehr angesprochen.Die Haltung ist nicht nur Lehrern zu empfehlen sondern jedem,ob jung oder alt. danke für den Bericht stefanie

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