Forum Politik und Gesellschaft Innenpolitik Christian Klar wird nun doch vorzeitig aus Haft entlassen

Innenpolitik Christian Klar wird nun doch vorzeitig aus Haft entlassen

niederrhein
niederrhein
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Eine Anmerkung (längerer Artikel)
geschrieben von niederrhein
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 24.11.2008, 15:20:19
Der Fall, aber auch diese Diskussion: viele Fragen, viele Aspekte



Vorbemerkung
Inzwischen sind weitere Beiträge erschienen, deren Gedanken, Argumente sich mit den folgenden teilweise überschneiden - ich habe aber trotzdem meinen Beitrag nicht noch einmal überarbeitet bzw. umgeschrieben. Also wegen der Überschneidungen etc. bitte ich um Nachsicht.




Zunächst die juristische Seite.
Laut den juristischen Spielregeln ist wohl diese Entlassung korrekt. Rechtlich gesehen ist eine Reue nicht vorgesehen; kann juristisch nicht „eingefordert“ werden.


Die strafrechtliche Seite.
Dies besonders im Hinblick auf den Strafvollzug. Noch einmal ganz lapidar: Warum will man jemand ins Gefängnis stecken? Hat sich nicht der Strafvollzug, wie Fachleute sagen, gleichsam als die Schule fürs Verbrechen erweisen? Eine Institution, die nicht einmal in der Lage ist, ihre Insassen vor Erpressung, Drogen, Vergewaltigung etc. zu schützen?
Dies ist keine Kritik etwa an die im Strafvollzug tätigen Menschen, die um ihren Dienst wahrhaftig nicht zu beneiden sind, sondern eher eine kritische Frage an eine Gesellschaft, die einen solchen Strafvollzug zuläßt bzw. die Voraussetzungen schafft, daß viele Menschen straffällig werden. Vielleicht kommt der eine oder andere zu der Erkenntnis, daß zwischen einer Gesellschaft und vielen Straftaten ein direkter Bezug ist.
Aktuelles Beispiel: Gerade ist der frühere AUB-Bundesvorsitzende Wilhelm Schelsky, Sohn des bekannten Soziologen Helmut Schelsky, zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ich bin wahrhaftig kein Sympathisant dieses Mannes bzw. dessen Handelns (grundsätzlich halte ich eine/diese Verurteilung für völlig berechtigt) – aber wem ist mit dieser Strafe gedient? Eine bestimmte Form der Wiedergutmachung wäre hier – wie bei den meisten Taten und Verbrechen – doch angebrachter und sinnvoller gewesen!



Die menschliche Seite (1): Bezogen auf den Täter.

Bevor man sich darüber äußert, müßten doch detaillierte Kenntnisse über die Person, über die näheren und weiteren Umstände, Ablauf, Tatsachen (!), vor allem über die jetzige konkrete Haltung des Täters vorliegen. Es wird Reue gefordert.
Einmal: Kann ich - als Nichtbeteiligter, Nichtbetroffener - diese Reue fordern und erwarten? Selbstverständlich können die Betroffenen diese erwarten, aber die anderen ...?
Dann: Worauf soll diese sich konkret beziehen? Auf eine bestimmte politische Erkenntnis, eine bestimmte politische Einstellung? Auf eine Tat, auf die Taten? Auf eine entschuldigende Haltung gegenüber den Betroffenen? Denn Reue ist ein innerer, ein moralisch-ethischer Vorgang; altgriechisch: metanoia, d.h. ein Umdenken, eine Umkehr.


Die menschliche Seite (2): Bezogen auf die Gesellschaft, auf den einzelnen

Warum fordert jemand - als Nichtbetroffener - eine Bestrafung? Welche Form der Bestrafung? Was will man mit der Bestrafung erreichen? Gefängnisse hätten - das ist jetzt eine persönliche Ansicht (die aber von etlichen Juristen, Rechtsphilosophen, Psychologen etc. geteilt wird) – allenfalls nur als Sicherheitsverwahrung eine – in diesem Fall völlig berechtigte und notwendige – Funktion, um eben die Gesellschaft zu schützen.
Aber allein hier ist Skepsis angebracht: Darf man z.B. jemand auf eine bloße Vermutung – nämlich daß er vielleicht „zukünftig“ der Gesellschaft schadet – einsperren? (Übrigens: Diese bloße Vermutung ist ein wesentlicher Grund gegen eine Todesstrafe!)
Ist es nicht vielmehr so, daß etliche Äußerungen hier, die Stellungnahmen von manchen Menschen hier mehr über die jeweilige Haltung & „Gesinnung“ der Sich-hier-Äußernden aussagen als etwa zum Fall selbst?


Die menschliche Seite (3): Bezogen auf die Betroffenen.

Aus meiner Sicht die schwierigste Situation. Ich kenne diese Menschen nicht, die davon betroffen sind. Ich weiß nicht, was in ihren Köpfen, in ihren Seelen vorgeht. Jeder Mensch wird hier, unter der Berücksichtigung der jeweiligen persönlichen Sozialisation, seines eigenen Lebens, seiner Erfahrung, seines Alters, seines Wissens, seiner Bildung und Gesinnung und seines Charakters sich vermutlich anders verhalten bzw. werden in deren Reaktionen unterschiedliche Nuancen sichtbar werden.

Grundsätzlich erwartet/en ein Betroffener, Betroffene, ja sogar eine ganze Gesellschaft - aus meiner Sicht mit Recht! - eine Art „Genugtuung“, eine Wiederherstellung der Rechtsordnung und des Rechtsfriedens; ohne dies kann eine Gesellschaft kaum – weiter – existieren. (Allein die Geschichte des 20. Jh. demonstriert dies ausdrücklich!)

Allerdings sind die Erwartungen der Betroffenen und der übrigen Gesellschaft nicht unbedingt identisch; oder anders: Wenn jemand als Betroffener in seiner menschlich emotionalen Aufwallung und in seinem Schmerz nach Vergeltung und Rache ruft, muß sich dies die Gesellschaft nicht zu eigen machen, kann sie nicht, darf sie nicht ...
(Interessant, diesbezüglich die unterschiedlichen Gesellschaften, Kulturen und deren Rechtssysteme und Rechts-praktiken zu betrachten!)

Wiederum eine persönliche Stellungnahme: Nach 1945 (bis weit in die 70er Jahre) habe ich (1934 geboren, von 1938 bis 1945 in der Schweiz überlebt; meine Eltern sind ermordet worden.) nur von einem einzigen Deutschen aus der Altersgruppe der Täter eine Art allgemeiner Entschuldigung gehört, einmal (von einer älteren Frau) eine Betroffenheitsreaktion erlebt, sonst nur ... „Wir haben nichts gewußt.“ etc. Tja, wie hätte ich mich verhalten sollen? Wie habe ich mich , jetzt als betroffener Menschen, verhalten ...
(Auch das muß gesagt werden: Ich habe während meiner Jahre, meines ganzen Lebens in Deutschland [etliche Jahre im Ausland gelebt und gearbeitet] – wenn ich von einem einzigen Fall 1946 in einer deutschen Schule absehe – keine, zumindest mir nicht bekannte und bewußte persönliche antisemitische Haltung erlebt.)


Auch in diesem Zusammenhang: Gelegentlich hört man (nicht hier oder?) den Ruf nach dem alttestamentlichen Grundsatz Auge um Auge; nur zur Kurzinformationen (der Wikipedia-Artikel ist sehr ausführlich und ausgezeichnet): Es geht hier nicht um eine archaische Rache(formel), sondern eine "Eindämmung der im Alten Orient üblichen, oft generationsübergreifenden Blutrache", um eine "Verhältnismäßigkeit von Strafe und Vergehen".


Die vergleichende Seite.
Dieses Land, ich meine die alte BRD, die DDR, die „neue“ BRD als Ganzes, hat ja seine Erfahrungen mit Tätern, Strafen etc. Mit „politischen“ Straftaten. Wie ist man nun damit umgegangen? Wie geht man damit um? Wie ist man mit anderen politischen Tätern umgegangen, wie geht man damit um? Nach 1945, nach 1989/90 bis in unsere Gegenwart? (Wie gehen damit etwa die anderen europäischen Staaten mit solchen Fällen um?)

Vor einer Woche stellte ich einen Ausschnitt aus dem SPIEGEL ins Forum; es ging um das Problem, daß die ehemaligen Täter aus STASI, NVA etc. wegen der Nennung ihrer vollen Namen im Internet etc. rechtlich gegen die ehemaligen Opfer vorgehen. Wie geht man damit um? („Einen“ Grund wüßte ich gegen die öffentliche Nennung der Namen – aber das nicht hier.)

Eine Unterstellung in diesem Zusammenhang: Geht es bei manchen Menschen hier nicht weniger um die juristische und/oder gesellschaftliche Seite als vielmehr um eine Art persönlicher politischer Haltung oder gar „politischer Rache“ gegenüber Linken, „Links“ etc.? Aus etlichen Leserbriefen in der FAZ ist dies klar erkennbar; d.h. das wird unverhohlen zum Ausdruck gebracht.
(Ebenfalls interessant sind hier in diesem Zusammenhang die unterschiedlichen Stellungnahmen in den verschiedenen Zeitungen wie FAZ, SZ, FR, taz)


Persönliches Statement: Ich wünsche mir – eben für die Betroffenen – , daß Herr Klar nach seiner Entlassung für die betroffene Familie ehrliche und richtige Worte findet. Persönlich habe ich nicht das Recht und auch nicht die moralische Berechtigung, eine Fortführung der Haft zu fordern oder zu erwarten.
(Ich sehe keinen Sinn darin und halte es auch für menschlich unsinnig, Herrn Klar noch weiter einzusperren.)


Verantwortlich
Die Bertha
vom Niederrhein
Re: Christian Klar wird nun doch vorzeitig aus Haft entlassen
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Medea vom 25.11.2008, 07:38:18
Neunmal gemordet ist mit 26 Jahren Haft nicht "abgegolten" - diese brutalen Morde dürfen nicht "entschuldet" werden und von einer sogenannten "Läuterung" (dafür waren diese Haftjahre ja doch gedacht) kann wohl im Falle Klar auch nicht ausgegangen werden.
M.


Hallo Medea,

Christian Klar wurden bei seiner Verurteilung nicht nur neun kaltblütige Morde zur Last gelegt, sondern auch 11 Mordversuche!
Im übrigen teile ich Deine Ansicht: Klar hat während seiner Haft n i c h t s begriffen! Er indentifiziert sich nach wie vor mit seinen früheren Zielen als RAF-Terrorist und hat öffentlich mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ihn die Gefühle der Opfer und ihrer Angehörigen bis heute nicht interessieren und schon gar nicht berühren.
Nach meiner Ansicht ist Klar ein gemütskalter Fanatiker ohne jede Einsichtsfähigkeit, von dem unverändert die potentielle Gefahr ausgeht, schwere Straftaten zu begehen, wenn sich die "Gelegenheit" dazu bietet.

Deshalb verstehe ich auch nicht, wie das OLG Stuttgart bei dieser Persönlichkeitsstruktur zu der Beurteilung kommt, bei Klar bestünde keine Wiederholungsgefahr.

ursula
niederrhein
niederrhein
Mitglied

Dank und eine Zustimmung!
geschrieben von niederrhein
als Antwort auf idurnnamhcab vom 25.11.2008, 10:15:07
Dank und eine Zustimmung!
[...] da es unseren Rechtstaatlichen Prinzipien entspricht. [...] Recht des Versuches der Wiedereingliederung. [...] Recht sich kritisch zu äußern [!!!] dass zumindest Teile der von ihr kritisierten gesellschaftlichen Zustände damals zu Recht zu kritisieren waren, und auch heute, in gewandelter Form, immer noch aktuell und zu kritisieren sind.[!!!] [...]

Diesen Gedanken und auch dem ganzen Beitrag stimme ich vorbehaltlos zu! Danke für diesen Beitrag!

Die Bertha
vom Niederrhein

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5 X Lebenslänglich = 26 Jahre !???
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf niederrhein vom 25.11.2008, 11:30:09
Du bist doch vermutlich eine kluge Frau, Bertha , deshalb an Dich folgende Frage am Rande: Erkläre mir doch bitte, wie es rechnerisch möglich ist, dass eine Freiheitsstrafe (wie im Fall Ch. Klar) von 5x lebenslänglich nach 26 Jahren abgegolten ist ... !??

ursula
rolf †
rolf †
Mitglied

Re: 5 X Lebenslänglich = 26 Jahre !???
geschrieben von rolf †
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 25.11.2008, 13:11:17
Das wird dir nur ein Jurist erklären können.
Es werden ja auch Einzelstrafe zu Gesamtstrafen zusammengezogen, die kürzer sind, als die Summe der Einzelstrafen.
--
rolf
susannchen
susannchen
Mitglied

Re: 5 X Lebenslänglich = 26 Jahre !???
geschrieben von susannchen
als Antwort auf rolf † vom 25.11.2008, 13:19:49
Mengenrabatt!
--
susannchen

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susannchen
susannchen
Mitglied

Re: Christian Klar wird nun doch vorzeitig aus Haft entlassen
geschrieben von susannchen
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 25.11.2008, 11:25:42
Nach meiner Ansicht ist Klar ein gemütskalter Fanatiker ohne jede Einsichtsfähigkeit, von dem unverändert die potentielle Gefahr ausgeht, schwere Straftaten zu begehen, wenn sich die "Gelegenheit" dazu bietet.


Das ist wohl deine Laienhafte (weil weit entfernt) Ansicht, die Psychologen sehen das anders.
--
susannchen
vitaraw
vitaraw
Mitglied

Re: Christian Klar wird nun doch vorzeitig aus Haft entlassen
geschrieben von vitaraw
als Antwort auf susannchen vom 25.11.2008, 13:27:55




ich wage auch den gemütszustand , die magelnde oder doch vorhandene einsicht , die fähigkeit der reflektion , oder die fähigkeit zu bereuen eines christian klars nicht zu beurteilen .

aber auch ich fühle ein gewisses unbehagen das er , wie auch andere ehemalige raf terroristen , auf freiem fuß sind oder sein werden .

es geht nicht um einen mord , sondern um viele ... es geht auch nicht um durchsetzung von idealen , sondern um kaltblütig langfristig geplante manöver gegen die menschlichkeit , die viele menschen das leben gekostet haben .

es geht nicht um eifersucht habgier oder angst vor bestrafung .... hier hat man damals zur durchsetzung seiner eigenen ziele menschen regelrecht hingerichtet ...

klar fühlt sich heute noch als politischer gefangener , jedenfalls sagte er das in diesem gespräch was im fernsehen gezeigt wurde ... es bereitet mir unwohlsein ...

aber ich akzeptiere unseren rechtsstaat , auch wenn ich ihn wie so oft nicht verstehen kann , und somit auch seine freilassung.


jutta
--
vitaraw


p.s. susannchen das "mengenrabatt" empfinde ich ( die ja bekennend flappsig mit vielen themen umgeht ) als menschenverachtend !
rolf †
rolf †
Mitglied

Re: Christian Klar wird nun doch vorzeitig aus Haft entlassen
geschrieben von rolf †
als Antwort auf vitaraw vom 25.11.2008, 13:54:28
Der Mengenrabatt bezog sich nicht auf die Opfer, sondern auf das Zusammenziehen mehrerer Einzelstrafen zu einer Gesamtstrafe.
--
rolf
susannchen
susannchen
Mitglied

Re: Christian Klar wird nun doch vorzeitig aus Haft entlassen
geschrieben von susannchen
als Antwort auf vitaraw vom 25.11.2008, 13:54:28
Entschuldige wenn ich Gefühle verletzt habe, Juristen nennen es " Mengenrabatt". Zusammenfassen mehrerer Straftaten.
Es ist nun mal so.

Ps: Ich bin Laienschöffin
--
susannchen

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