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Literatur zeitkritische texte...gestern & heute

Mitglied_bed8151
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38
Allen Untertanen bis heute ein Greuel. Brandaktuell: Walter Mehring - 1934 - Mehring war schon im Exil in Paris - erschien dort sein Gedichteband "Und Euch zum Trotz":

Dass diese Zeit uns wieder singen lehre
Die guten Lieder eines bösen Spotts
- Selbst wenn uns Herz und Sinn danach nicht wäre -
Nur Euch zum Trotz!

Und singen, bis es wider Euch sich kehre -
Und einen Keil treib' in den groben Klotz!
Und dass es etwas uns die Brust entschwere!
Und uns zum Trost! Und Euch zum Trotz...

von... Walter Mehring

--
Wolfgang
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38

Erziehung nach Auschwitz (von Theodor W. Adorno)

[...]

Aller politische Unterricht endlich sollte zentriert sein darin, dass Auschwitz nicht sich wiederhole. Das wäre möglich nur, wenn zumal er ohne Angst, bei irgendwelchen Mächten anzustoßen, offen mit diesem Allerwichtigsten sich beschäftigt. Dazu müsste er in Soziologie sich verwandeln, also über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren, das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat. Kritisch zu behandeln wäre, um nur ein Modell zu geben, ein so respektabler Begriff wie der der Staatsraison: indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell schon gesetzt.

Walter Benjamin fragte mich einmal in Paris während der Emigration, als ich noch sporadisch nach Deutschland zurückkehrte, ob es denn dort noch genug Folterknechte gäbe, die das von den Nazis Befohlene ausführten. Es gab sie. Trotzdem hat die Frage ihr tiefes Recht. Benjamin spürte, dass die Menschen, die es tun, im Gegensatz zu den Schreibtischmördern und Ideologen, in Widerspruch zu ihren eigenen unmittelbaren Interessen handeln, Mörder an sich selbst, indem sie die anderen ermorden. Ich fürchte, durch Maßnahmen auch einer noch so weit gespannten Erziehung wird es sich kaum verhindern lassen, dass Schreibtischmörder nachwachsen. Aber dass es Menschen gibt, die unten, eben als Knechte das tun, wodurch sie ihre eigene Knechtschaft verewigen und sich selbst entwürdigen; dass es weiter Bogers und Kaduks gebe, dagegen lässt sich doch durch Erziehung und Aufklärung ein Weniges unternehmen.

--
Wolfgang

Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 16.04.2010, 11:08:34
Bleib erschütterbar und widersteh

Also heut: zum Ersten, Zweiten, Letzten:
Allen Durchgedrehten, Umgehetzten,
was ich, kaum erhoben, wanken seh,
gestern an und morgen abgeschaltet:
Eh dein Kopf zum Totenkopf erkaltet:
Bleib erschütterbar - doch widersteh!

Die uns Erde, Wasser, Luft versauen
- Fortschritt marsch! mit Gas und Gottvertrauen
Ehe sie dich einvernehmen, eh
du im Strudel bist und schon im Solde,
wartend, daß die Kotze sich vergolde:
Bleib erschütterbar - und widersteh.

Schön, wie sich die Sterblichen berühren -
Knüppel zielen schon auf Hirn und Nieren,
daß der Liebe gleich der Mut vergeh . . .
Wer geduckt steht, will auch andre biegen.
(Sorgen brauchst du dir nicht selber zuzufügen;
alles, was gefürchtet wird, wird wahr!)
Bleib erschütterbar.
Bleib erschütterbar - doch widersteh.

Widersteht! im Siegen Ungeübte,
zwischen Scylla hier und dort Charybde
schwankt der Wechselkurs der Odyssee . . .
Finsternis kommt reichlich nachgeflossen;
aber du mit — such sie dir! — Genossen!
teilst das Dunkel, und es teilt sich die Gefahr,
leicht und jäh —
Bleib erschütterbar!
Bleib erschütterbar - und widersteh.”

Peter Rühmkorf

(eines der für mich besten zeitkritischen Gedichte - ich hoffe, die Urheberrechtsverletzung zeitigt keine bösen Folgen.)

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enigma
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von enigma
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 16.04.2010, 14:02:36
Hallo Marina,

danke für das Gedicht von Peter Rühmkorf, das ein gutes Beispiel dafür ist, was und wie Lyrik sein kann, nämlich nicht eine beliebige Reimerei, sondern scharfsinnige, teilweise groteske, auch bissige und ironische, freche, aber virtuose, auf jeden Fall aber aktuelle und zeitkritische Poesie.
Und diesen Qualitätsanspruch möchte ich auch, wie Du es an anderer Stelle postuliert hast, mithelfen zu bewahren, jedenfalls in dem Forum, das “Literatur” heißt.

Peter Rühmkorf soll u.a. auch Joachim Ringelnatz gemocht haben.
Darum stelle ich jetzt ein Gedicht von Ringelnatz ein, das “Chanson vom großen Publikum” heißt:

Chanson vom großen Publikum

Wer die Masse kennt, wird auf linksherum
Oder rechtsherum erfolgreich sein,
Wenn er Schwindel macht. Denn das Publikum
Fällt auf jeden Schwindel stets herein.
Ganz altaktuell, frech und möglichst dumm,
Breit und kitschig muss die Sache sein,
Denn das Publikum, das große Publikum
Fällt auf jeden Schwindel glatt herein.
Von dem Drum und Dran und von dem Dran und Drum
Will es gar nicht unterrichtet sein.
Denn das Publikum, das große Publikum
Fällt auf jeden Schwindel gern herein.
Applaudiert ihr jetzt mir? Und wenn ja, warum?
O ich prüfe Euch an diesem Stein!
Denn das Publikum, das große Publikum
Will durchaus, durchaus beschwindelt sein.
(Joachim Ringelnatz, 1883-1934)

Das ist doch auch zeitkritisch, sogar “zeitlos zeitkritisch,finde ich.


Gruß an Dich von Enigma


clara
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von clara
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 16.04.2010, 11:08:34
Adorno schreibt in Erziehung nach Auschwitz: „...sind Versuche, der Wiederholung entgegenzuarbeiten, notwendig auf die subjektive Seite abgedrängt. Damit meine ich wesentlich auch die Psychologie des Menschen, die so etwas tut.“

Die Frage bleibt, ob es der Schule – darauf zielt ja seine Forderung – gelingen kann, den einzelnen jungen Menschen „zum „Nachdenken, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ (Adorno) zu erziehen. Deswegen auch vorsichtig „Versuche“. Die „Qälgeister“, wie er die ausführenden Täter von Auschwitz nennt, bedürfen als Befehlsempfänger der Schreibtischtäter und sind ohne sie gar nicht denkbar. Darauf berufen sie sich, und die meisten dieser Handlanger waren sich keiner Schuld bewusst (oder hatten sie verdrängt).
Leider wird es immer wieder Menschen geben, die aus verschiedenen Gründen zu willigen Helfern werden können. Nur eine gefestigte Demokratie kann dies - vielleicht - verhindern.

Was Adorno über die „Staatsraison“ sagt, galt vor Jahrzehnten, als er den Aufsatz schrieb und ist schon wieder aktuell, nämlich „...indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell schon gesetzt.“

Clara
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38

Ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert
Und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt' einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Dass keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

aus... Brecht, Bertolt: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui

Manch einer mag gar nicht, dass die Warnung heutzutage ausgesprochen wird. Das sei Geschichte, wird gesagt. Geschichte sei Vergangenheit. Und ausserdem, so hört man, wiederhole Geschichte sich nicht. Ich sage, dass sich Geschichte wiederholen kann. Dann nämlich, wenn nicht auf Warnungen gehört wird. Denn der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch

--
Wolfgang

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Mitglied_bed8151
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Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf pilli vom 04.04.2010, 00:16:38

Viele sahen im Ersten Weltkrieg den Endkampf und in seinem Abschluss den endgültigen Sieg der Freiheit. Die bereits vorhandenen Demokratien schienen gestärkt daraus hervorzugehen, und neue Demokratien traten an die Stelle früherer Monarchien. Aber bereits nach wenigen Jahren tauchten neue Systeme auf, die alles verleugneten, was die Menschen in jahrhundertelangen Kämpfen errungen zu haben glaubten. Denn das Wesen dieser neuen Systeme, die sich des gesamten gesellschaftlichen und persönlichen Lebens der Bevölkerung bemächtigten, war die völlige Unterwerfung aller unter die Autorität einer Handvoll von Menschen, gegen die sie machtlos waren.

Zunächst trösteten sich viele mit dem Gedanken, der Sieg des autoritären Systems sei auf die Geistesverwirrung einiger weniger einzelner zurückzuführen, die von ihrem Wahnsinn schon rechtzeitig wieder abgebracht werden könnten. Andere wiegten sich im Glauben, die Italiener und die Deutschen besäßen nur noch nicht genügend Übung in Demokratie, und man könne daher ruhig zuwarten, bis sie die politische Reife der westlichen Demokratien erreicht hätten. Eine andere weitverbreitete Illusion – vielleicht die allergefährlichste – war die, dass Menschen wie Hitler allein durch ihre List und Tücke die Macht über den großen Staatsapparat errungen hätten, dass sie und ihre Gefolgsleute allein durch nackte Gewalt regierten und dass die Bevölkerung nur das willenlose Objekt von Betrug und Terror sei.

Inzwischen haben sich diese Ansichten als Irrtum herausgestellt. Wir mussten erkennen, dass Millionen von Deutschen ebenso bereitwillig ihre Freiheit aufgaben, wie ihre Väter für sie gekämpft hatten; dass sie, anstatt sich nach Freiheit zu sehnen, sich nach Möglichkeiten umsahen, ihr zu entfliehen; dass weitere Millionen gleichgültig waren und nicht glaubten, dass die Verteidigung der Freiheit es wert sei, für sie zu kämpfen und für sie zu sterben. Wir haben weiterhin erkannt, dass die Krise der Demokratie kein spezifisch italienisches oder deutsches Problem ist, sondern dass jeder moderne Staat sich damit auseinanderzusetzen hat. Auch macht es keinen Unterschied, welche Symbole sich die Feinde der menschlichen Freiheit wählen: Die Freiheit ist nicht weniger gefährdet, ob sie im Namen des Antifaschismus oder im Namen des Faschismus selbst angegriffen wird. [...] John Dewey hat dies so eindrucksvoll formuliert, dass ich ihn wörtlich zitieren möchte: »Die ernste Gefahr für unsere Demokratie besteht nicht in der Existenz totalitärer fremder Staaten. Sie besteht darin, dass in unseren eigenen persönlichen Einstellungen und in unseren eigenen Institutionen Bedingungen herrschen, die der Autorität von außen, der Disziplin, der Uniformität und Abhängigkeit vom Führer in diesen Ländern zum Sieg verhelfen. Demnach befindet sich das Schlachtfeld hier – in uns selbst und in unseren Institutionen.« (J. Dewey, 1939.) Wenn wir den Faschismus bekämpfen wollen, müssen wir ihn verstehen. Wunschdenken hilft uns dabei nicht weiter. Auch die Wiederholung optimistischer Devisen nützt so wenig wie das Ritual eines indianischen Regentanzes.

aus... Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit (Original: Escape from Freedom), 1941

--
Wolfgang
eleonore
eleonore
Mitglied

Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von eleonore
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 18.04.2010, 13:15:29
manche mögen sich wundern, aber ich meine, es ist auch eins.

eminem-lose youself

Schau wenn du eine Chance hättest oder eine Gelegenheit
um all das zu greifen was du je haben wolltest
Ein Moment
Würdest du ihn ergreifen oder ihn verstreichen lassen?

Seine Hände sind verschwitzt die Knie schwach, die Arme schwer
Auf seinem Pullover ist schon Erbrochenes Mom's Spaghetti
Er ist nervös aber von außen sieht er ruhig und bereit aus
um die Bomben fallen zu lassen aber er vergisst ständig
was er aufgeschrieben hat
Die Menge wird so laut
Er öffnet seinen Mund aber die Worte kommen nicht raus
Er fängt an zu würgen alle fangen an Witze zu reißen
Die Uhr ist abgelaufen die Zeit ist um PLOW!
Plötzlich ist er zurück in der Realität Oh da wirds ernst
Oh da geht Rabbit und er würgt wieder
Er ist verrückt aber er wird nicht so leicht aufgeben nein!
Er wird es nicht haben er weiß seine ganze Stadt hängt am Seil
Aber das ist egal er hat's drauf
Er weiß das aber er ist gekränkt
Er ist träge und weiß dass wenn er zurück zuhause ist
wird er auch wieder im Labor sein yo
Die ganze Rap-Stadt
Er geht besser und nutzt den Moment und hofft dass er ihm nich wegläuft

Du verlierst dich besser in der Musik in dem Moment
Schnapp ihn dir lass ihn nie wieder los
Du kriegst nur eine Chance und verpass sie nicht
Diese Gelegenheit kommt nur einmal im Leben yo

Die Seele flieht durch das Loch das am gähnen ist
Die Welt ist für mich zum Gewinnen da
Mach mich zum König und wir werden in Richtung der "neuen Welt Ordnung" gehen
Ein normales Leben ist langweilig
aber das Superstardasein ist nah am Nachmittag
Es wird nur härter wird nur heißer
Er stürmt uns und um ihn herum nur diese Schlampen
Von Küste zu Küste Auftritte er ist bekannt als der Weltenbummler
Einsame Straßen die nur Gott kennt
Er entfernt sich weiter von zu Hause er ist kein Vater
Er geht nach Haus und erkennt kaum seine eigene Tochter
Aber er verdient für dich weil bei dir das Geld fließt
Seine Bosse wollen ihn nicht mehr er bringt kein Geld mehr ein
Sie sind schon beim nächsten Idioten der Geld einbringt
Er hat im Bussines reingeschnuppert und keine Platten verkauft
Die Seifenoper hat sich rumgesprochen und durchschaut
Ich schätze es ist ein alter Partner
Aber der Beat geht weiter
Da da dum da dum da da

Du verlierst dich besser in der Musik in dem Moment
Schnapp ihn dir lass ihn nie wieder los
Du kriegst nur eine Chance und verpass sie nicht
Diese Gelegenheit kommt nur einmal im Leben yo

Keine Spielchen mehr ich werde das ändern was du Leidenschaft nennst
Reiße dieses verfickte Dach auf wie zwei im Käfig sitzende Hunde
Am Anfang hab ich mitgespielt die Laune hat aber alles geändert
Ich wurde durchgekaut und ausgespuckt von der Bühne gebuht
Aber ich habe weiter gereimt und Texte geschrieben
Glaub am besten jemand der nen Dudelsackspieler bezahlt
Der ganze Schmerz in mir wurde durch die Fakten das ich mit meinen
9 zu 5 nicht zu ihnen gehören kann und das ich meine Familie nicht gut genung
versorgen kann verstärkt
Denn mit den verdammten Essensmarken kann man keine Windeln kaufen
Und das ist kein Film da gibt es keinen Mekhi Phifer das ist mein Leben
Die Zeiten sind so schwer und es wird immer schwerer
meinen Kern zu füttern und zu bewässern positiv zu sehen
das die Schande es eingeholt hat ein Vater und eine Primadonna zu sein
Baby Mama Drama brüllt herum und das ist zuviel für mich um mit ihr an einem Ort zu
sein
Eine weitere komische Situation oder auch nicht
brachte mich auf den Punkt
Ich bin wie eine Schnecke
Ich muss ein Gerücht formulieren oder im Knast landen oder erschossen werden
Erfolg ist meine einzige verdammte Möglichkeit scheitern darf nicht sein
Mom Ich liebe dich aber der Wohnwagen muss weg
Ich kann nicht auf Salem's Parkplatz alt werden
Also geh ich denn es ist eine Chance
Hoffentlich versagen meine Füsse nicht weil es ist vielleicht die einzige
Gelegenheit die ich bekomme

Du verlierst dich besser in der Musik in dem Moment
Schnapp ihn dir lass ihn nie wieder los
Du kriegst nur eine Chance und verpass sie nicht
Diese Gelegenheit kommt nur einmal im Leben yo

dazu der großartige film:
8 miles mit eminem und kim basinger, als seine versoffene mutter.

8 Mile
hema
hema
Mitglied

Re: zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von hema
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 18.04.2010, 13:15:29

Die Worte des Glaubens

Drei Worte nenn' ich euch, inhaltsschwer,
Sie gehen von Munde zu Munde,
Doch stammen sie nicht von außen her,
Das Herz nur gibt davon Kunde,
Dem Menschen ist aller Wert geraubt,
Wenn er nicht an die drei Worte glaubt.

Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,
Und würd' er in Ketten geboren;
Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei,
Nicht den Missbrauch rasender Thoren.
Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,
Vor dem freien Menschen erzittert nicht.

Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall,
Der Mensch kann sie üben im Leben;
Und sollt' er auch straucheln überall,
Er kann nach dem Göttlichen streben,
Und was kein Verstand der Beständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.

Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt,
Wie auch der menschliche wanke;
Hoch über der Zeit und dem Raume webt
Lebendig der höchste Gedanke;
Und ob alles im ewigen Wechsel kreist,
Es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist.

Die drei Worte behaltet euch, inhaltsschwer,
Sie pflanzet von Munde zu Munde;
Und stammen sie gleich nicht von außen her,
Euer Inneres gibt davon Kunde.
Dem Menschen ist nimmer sein Wert geraubt,
So lang' er noch an die drei Worte glaubt.

Friedrich Schiller ( 1759 bis 1805 )



Milan
Milan
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zeitkritische texte...gestern & heute
geschrieben von Milan
Das Trauerspiel von Afghanistan 1859

Der Schnee leis' stäubend vom Himmel fällt,
Ein Reiter vor Dschellalabad hält,
"Wer da!" - "Ein britischer Reitersmann,
Bringe Botschaft aus Afghanistan."

Afghanistan! Er sprach es so matt;
Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
Sir Robert Sale, der Kommandant,
Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.

Sie führen ins steinerne Wachthaus ihn,
Sie setzen ihn nieder an den Kamin,
Wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,
Er atmet hoch auf und dankt und spricht:

"Wir waren dreizehntausend Mann,
Von Kabul unser Zug begann,
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
Erstarrt, erschlagen, verraten sind.

Zersprengt ist unser ganzes Heer,
Was lebt, irrt draußen in Nacht umher,
Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,
Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt."

Sir Robert stieg auf den Festungswall,
Offiziere, Soldaten folgten ihm all',
Sir Robert sprach: "Der Schnee fällt dicht,
Die uns suchen, sie können uns finden nicht.

Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,
So laßt sie's hören, daß wir da,
Stimmt an ein Lied von Heimat und Haus,
Trompeter blast in die Nacht hinaus!"

Da huben sie an und sie wurden's nicht müd',
Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied,
Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,
Dann Hochlandslieder wie Klagegesang.

Sie bliesen die Nacht und über den Tag,
Laut, wie nur die Liebe rufen mag,
Sie bliesen - es kam die zweite Nacht,
Umsonst, daß ihr ruft, umsonst, daß ihr wacht.

"Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan."
Theodor Fontane, (1819 - 1898)

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