Forum Politik und Gesellschaft Innenpolitik Vor 75 Jahren fand die Pogromnacht statt...

Innenpolitik Vor 75 Jahren fand die Pogromnacht statt...

Brisalyra
Brisalyra
Mitglied

Re: Vor 75 Jahren fand die Progromnacht statt...
geschrieben von Brisalyra
als Antwort auf Karl vom 09.11.2013, 21:52:40
Nein, Karl!
Seit ´45 reden wir darüber, dass alle wegschauten, nur wir selbst, soweit möglich, wussten nix! Deshalb gefällt mir dieser ehrliche Bericht des Lamprecht ausnehmend gut!
Vergangenheitsbewältigung betrifft immer "die Anderen" - das begann 1989 von Neuem.
Gambler
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Re: Vor 75 Jahren fand die Progromnacht statt...
geschrieben von Gambler
Der Tag als mein Freund verschwand. Morgens, auf dem Weg zur Schule ging ich an dem Haus, wo mein Freund wohnte,vorbei die Tür zum Laden stand offen, das Schaufenster war zerbrochen. Die Schrift Radio Sternberg war nicht mehr zu lesen. In der Schule nichts besonderes, ob die älteren sich über etwas unterhielten, ich weiß es nicht mehr. Nach der Schule nach Hause, mein Mittagessen verzehrt und dann kam an und für sich mein Freund, erst half er mir bei den Schularbeiten, er war etwas älter, dann spielten wir. Auf der Straße zu spielen war mir nicht erlaubt, meine Mutter nannte die Kinder die auf der Straße spielten Straßenkinder, war wohl ganz was schreckliches. Nur mein Freund kam nicht, Er kam auch in den nächsten Tagen. Meine Mutter sagte irgendwann , die Sternbergs sind wohl ausgezogen. Im Laden wurden die Schäden repariert und dann zog ein neuer Besitzer ein. Ich war wütend, traurig, enttäuscht. . Wie konnte mein bester Freund mich so verlassen. Nichts habe ich erfahren von diesem sogenannten Volkszorn. Erst sehr viel später wurde in der Schule von den Volksschädlingen gesprochen aber einen Zusammenhang habe ich immer noch nicht erkannt. Ein freundlicher Mann mit einem Radiogeschäft, ein toller Freund und das sollen Volksschädlinge sein . Da kam der Krieg, wir wurden ausgebombt, bin nie wieder in diese Gegend gekommen. Und jetzt nach 75 Jahren blättere ich im Archiv der Stadt die ich nach dem Krieg verlassen hatte. Und die katholische Kirchenzeitung bringt ausführliche Berichte über diesen Tag . Und die möchte ich gerne zitieren.

DER DOM
Kirchenzeitung des Erzbistums Paderborn
Kreis Paderborn. Die Feuerwehr steht tatenlos dabei und schaut zu wie die Paderborner Synagoge abbrennt. Angesteckt hatten die Synagoge zwei Angestellte der Paderborner Stadtverwaltung: der Fuhrparkleiter der Stadt, Otto Nagorny, und der Stadtbaurat Dr. Herbert Keller. Eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Region beleuchtet die Ausstellung „9.11.1938 – Reichspogromnacht in Ostwestfalen-Lippe“, Das Foto von den Paderborner Feuerwehrleuten, die zuschauen, wie dicke Rauchschwaden aus der Synagoge dringen, ist das Titelfoto der Ausstellung und eines Begleitheftes. Die von der Oberin des St.-Vincenz-Krankenhauses verständigte Feuerwehr beschränkte sich darauf, die Nachbargebäude zu schützen. Die Reaktion zu den Pogromen war in Paderborn geteilt. Der damalige Landrat berichtete dem Regierungspräsidenten in Minden, „der überwiegende Teil der Bevölkerung, der noch unter dem Einfluss zentrümlicher und kirchlicher Kreise steht, lehnt die Aktion gegen die Juden jedoch ab“. Stark kirchlich gebundene Kreise hätten sich „besonders ungehalten“ gezeigt, dass die Gotteshäuser der Juden in Brand gesetzt worden seien. Vom „Volkszorn“, der sich am 9. und 10. November 1938 spontan entladen hätte, könne jedenfalls keine Rede sein, konstatiert die Ausstellung. Der Pogrom wurde von langer Hand in Berlin vorbereitet, vor Ort allerdings auch umgesetzt. Nennenswerten Widerstand seitens der Bevölkerung gab es nicht, allenfalls Kritik hinter vorgehaltener Hand. Mindestens 47 Synagogen in Ostwestfalen-Lippe fielen so der Zerstörungswut zum Opfer, wenigstens sieben jüdische Friedhöfe wurden während der Pogromnacht geschändet. Doch auch Menschen kamen zu Schaden. Im Deutschen Reich wurden etwa 400 Menschen ermordet, mindestens drei waren es in Ostwestfalen-Lippe. Der Salzkottener Alex Cohn starb an den Folgen von Misshandlungen. In Höxter starb David Schlesinger, als er beim Transport im Kübelwagen der SA von Albaxen nach Höxter aus dem Wagen stürzte oder hinausgeworfen wurde – das blieb ungeklärt. Zu besonders exzessiven Misshandlungen kam es in Bad Lippspringe. Dort wurden sechs Juden von einer Menschenmenge stundenlang brutal gequält und fast ertränkt. Das Gerichtsverfahren nach dem Krieg war symptomatisch für die juristische Aufarbeitung dieser Verbrechen in der jungen Bundesrepublik. Die sechs Angeklagten, die sich laut Pressebericht „eins ins Fäustchen lachten“, wurden 1949 vom Schwurgericht Paderborn freigesprochen. In den Zeitungen wurde dies als „Schande von Paderborn“ bezeichnet.
olga64
olga64
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Re: Vor 75 Jahren fand die Progromnacht statt...
geschrieben von olga64
als Antwort auf Brisalyra vom 09.11.2013, 20:30:14
Wegschauen, Zuschauen und Mitmachen sind deutsche Tugenden!


Das stimmt leider schon und bewahrheitet(e) sich immer wieder. Auch in der früheren DDR, wenn man bedenkt, wie viele Menschen in diesem kleinen Volk von ca 16 Mio Menschen bei der Stasi waren und sich gegenseitig bespitzelten.
Auch wenn Menschen wochenlang tot in ihren Wohnungen liegen, melden sich die Nachbarn erst, wenn es stark stinkt. Wenn Kinder schreien, weil sie fast oder ganz zu Tode geprügelt werden - hat keiner was mitbekommen ,der dann später Kerzen und Plüschtierchen vor die Wohnungstüre legt, wenn alles zu spät ist.
Toleranz ist übrigens auch kein deutsches Wort, was sich dann niederschlägt im Töten von ausländischen Mitbürgern oder in rechten Demos, weil irgendein Kaff einige wenige Aslybewerber aufnehmen soll. Olga

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Brisalyra
Brisalyra
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Re: Vor 75 Jahren fand die Progromnacht statt...
geschrieben von Brisalyra
als Antwort auf olga64 vom 12.11.2013, 16:59:36
Eigentlich hätte ich schreiben müssen „... den Anschein des Mitmachens erwecken“, denn wirklich „aktiv“ waren die Wenigsten, weder im 3. Reich, noch in der DDR!

Nach ´45 war es nur logisch, wenn urplötzlich die Parteiabzeichen verschwanden, 1989 mutierten in nur drei Wochen über zwei Millionen SEDler zu CDUlern und erlitten akute Amnesie, vergaßen schon auf der Rückfahrt vom ersten „Westbesuch“ das erhaltene Begrüßungsgeld und mussten erneut einreisen!

Meine Achtung vor solchen Zeitgenossen hält sich in Grenzen!
Brisalyra
Brisalyra
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Re: Vor 75 Jahren fand die Progromnacht statt...
geschrieben von Brisalyra
Hier noch eine kleine Erinnerung an Zuschauer und Mitmacher – 1990, in Rostock-Lichtenhagen bedrohten die frisch aus der FDJ Ausgetretenen Jugendliche unter dem Beifall der Ex-Genossen Vietnamesen mit dem Tod.
Der erste, so gern verschwiegene, Pogrom nach 1945?
Mich würde interessieren, über was sich die damaligen Teilnehmer heute empören!
margit
margit
Administrator

Re: Vor 75 Jahren fand die Progromnacht statt...
geschrieben von margit
als Antwort auf Brisalyra vom 12.11.2013, 19:35:00
Fremdenhass im wiedervereinigten Deutschland ist ein wichtiges Thema. Ob dieses Phänomen Wurzeln in der DDR hat mag auch ein wichtiges, eigenständiges Thema sein. In diesem Thread wurde jedoch an die Pogromnacht vor 75 Jahren in der Nazizeit erinnert.

Wir sollten dieses bedeutende Thema nicht schon wieder auf DDR-Schelte umdrehen.

@ Gambler,

Dir danken wir für die Erinnerung.

Margit und Karl

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Brisalyra
Brisalyra
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Re: Vor 75 Jahren fand die Progromnacht statt...
geschrieben von Brisalyra
als Antwort auf margit vom 13.11.2013, 20:48:12
In diesem Thread wurde der Umgang der deutschen Bürger gescholten, der tatenlos zusah wie gezündelt, geprügelt und gemordet wurde, Margit, nicht die DDR!
Dass sich solche „Ereignisse“, nach der Nazizeit, wiederholten, die gerne von Menschen verschwiegen werden die sich Antifaschisten nennen, wieder unter tatenlosen Zuschauern, gehört sehr wohl in diesen Thread!

Ist sie nicht erstaunlich, diese Ruhe hier, nach dem Erwähnen der Ausschreitungen, so die offizielle Bezeichnung, von Rostock?
Die Bezeichnung „DDR-Schelte“, Margit, halte ich für mehr als unangemessen!
sittingbull
sittingbull
Mitglied

Re: Vor 75 Jahren fand die Progromnacht statt...
geschrieben von sittingbull
der versuch der relativierung der schuld bürgerlicher klassen an den faschistischen
verbrechen der nazis während der "reichskristallnacht" , durch unterstellungen
bezüglich einer verantwortung der SED und der FDJ für die rassitischen progrome
von rostock-lichtenhagen ... ist eine bodenlose , geschichtsrevisionistische
unverschämtheit .

sitting bull
Mareike
Mareike
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Re: Vor 75 Jahren fand die Progromnacht statt...
geschrieben von Mareike
als Antwort auf Brisalyra vom 13.11.2013, 22:27:56
" ... Seit den frühen 1980er Jahren waren die Ausländer- und besonders die Asylpolitik bestimmende, negativ besetzte Themen im politischen Diskurs. CDU und CSU griffen das emotionsgeladene Thema auf und führten ab 1986 eine Kampagne gegen „Asylbetrug“ durch Wirtschaftsflüchtlinge.
...
Kontrovers diskutiert, aber weit verbreitet ist die These, dass die Entwicklung hin zu den Ausschreitungen bewusst zugelassen oder sogar geplant wurde, um eine Änderung des Grundrechts auf Asyl politisch durchsetzen zu können." ( Wikipedia)

Der Zusammenhang mit der Asyldebatte ist jedenfalls unverkennbar.

Auch heute ist diese Thematik hochaktuell, nicht nur hinsichtlich Asylanten, sondern auch in Bezug auf Kirche und kulturellen Unterschieden.
Auch da betreiben gewisse (welche?) Kreisen über Medien ein übles Spiel.

Mareike
margit
margit
Administrator

Re: Vor 75 Jahren fand die Progromnacht statt...
geschrieben von margit
Miriam hat diesen Thread mit dem Thema: "Vor 75 Jahren fand die Progromnacht statt..." eröffnet.
Dass hierzu verschiedenste Assoziationen auftauchen, ist verständlich. Aber wir sollten nicht, aus welchen Gründen auch immer, von diesem Thema ablenken und zu anderen Ereignissen abschweifen, die vom eigentlichen Thema wegführen und es relativieren.
Wegführen deshalb, weil die Schuld allein auf Organisationen wie die christlichen Kirchen verlagert wird, relativieren deshalb, weil Ereignisse miteinander verglichen werden, die nicht vergleichbar sind. Es ist ein grundlegender Unterschied, ob ein Verbrechen vom Staat durchgeführt wird, die Opfer für die Schäden bezahlen müssen und sich daraus eine Zeit der systematischen Unterdrückung und Ermordung von Millionen von Menschen anschließt oder ob es zu einer regionalen Ausschreitung eines rechten Mobs kommt.

Für mich als Historikerin bleibt immer noch die Frage offen, wie der Einzelne (mit wenigen Ausnahmen) nach dem Erleben der Reichspogromnacht zum Alltag zurückkehren konnte und so weiterlebte, als ob die Welt in Ordnung sei.

Ich plädiere mit Nachdruck dafür angesichts der Greuel des Holocausts beim Thema zu bleiben und nicht uns und unsere Vorfahren von der Verantwortung zu befreien zu versuchen mit dem Finden von anderen Verantwortlichen aus der Geschichte oder Gegenwart.
Jeder unserer Vorfahren trägt Verantwortung durch sein Tun oder Nichtstun und wir sind verantwortlich dafür, zu dieser Schuld zu stehen und heute Verantwortung zu übernehmen.

Margit

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