„Nun soll er aber die Scharte auswetzen!“


„Nun soll er aber die Scharte auswetzen!“

Sommertheater in seiner klischeehaftesten Vorstellung wurde 1899 in Ottendorf geboten. Während heutzutage der Begriff des Sommertheaters für die Urlaubszeit der Politik steht, und damit manches Dümmliche und Kuriose die Medienwelt erblickt, war Sommertheater vor fast 120 Jahren zunächst der notwendige Broterwerb für im Sommer sonst beschäftigungslose Schauspieler städtischer Bühnen. Und da zog man über Land. Große Themen wurden aufgegriffen, so 1899 die um die französische Staatsaffäre Hauptmann Dreyfuß. Dreyfuß war beschuldigt worden für das deutsche Kaiserreich spioniert zu haben. Mit fragwürdigen Methoden der Beweisführung wurde der einzige jüdische Offizier in Frankreichs Generalstab zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Soweit der Geschichtsfakt.

Auf der Grundlage des 1898 entstandenen Theaterstücks „Kapitän Dreyfuß“ von dem jüdischen Autor Jakob Gordin, hatte der Dresdener Schauspieldirektor Zahn das Stück bearbeitet. Mit dem Gastauftritt in Ottendorf sollte sozusagen „große Politik“ in der Provinz Einzug halten. Theater war zu dieser Zeit auch eine hohe Schule der Information zu Zeitereignissen.

Radebergs Zeitung zog nach dem Auftrittstag vom 4. Juli 1899 Resümee. Hier der originale Text, der lediglich in der Schreibweise der Worte, modernen Anforderungen angepasst wurde. Ottendorf- Okrilla. Ein außerordentlicher Kunstgenuss sollte den Bewohnern des hiesigen Ortes am vorigen Dienstag geboten werden, indem Herr Direktor Zahn mit seiner Truppe aus Radeberg kam, um im Saale des Gasthofes „Schwarzes Roß“ den „Kapitän Dreyfuß“ aufzuführen. Wie nicht anders zu erwarten war, hatte sich auch eine zahlreiche Zuhörerschaft eingefunden, um ihre Neugierde an dem schon mit viel Beifall aufgeführten Sensationsstück zu befriedigen. Allein der „Kunstgenuss“ sollte nicht ohne Beeinträchtigungen bleiben. Abgesehen von dem ¾ Stunde späteren Anfang, den das Publikum mit Ungeduld erwartete, machte sich hinter der Bühne schon während des 1. Aktes eine verdächtige Unruhe bemerkbar, die darauf schließen ließ, dass nicht alles im Lote sei und die im 2. Akt in derartigen Lärm ausartete, dass der Vorhang fallen musste. Es kommt wohl vor, dass selbst die größten Schauspieler plötzlich „unpässlich“ werden, hier aber schien die „Unpässlichkeit“ eine derartige zu sein, dass sie einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen der Direktion und den Akteuren bedurfte, und so wurde denn hinter dem Theater ein Theater aufgeführt, an dem das Publikum nicht übel Lust zeigte, sich tatkräftig zu beteiligen.

Doch wie jedes Ding seine Zeit hat, so ging auch dieser Sturm vorüber, und Herr Direktor Zahn erschien auf der Bühne, um unter einigen entschuldigenden Bemerkungen mitzuteilen, dass er das Stück so gut es eben ginge, ohne die „unpässlichen“ Mitglieder seiner Truppe, weiterspielen würde. In der Tat wurde das Stück auch zu Ende geführt, der Souffleur war oft lauter als die Mimen. Auf dem Theaterzettel stehende Personen wurden sogar durch Einheimische ersetzt. Die Geistesgegenwart des Direktors und der willigen Schauspieler verdient Anerkennung. Obwohl die Vorstellung sehr unter den Gegebenheiten litt, fehlte zum Schluss nicht der Applaus. Wir können nur Herrn Direktor Zahn aufs lebhafteste bedauern, dass er in seiner Truppe solch unsichere und raufwütige Kantonisten hat. Es muss empfohlen werden, seine Truppe von solchen Elementen zu säubern, die vielleicht denken, fürs Dorf ist Alles gut genug. Nun soll er aber die Scharte auswetzen! Es wird das Beste sein, wenn Herr Direktor Zahn mit einer zweiten Aufführung an das hiesige Publikum tritt und die entstandene Scharte auswetzt.

Zwei Tage später ist zu lesen: Direktor Zahn hat unterdessen Radeberg bereits verlassen.

haweger

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Kommentare (1)

El_Lobo Der Journalist hätte sich mehr Mühe geben sollen, um den Grund des Streites aufzudecken. Um was ging es hinter der Bühne eigentlich? Dann wäre der Artikel wirklich interessant.

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