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Internationale Politik Erster Schritt zu Tunesiens Demokratisierung

luchs35
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Erster Schritt zu Tunesiens Demokratisierung
geschrieben von luchs35
Morgen Sonntag wählen erstmals die Tunesier eine Versammlung, die eine demokratische Verfassung ausarbeiten soll. Mit einigem Bangen schauen aber nicht nur die Tunesier selbst, sondern auch die Welt auf diesen erstmaligen Vorgang, denn inzwischen haben sich die während der Revolution praktisch unsichtbaren islamistischen Krafte formiert und organisiert.

Die ohne viel Blutvergiessen stattgefundene Revolution, die den Dikatator Ben Ali vertrieben hat, steht erst am Anfang einer Zukunft, die noch im Dunkeln liegt. Tunesien muss gerade feststellen, dass diese derzeitige Übergangsphase wesentlich komplexer ist, als es sich die jubelnden Massen vorgestellt hatten. Der Weg, der vor ihnen liegt, dürfte noch weit sein - und der "Frühling" ist nach wie vor gefährdet.

Islamistische Führungskräfte, die sich während des Aufstandes nicht nur ruhig verhalten hatten, sondern teilweise auch das Geschehen lieber vom Ausland aus betrachtet haben, sind zurückgekehrt und bedrohen Intellektuelle ebenso wie Frauen, die sich für die Demokratie ausgesprochen hatten.
Dazu kommen noch Gruppierungen wie z.Bsp. die gewaltbereiten Safisten mit ihren Hetz-und Hasstiraden, die nicht gerade Gutes versprechen.

Den Tunesiern bleibt nun zu hoffen, dass sich die unterschiedlichen islamistischen Kräfte nicht zusammenschließen und dreist nach der Macht greifen - ein Albtraum für die die Demokratie anstrebenden, vor allem jungen Tunesier.

Gespannt werden auch Ägypten, Libyen und andere sich noch auf dem revolutionären Weg befindenden arabischen Länder nach Tunesien blicken.

Drücken wir morgen den Tunesiern wenigstens den Daumen und hoffen mit ihnen, dass sie den ersten Schritt in die Demokratie nach ihrem eigenen, arabischen Muster erfolgreich tun können.

Luchs

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Re: Erster Schritt zu Tunesiens Demokratisierung
geschrieben von luchs35
Der wohl wichtigste Tag Tunesiens seit der Jasmin-Revolution ist der heutige Wahltag, an dem die Weichen gestellt werden, welchen Weg in die Zukunft dieses Land nehmen wird.

Tunesien war unter den arabischen Ländern bisher das fortschrittlichste und modernste. Seit 1956, als das Land unanhängig wurde, gab es kostenlose Schulbildung und ein gesetzlich festgelegtes Recht der Frauen zur Emanzipation, die ihnen die Möglichkeit auf eine relativ freie Entscheidung über ihren Lebensweg gab. Politisches Gezänke, rapid steigende Arbeitslosgkeit der jungen Menschen führten dann letztendlich zu dieser Revolution, die dann auf andere aranbische Länder übegriff.

Heute ist eine ziemliche Ernüchterung eingetreten. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Menschen können sich weniger leisten als je zuvor und es besteht zudem die Gefahr, dass die islamistische Ennehda-Partei mit Hilfe der Safisten die Oberhand gewinnt.

Zwar verspricht der Ennehda-Führer Rachid al-Ganouchi, von dem während der Revolution nichts zu sehen oder hören war, Demokratie und Fortschritt, Respekt gegenüber Andersdenkenden, Freiheit in der Gestaltung des eigenen Lebens, aber vor allem die jungen Tunesier misstrauen ihm und seinen Versprechungen, die von seinen Anhängern in den Moscheen ganz anders interpretiert werden und bereits zu Übergriffen auf unverschleierte Frauen und Intellektuelle geführt haben. Viele Tunesier sehen ihre Revolution, die der Beginn des "arabischen Frühlings gewesen war, in falsche Hände gleiten und rufen schon jetzt zu erneutem Protest auf, sollte die Ennehda-Partei mit Hilfe der fundamentalistischen Safisten die Macht an sich reißen.

11000 Kandidaten stellen sich heute auf 1500 Listen für die 217 zu vergebenden Mandate zur Verfügung, die dann als Abgeordnete die Verfassung ausarbeiten und den Staatschef ernennen sollen, der dann wiederum einen Chef der Übergangsregierung bestimmen wird.

Wohin wird Tunesien triften? Hoffentlich nicht vom Regen in die Traufe, wie die Tunesier mir großer Sorge befürchten.

Ich weiß, das Thema interessiert nicht viele, aber ich wollte doch auf diesen Tag hinweisen, der für den leider eher winterlichen "arabischen Frühling" wegweisend sein kann.

Luchs
cecile
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Re: Erster Schritt zu Tunesiens Demokratisierung
geschrieben von cecile
als Antwort auf luchs35 vom 23.10.2011, 09:30:55


Tunesien war unter den arabischen Ländern bisher das fortschrittlichste und modernste. Seit 1956, als das Land unanhängig wurde, gab es kostenlose Schulbildung und ein gesetzlich festgelegtes Recht der Frauen zur Emanzipation, die ihnen die Möglichkeit auf eine relativ freie Entscheidung über ihren Lebensweg gab. Politisches Gezänke, rapid steigende Arbeitslosgkeit der jungen Menschen führten dann letztendlich zu dieser Revolution, die dann auf andere aranbische Länder übegriff.

Luchs



Das ist meiner Meinung nach eine sehr zahme Beschreibung der Verhältnisse in einem Land, das von dem äusserst brutalen und korrupten Machthaber Ben Ali und seiner Gefolgschaft geknebelt und ausgebeutet wurde. Es war ein Terrorregime, in dem die Menschen willkürlich ins Gefängnis geworfen, misshandelt, ausgewiesen und getötet worden sind.


Eine Besonderheit dieser Wahl ist der Impakt, den die im Ausland lebenden (rund 900 000) Tunesier haben.
Von den 217 zu wählenden Abgeordneten werden 18 im Ausland bestimmt - allein in Frankreich, wo mehr als 500 000 tunesische Immigranten leben, geht es um 10 zu vergebende Sitze.

Die sich - bis jetzt - moderat gebende islamische Ennahda-Partei (sie war unter Ben Ali verboten, ihre Führer verbannt) wird wahrscheinlich den grössten Block stellen. Von ihrem zukünftigen Verhalten wird meiner Meinung nach vieles abhängen - nicht nur in Tunesien, sondern auch in den andern "revolutionären" Ländern der arabischen Welt.

Das Schreckgespenst einer Verbrüderung mit der bis jetzt unbedeutenden, aber sehr lautstarken Salafisten-Minderheit wird hoffentlich nicht eintreten ...

Ich drücke jedenfalls beide Daumen, dass "der steinige Weg zur Demokratie" in Tunesien fortgesetzt werden kann





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luchs35
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Re: Erster Schritt zu Tunesiens Demokratisierung
geschrieben von luchs35
als Antwort auf cecile vom 23.10.2011, 10:37:13
Das ist meiner Meinung nach eine sehr zahme Beschreibung der Verhältnisse in einem Land, das von dem äusserst brutalen und korrupten Machthaber Ben Ali und seiner Gefolgschaft geknebelt und ausgebeutet wurde. Es war ein Terrorregime, in dem die Menschen willkürlich ins Gefängnis geworfen, misshandelt, ausgewiesen und getötet worden sind.
geschrieben von Cecile:


Natürlich hast du recht,Cecile, die Umschreibung ist sehr moderat, aber ich wollte das Altbekannte nicht noch einmal aufzählen. Trotzdem war Tunesien vor dem Sturz Ben Alis im Vergleich mit anderen arabischen Ländern doch eher gemäßigt und war in der Tat fortschrittlicher. Auch Ben Alis Verhalten, das Blutvergießen vermied, unterscheidet sich von anderen Despoten.

Jetzt allerdings hat das Land die Chance, sich in die Richtung einer Demokratie zu entwickeln-mit Sicherheit noch ein langer und steiniger Weg.

Die starke und nicht durchschaubare Ennahda - Partei distanziert sich zwar offziell von den Salafisten, lässt diese aber trotzdem den Jihad predigen, Gewalt gegen Andersdenkende anwenden, unverschleierte Frauen/Studentinnen verprügeln, Intellektuelle bedrohen. Ennahda-Führer al -Gannouchi beteuert in seinen Auftritten (TV) zwar die demokratischen Prinzipen seiner Partei, doch in den von ihnen kontrollierten Moscheen werden ganz Ansichten verbreitet.

Diese Zwielichtigkeit der Ennahda- Partei ist es, die Unsicherheit verbreitet. Sollten sich die an sich sonst wenig bedeutenden fundamentalistischen Salafisten und die Ennahda- Partei zusammenschließen, was viele Tunesier befürchten, wäre das das Ende zumindest des " tunesischen Frühlings".

Ich diskutiere derzeit öfters mit einer tunesischen Ex-Kollegin, die mit großem Bangen auf den Ausgang dieser Wahl wartet und auch schildert, wie ihre Familie in Tunesien von den Ängsten der Menschen berichtet. Das war mein Ausgangspunkt, um auf diese Wahl heute hinzuweisen und weil ich denke, dass es auch uns berühren müsste, denn immerhin liegt Tunesien praktisch vor unserer Haustür und wird auch wegweisend für die anderen arabischen Länder sein.

Luchs
Christine1951
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Nachdenklich
geschrieben von Christine1951

wie heute im S.P.O.N. zu sehen war dieser Andrang in den Wahllokalen aber ich frage mich was ist wenn diese Euphorie vergeht - der politischen Gleichgültigkeit Platz mach wie bei uns - die Wahlbeteiligung sinkt - die Träume und Hoffnungen der Ohnmacht platz machen müssen - das die Menschen die den Wählerauftrag erhalten haben - Lobbyisten sind - das die Menschen die den Wählerauftrag erhalten haben an ihrer Macht kleben - das die Menschen die den Wählerauftrag erhalten haben auch nur Menschen sind und der Gier unterliegen -
man sieht das Resultat bei uns und in den vielen Demokratien rund um den Erdball - es formiert sich der Widerstand gegen diese Art Demokratie - in der das Volk außen vor bleibt! Die Bedürfnisse der Menschen nebensächlich sind, die Gewinnmaximierung an erster Stelle steht - der Profit - ich finde ein gutes Beispiel dafür sind unsere satten Politiker - die sich drehen wie ein Fähnchen im Wind - und dabei kommt mir immer der "Zauberlehrling" in den Sinn.

LG
luchs35
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Re: Nachdenklich
geschrieben von luchs35
als Antwort auf Christine1951 vom 23.10.2011, 12:38:34

Deine Gedanken kann ich nachvollziehen, Christine. Aber nun steht ja fest, dass die islamistische Ennahda-Partei diese erste Wahl für sich entschieden hat. Nun bleibt nichts als abzuwarten, wohin Tunesiens Weg führt, nachdem Ennahda-Chef Rachid al-Ghannouchi jetzt erst mal versprochen hat, die Rechte von Frauen und Minderheiten im Land zu unterstützen.

Aber immerhin hat mit der Wahl- wenn alles korrekt gelaufen ist - das Volk gesprochen. Nun liegt es in seiner Hand, den Kurs mitzubestimmen.

Luchs

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